Wie Angehörige mit Depressionen umgehen: Einblicke und Ratschläge

In der Schweiz kennen 90 Prozent der Erwachsenen mindestens eine Person, die wegen Depression oder Schizophrenie professionelle Hilfe brauchte. Psychische Erkrankungen prägen unseren Alltag, wie die erste repräsentative Umfrage zu diesem Thema zeigt. Aktuell kümmern sich in der Schweiz 2,1 Millionen Angehörige oder Freundinnen und Freunde um Menschen mit einer akuten psychischen Erkrankung.

Die über siebzig Einsendungen zeigen, dass die Angehörigen viel Kraft und Verständnis aufbringen, sich aber auch selber schützen und abgrenzen müssen. Wie können wir am besten helfen? Und wie funktioniert der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen privat oder am Arbeitsplatz am einfachsten? Betroffene erzählen und eine Expertin gibt Tipps für den Umgang privat und im Job.

Umgang mit akuten Situationen

So wie Alexandra Mycka mit ihrem Partner ein Gespräch beginnt, wenn er nervös wird und Stimmen hört, ist es wichtig, in solchen Situationen Ruhe zu bewahren und der betroffenen Person Sicherheit zu vermitteln. Dies sagt Expertin Nadia Pernollet von der Beratungsstelle und Stiftung Pro Mente Sana. «Begeben Sie sich an einen reizarmen Ort und fragen Sie die betroffene Person, was ihr in diesem Moment guttun würde.»

Die Rolle der Familie und Freunde

«Familie und Freunde werden von Ärztinnen und Ärzten noch viel zu wenig einbezogen und unterstützt», sagt Christian Pfister. Er ist Co-Präsident des Vereins Stand by You Schweiz. Er berät Angehörige und Vertraute von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Verein hat auch die Umfrage in Auftrag gegeben.

Laut Expertin Pernollet ist wissenschaftlich gut erforscht, dass soziale Unterstützung durch nahestehende Personen einen wesentlichen Beitrag zu psychischer und körperlicher Gesundheit leistet. «Krisen sind einfacher zu bewältigen, wenn man mit vertrauten Personen darüber reden kann.»

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Abgrenzung und Selbstfürsorge

Mycka musste jedoch nicht nur lernen, ihren Partner zu unterstützten, sondern auch sich von ihm abzugrenzen. Abgrenzung und Selbstfürsorge sind für betreuende Angehörige sehr wichtig, wie Expertin Pernollet sagt. «Scheuen Sie sich deshalb nicht, Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren», rät sie.

Inzwischen ist sie sich bewusst, dass sie auch eigene Bedürfnisse hat, sie geht daher ins Sporttraining oder allein in den Ausgang mit Freundinnen. «Bei Kranken fällt das noch schwerer als bei anderen Beziehungen, denn ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn allein lasse», erzählt sie.

Gesellschaftlicher Leistungsdruck

Das dritte Grundproblem lässt sich nicht so leicht lösen: Es ist der gesellschaftliche Leistungsdruck. Den bekommt Mycka von ihrer Familie zu spüren. «Meine Mutter fragt öfter, ob ich mir gut überlegt habe, mit einem psychisch kranken Mann zusammen zu sein, der nicht für mich sorgen kann.» Ihr Partner arbeitet nur halbtags - und auch er selbst habe ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen, dass er ihr finanziell nicht mehr bieten könne. «Ich kann da nichts machen, nur ihm und meiner Familie zeigen, dass ich zu ihm stehe», sagt Mycka.

Bei Kelly Spring war auch der Leistungsdruck einer der Auslöser ihrer Erkrankung: Sie hatte von ihrer Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter eine psychisch erkrankte Mutter und leidet selbst an wiederkehrenden Depressionen. Spring war frisch umgezogen, hatte eine neue Arbeitsstelle, keine Partnerschaft, keine Routinen. Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit stellten sich ein und eine immer stärker werdende innere Stimme, die ihr jegliche Konzentration nahm: «Ich muss etwas leisten, ich muss im Job liefern, ich muss Miete und Möbel bezahlen.»

Offene Kommunikation am Arbeitsplatz

Als sie das dritte Mal wegen einer akuten Depression in die Klinik ging, informierte Kelly Spring vorher ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen persönlich. «Für mich war das kein Einbruch mehr, ich konnte normal darüber sprechen», sagt sie. Sie habe inzwischen gelernt, dass sie nicht nur dann etwas wert sei, wenn sie etwas leiste, sondern auch dann, wenn sie einfach Kelly als Mensch sei, wie sie sagt.

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Expertin Pernollet betont: «Vorgesetzten muss bewusst sein, dass Betroffene nicht nur Angst vor Stigmatisierung, sondern auch vor einem Jobverlust haben.» Eine offene und respektvolle Kommunikation sei daher sehr wichtig. «Halten Sie auch bei längeren krankheitsbedingten Abwesenheiten den Kontakt», rät Pernollet.

Warnsignale und erste Schritte

Depressionen machen sich durch charakteristische Symptome bemerkbar: Typisch sind ein Verlust von Antrieb, Selbstvertrauen, Interesse und Freude. Die Betroffenen werden wortkarg, zeigen wenig Mimik und meiden Kontakte. Denk- und Konzentrationsvermögen können stark abnehmen, was bei der Arbeit zu Problemen führt. Hinzu kommen oft auch Störungen des Appetits und Schlafs. Alarmierend sind in jedem Fall Suizidgedanken und -pläne, sie weisen auf eine akute Behandlungsbedürftigkeit hin.

