In den letzten Jahren ist vermehrt von Mental Care (Deutsch in etwa "psychische Gesundheitsfürsorge") die Rede. Psychische Gesundheit ist existenziell wichtig, aber auch verletzlich, das ist unbestritten. In jüngster Vergangenheit häuften sich beispielsweise im Spitzensport die Berichte über psychische Probleme von Athletinnen und Athleten. Psychische Gesundheit betrifft uns aber alle.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert mentale beziehungsweise psychische Gesundheit als einen "Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen" (WHO 2001, zitiert vom BFS, Abrufdatum: 11.8.2025). Das ist ziemlich ganzheitlich.
Auch aus christlicher Perspektive lässt sich einiges zu einer ganzheitlichen Mental Care lernen. Ein bekannter Vers aus dem biblischen Buch der Sprüche soll das beispielhaft veranschaulichen: "Mehr als auf alles gib acht auf dein Herz, denn aus ihm strömt das Leben"(Spr 4,23, Zürcher Bibel, 2007). Oft wird dieser Text dafür gebraucht, um auf die Wichtigkeit der Gedanken hinzuweisen.
Im hebräischen Grundtext steht das Wort für "Herz", also nicht explizit "Gedanken". Herz meint die "Zentrale", die das Denken, Wollen, Fühlen und schliesslich das Handeln beeinflusst. Auch Jesus sprach über den Einfluss des Herzens auf das Äussere, zum Beispiel: "Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor, der böse bringt aus dem bösen das Böse hervor. Spricht doch der Mund nur aus, wovon das Herz überquillt" (Lk 6,45, Zürcher Bibel, 2007). Jesus unterschied dabei das innere des Menschen von dessen Denken: "Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken …" (Mt 15,19, Zürcher Bibel, 2007).
Den Bibeltext kann man in etwa so zusammenfassen: Geh achtsam mit deinem Innersten um. Das heisst, gib acht auf deine Gefühle, deinen Willen, deine Gedanken - all das, was dich als Persönlichkeit ausmacht und prägt, denn es beeinflusst stark, wie du lebst, was du letztlich tun oder lassen wirst.
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Sicher braucht es dafür, dass man bewusst hinschaut und in sich hineinhört. Es ist die Bereitschaft nötig, zu reflektieren, was in seinem Innern abgeht. Danach fragt man Gott, sich selbst und allenfalls andere, was man daraus lernen sollte, damit das eigene Leben (besser) gelingt. So lässt sich die "Technik der biblischen Mental Care" zusammenfassen, einfach aber ganzheitlich wirksam.
Die Sprüche würden vor allem sagen: Auf sein Herz, auf sein Inneres zu achten, braucht Weisheit. Weise ist im biblischen Jargon allerdings jemand, der tut, was er oder sie weiss beziehungsweise glaubt. Die christliche Tradition würde darum sagen: Ich brauche Gottes Hilfe, um wirklich weise zu sein beziehungsweise zu leben.
Wir lernen also, bei biblischer Mental Care geht es um mehr als nur ein bisschen mehr oder besser zu denken. Und da sind alle angesprochen, diejenigen, die übers Denken funktionieren, übers Gefühl, den Willen, alle eben!
Seelsorge und Psychotherapie: Zwei unterschiedliche Ansätze
Ist Seelsorge das gleiche wie Psychotherapie, nur christlich? - Nein, die Wurzeln sind anders: Seelsorge entstand nicht als humanistische Wissenschaft, sondern als Teil von Kirche. “Kirche” heisst, zusammen und mit Gott im Leben unterwegs zu sein, und da tauchen manchmal Fragen und Krisen auf. In den ersten Jahrhunderten wandten sich Menschen damit zum Beispiel an “Wüstenmönche”, die sich zurückgezogen hatten, um Gott näher zu sein, und als besonders weise galten.
Heute sind Seelsorger:innen keine Einsiedler mehr. Seelsorge wurde professionalisiert, dabei ist die moderne Psychotherapie eine wichtige Bezugswissenschaft. Auch islamische Seelsorge ist als eigene Disziplin entstanden. Christliche Seelsorger:innen sind nicht nur in der Kirche, sondern von dieser aus auch in der Gesellschaft präsent: In Krankenhäusern, Gefängnissen, Asylzentren, bei Feuerwehr und Polizei, am Flughafen und am Bahnhof.
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Auch wenn der religiöse Bezug nicht immer explizit thematisiert wird, bildet er das Grundverständnis der seelsorgerischen Arbeit. Das Leben wird aus der Perspektive betrachtet, dass es Gott gibt, und jeder Mensch von Gott geliebt ist. Man versucht, zusammen mit dem Gegenüber herauszufinden, wo eigene Ressourcen vorhanden sind, um Herausforderungen zu begegnen. Systemisch (also im eigenen Umfeld), eigene Stärken, aber auch die Spiritualität.
Das Interesse der ratsuchenden Person steht immer im Zentrum, es gilt die Schweigepflicht und Seelsorger:innen haben eine entsprechende Ausbildung. Seelsorger:innen stellen in Absprache mit der Person auch Kontakt zu Fachpersonen anderer Richtungen her (Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Ärzt:innen etc.). Als Teil von Kirche soll Seelsorge möglichst niederschwellig zugänglich und kostenlos sein. Wenn du also mal ein offenes Ohr brauchst, kannst du dich bei einer Pfarrperson melden. Dazu musst du nicht zwingend Kirchenmitglied sein.
Die Bedeutung des Angenommenseins
Die Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten - und damit das Angenommenwerden - ist das wichtigste Element in der Behandlung vieler psychischen Störungen. Seelsorger und Psychiater stimmen in vielem überein. Zum Beispiel wie wichtig es ist, im Verständnis des anderen aufgehoben zu sein. Der Seelsorger hat aber einen anderen Zugang als der Psychiater. In der Psychiatrie fehlt das Mehr, die vertikale Perspektive, die auf Gott zielt. In der Psychiatrie kann man nicht mit Gott operieren.
Der Einfluss von Glaube und Spiritualität auf die Gesundheit
In den letzten dreissig Jahren untersuchte man in zahlreichen wissenschaftlichen Studien den Einfluss von Glaube auf Krankheit und Gesundheit. So finden inzwischen an zahlreichen medizinischen Fakultäten in den USA Vorlesungen zu diesem Thema statt und auch in Deutschland äussern sich etliche Mediziner. Die Kirchen haben auf grossen Kongressen den christlichen Heilungsauftrag neu thematisiert.
Die meisten Studien zum Gesundheitsfaktor Glaube wurden im christlichen Kontext in den USA durchgeführt. Professor Dale Matthews von der Georgetown University und Mitglied des Nationalen Institutes für medizinische Forschung ist auf dem Gebiet einer der führenden Wissenschaftler.
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Zwei Studien von Matthews seien als Beispiel erwähnt: Eine 1997 veröffentlichte Studie zeigte über einen Zeitraum von 28 Jahren an 6928 Personen eine um 36 Prozent niedrigere Sterberate bei den Menschen, die mindestens einmal wöchentlich an Gottesdiensten teilnahmen. Ein weiteres Beispiel: 1995 wurden 232 ältere Patienten untersucht, die offen am Herzen operiert wurden. Die durchschnittliche Sterberate im ersten halben Jahr betrug 9 Prozent. Bei denen, die regelmässig in die Kirche gingen, lag sie aber fast dreimal niedriger als bei Nicht-Kirchgängern.
Umgekehrt wissen wir um „Gesundheitsfaktoren“, die Erkrankungen vorbeugen und Gesundheit erhalten können, wie zum Beispiel regelmässige Bewegung, ausgewogene Ernährung, ausgeglichener Lebensstil - und eben auch ein aktives Glaubensleben. Demnach haben Menschen mit einer persönlichen und positiven Gottesbeziehung, eine rund zwölf Jahre längere Lebenserwartung als Menschen ohne persönliche Gottesbeziehung.
Religiöse Menschen haben statistisch gesehen etwas weniger Depressionen als nicht-religiöse. Aber dabei gilt es auch soziale Einflüsse zu berücksichtigen: Wer sozial besser eingebunden ist, erkrankt seltener an Depressionen. Es gibt auch einen intrinsischen Faktor. Wer Vertrauen in Gott hat und religiöses Traditionsgut kennt, ist besser geschützt vor leichten bis mittelschweren Depressionen.
Es hängt zum einen von der Gottesvorstellung ab. Ein strafender Gott kann eine depressive Belastung noch verstärken und mehr Angst machen. Zum anderen kann eine bestimmte religiöse Einstellung auch belasten. Zum Beispiel wenn jemand denkt, ein Christenmensch müsse immer fröhlich und guten Mutes sein.