Es ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen wichtig, aus einer Erfahrung zu lernen, Zeichen frühzeitig zu erkennen und gemeinsam zu handeln.

Empfehlungen für Angehörige im Umgang mit Depressiven:

  • Akzeptanz und Unterstützung wertfrei anbieten.
  • Sich selbst gut über Depressionen informieren.
  • Die eigenen Grenzen spüren und anerkennen.
  • Eigene Freundschaften und soziale Kontakte pflegen.
  • Kontakte zu Fachleuten herstellen und unterstützen.
  • Behandlungen konstruktiv unterstützen.

Professionelle Hilfe und Unterstützung

Psychische Erkrankungen sind bis heute stark stigmatisiert, sodass die Betroffenen doppelt leiden - unter der Erkrankung selbst und unter der Angst, dafür entwertet zu werden. Die Angst vor Stigmatisierung kann dem Zögern zugrunde liegen. Hausärzte sind eine ganz wichtige Anlaufstelle. Sehr zu empfehlen ist auch der Selbsthilfe-Verein Equilibrium.

Grundsätzlich kann jeder Mensch eine Behandlung ablehnen. Wenn es im Rahmen der Depression zu einer schweren Selbstgefährdung, zum Beispiel durch eine akute Suizidgefahr, kommt, sieht das neue Erwachsenenschutzrecht die Möglichkeit der fürsorgerischen Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik, auch gegen den Willen der betroffenen Person, vor. Dieses Mittel darf aber nur als Ultima Ratio eingesetzt werden, da es sehr einschneidend ist.

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Pro Mente Sana bietet (auch arbeitsrechtliche) Beratung für psychisch kranke Menschen und deren Angehörige an. Zudem bietet Pro Mente Sana ensa Erste-Hilfe-Kurse an. Die Kurse zielen auf die Vermittlung von Erste-Hilfe-Massnahmen bei akuten psychischen Krisen und sich entwickelnden psychischen Problemen.

Die Dargebotene Hand ist unter Telefon 143 rund um die Uhr da für Menschen, die ein helfendes und unterstützendes Gespräch benötigen. Tel 143 bietet allen Anrufenden völlige Anonymität.

In Notfällen, etwa bei Suizidgefahr oder anderer Gefahr von Selbst- oder Fremdgefährdung, kann die Rettungsnummer 144 angerufen werden.

Strategien im Umgang mit Depressionen

Welche Strategien es im Umgang mit Depressionen noch gibt, erklärt René Bridler, klinischer Leiter des Sanatoriums Kilchberg.

Weitere hilfreiche Tipps:

  • Sprechen Sie über Ihre eigenen Gefühle und Eindrücke.
  • Sagen Sie, wenn Sie etwas tun können.
  • Hören Sie gut zu.
  • Nehmen Sie Ihre Gefühle ernst.

Die Bedeutung von Selbsthilfegruppen

Was ich in meiner Not vor allem gesucht habe, waren Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, mit denen ich mich austauschen kann. Diese fand ich in den Selbsthilfegruppen: zuerst bei den Narcotics Anonymous Switzerland und später während Jahren bei den Anonymen Alkoholikern.

Fragebogen für Angehörige

Vielleicht vermuten Sie, dass eine nahe Person in einer psychischen Krise steckt oder psychisch krank wird. Sie sind sich jedoch nicht sicher. Unser Fragebogen für Angehörige kann Ihnen wichtige Hinweise liefern. Lesen Sie ihn in Ruhe durch und beantworten Sie die Fragen. Haben Sie mehrere Fragen mit «Ja» beantwortet? Dann kann das ein Warnsignal sein.

Fragen:

  • Hat die Person in letzter Zeit oft heftige Gefühle?
  • Schläft die Person schlecht und wenig?
  • Wie ist es in der Schule, im Studium, in der Ausbildung oder im Beruf: Hat die Person weniger Lust zum Arbeiten oder Lernen?
  • Trifft die Person kaum noch Freunde oder Familie?
  • Bezieht die Person alles auf sich?
  • Fühlt sich die Person oft angegriffen?
  • Redet die Person schlecht über sich selbst?

Achten Sie auf Warnsignale. Gehen Sie nicht einfach darüber hinweg. Reden Sie darüber. Und hören Sie offen zu. Erzählen Sie ihr, was Ihnen aufgefallen ist. Sagen Sie ihr, weshalb Sie besorgt sind. Hören Sie ihr offen und aufmerksam zu. Versuchen Sie nachzuempfinden, was die andere Person fühlt. Sie müssen für sie keine Lösungen finden. Es reicht, wenn sie Anteil nehmen.

Unterstützungsangebote für Angehörige

Für Angehörige und Nahestehende gibt es vielfältige Unterstützungsangebote: Hilfe zur Selbsthilfe bieten die Vereinigung von Angehörigen psychisch Kranker Bern (VASK) und Stand by You Schweiz. Fachliche Unterstützung erhalten Sie auf den Angehörigenberatungsstellen psychiatrischer Kliniken.

Weitere Informationen und Ressourcen

Der Wegweiser psy.ch richtet sich an Betroffene, Angehörige sowie an Fachpersonen. Das Portal bietet Orientierung zu psychischer Gesundheit und psychischen Erkrankungen.

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