Aus biblischer Sicht geht es um weit mehr, als dass Leben verlängert wird oder Krankheitssymptome sich bessern - so wichtig dies auch ist. Es geht um die Versöhnung und das Heil des Menschen in all seinen Beziehungsebenen: zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu der Umwelt.
Eine christliche Gesundheitsperspektive hat daher das Ziel von Lebensentfaltung, wie Jesus Christus es ausgedrückt hat: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Die Bibel, Johannes, Kapitel 10, Vers 10). Der Schlüssel hierzu ist die Erlösung des Menschen aus der Gottesferne durch die Versöhnungstat Jesu auf Golgatha: Der Zugang zu Gott als unserem himmlischen Vater ist frei. Keine andere Religion oder Spiritualität kann diese Heilungserfahrung ermöglichen: In den Vaterarmen Gottes beginnt der zerbrochene Mensch an Körper, Seele und Geist zu heilen.
Die Rolle der Kirche im Gesundheitswesen
Die Klöster wurden längst von den Spitälern abgelöst. Die Schulmedizin hat sich von der Religion emanzipiert. Und dennoch hält sich Spiritualität hartnäckig und ist nicht aus dem Gesundheitsbereich wegzudenken. Die Kirche ist dabei jedoch nur noch eine Akteurin unter vielen und hat ihre Deutungshoheit verloren. Die Kirche könnte neue Modelle sozialdiakonischen Handelns denken und zumindest einige umsetzen. Etwa durch einen Ausbau ganzheitlicher Beratungs- und Unterstützungsangebote wie die Triangel Beratung der Zuger Kantonalkirche, die Streetchurch der reformierten Kirche in Zürich oder die Stärkung zahlreicher lokaler Initiativen.
Daher finden Menschen mit Krankheiten oft keinen Platz in der Kirche. Sie sind vielleicht nicht mobil und sind so von vielen Gemeindeaktivitäten ausgeschlossen. Oder sie sind psychisch krank und ziehen sich aus Überforderung und Scham zurück. Auch hier sind neue Modelle gefragt, wie trotzdem tragende Gemeinschaft entstehen kann und wir als Kirche diese Menschen begleiten können. Ein erster Schritt wäre eine kritische Betrachtung der eigenen Kenntnisse und der kirchlichen Angebote; ein zweiter Schritt der Aufbau von geeigneten Strukturen und Ressourcen.
Und zuletzt soll nicht verschwiegen werden, dass Kirche und Glaube ja auch Ursache psychischer Erkrankungen sein können. Überforderung und Überlastung machen auch vor Freiwilligen und Angestellten der Kirche nicht halt. Gerade in Zeiten vieler unbesetzter Stellen und einer sinkenden Anzahl von Freiwilligen wird die Belastung für die einzelnen Menschen höher - leider oft zu hoch.
Wie können wir als einzelne Menschen mit diesen Herausforderungen umgehen? Gesundheit beginnt wohl zuerst beim eigenen Selbst. Wie gehe ich mit meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele um? Nehme ich mir die Zeit, in mich hineinzuhören und zu erforschen, wie es mir denn eigentlich geht? Erst nach dem Blick nach innen kann der Blick nach aussen erfolgen. Wie geht es den Menschen in meinem Umfeld? Wer braucht meine Unterstützung? Wer wünscht sich ein Gespräch? Hier braucht es offene Augen, ein waches Herz und zupackende Hände.
Vier Herausforderungen an die Seelsorge
1. Gott nimmt das Fühlen, Begehren und Leiden des Menschen ernst. Er trägt das Leiden seines Volkes auf seinem Herzen. Jesus weinte über die Not der Menschen, „denn sie waren verschmachtet, wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (Matthäus 9,36).
2. Seelsorge ist kommunikationsfähig in der psychologischen Kultur des 21. Jahrhunderts und kann in der Sprache der umgebenden Kultur kommunizieren. Sie ist am Puls der Menschen und greift aktuelle Themen auf.
3. Seelsorglich Tätige kennen ihre Grenzen und arbeiten mit Fachpersonen und Fachinstitutionen zusammen. Sie kennen die ethischen Richtlinien der Beratung und achten das Beichtgeheimnis. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und bedrängen Ratsuchende nicht mit einseitigen spirituellen Deutungen.
4. Gläubige Menschen leben letztlich in einem Paradox: Sie leben und wirken in der Welt, und doch sind sie nicht von der Welt. Spiritualität lässt sich nicht intellektuell fassen, sie enthält immer ein Element der Sehnsucht nach Gott, die in dieser Welt nie ganz gestillt werden kann.
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