Paranoider Text: Eine Definition

Im Jahr 2003 veröffentlichte Eve Kosofsky Sedgwick das Essay «Paranoid Reading and Reparative Reading. Or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You» als Teil der Anthologie Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Darin fragt Sedgwick, warum die westliche Kritik vor allem mit paranoiden Lesarten operiert, Lesarten, die darauf abzielen, verborgene Gewaltstrukturen aufzudecken.

Sie schlägt einen «reparativen» Ansatz vor, der sich nicht nur darauf konzentriert, was geschrieben, gesagt oder getan wird, sondern auch darauf, wie es getan wird und zu welchem Zweck. Das Essay wird zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht.

Irgendwann in der ersten Dekade der Aids-Epidemie habe ich Cindy Patton, Aktivistin und Freundin von mir, über die natürliche Geschichte von HIV ausgefragt. Nachdem ich eine Menge über die geographischen und ökonomischen Aspekte des globalen Handels von Blutkonserven von ihr erfahren hatte, fragte ich sie endlich, nicht ohne einen gewissen Eifer, was sie von diesen dunklen Gerüchten über die Herkunft des Virus hielt.

«Jeder einzelne Schritt der Verbreitung könnte entweder versehentlich oder absichtlichen passiert sein», sagte sie, «aber ich habe Schwierigkeiten, mich dafür zu interessieren. Ich meine, selbst wenn wir jedes Element einer Verschwörung nachweisen könnten - dass die Leben von Afrikaner*innen und Afro-Amerikaner*innen in den Augen der Vereinigten Staaten nichts wert sind; dass schwule Männer und Drogenkonsument*innen auf billige Weise dort gehalten werden, wo niemand sie aktiv hasst; dass das Militär vorsätzlich Möglichkeiten erforscht, Nichtkämpfer*innen zu töten, welche es als Feind sieht; dass die Leute an der Macht der Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen und Bevölkerungswandel ruhig ins Auge sehen.

Nehmen wir mal an, wir wären uns all dieser Dinge totsicher - was wüssten wir dann, was wir nicht sowieso schon wissen?» In den Jahren seit unserer Unterhaltung habe ich viel über die Antwort von Patton nachgedacht. Das was mich, abgesehen von einem gewissen kongenialen, steinerden Pessimismus, am stärksten nachhaltig beeindruckt hat, war das Suggerieren der Möglichkeit, einige der verschiedenen Elemente des intellektuellen Ballasts, den viele von uns unter dem Etikett «Hermeneutik des Verdachts» mit uns herumtragen, freizulegen und aus ihrer ausgeprägten und überdeterminierten historischen Beziehung zueinander zu lösen.

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Pattons Bemerkung legt nahe, dass jemand mit einer entmystifizierten, wütenden Sicht auf die flächendeckende und von Grund auf systemische Unterdrückung nicht zwangsläufig oder notwendigerweise auf einen bestimmten Zug erkenntnistheoretischer oder narrativer Konsequenzen aufspringen muss.

Zu wissen, dass HIV realistischerweise aus einer staatlich geförderten Verschwörung heraus entstanden und verbreitet sein könnte - dieses Wissen kann, wie sich herausstellt, von der Frage getrennt werden, ob die Energien und Ressourcen einer*s bestimmten Aids-Intellektuellen oder -Gruppe tatsächlich am besten dafür verwendet werden, einen solchen möglichen Plot aufzudecken und zu verfolgen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Obwohl ethisch sehr geladen, ist die Entscheidung nicht selbstverständlich; ob man dieses sehr verlockende Projekt der Verfolgung und Aufklärung durchführen sollte oder nicht, stellt eine strategische und lokale Entscheidung dar und nicht unbedingt einen kategorischen Imperativ.

Pattons Antwort schien für mich einen Raum zu öffnen, durch den wir uns von der ziemlich festgefahrenen Frage ‹Ist ein bestimmter Teil von Wissen wahr und wie können wir das feststellen?› wegbewegen können, um uns anderen Fragen zu widmen: Was kann Wissen bewirken - das Streben danach, das Besitzen und das Sichtbarmachen davon und das Wiederlangen von Wissen über das, was man schon weiss?

Kurz: Inwiefern ist Wissen performativ und wie bewegt man sich am besten zwischen seinen Ursachen und Wirkungen? Ich nehme an, dass dies eine recht unspektakuläre Epiphanie zu sein scheint: Festzustellen, dass Wissen eher macht als einfach ist, ist inzwischen Routine.

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Es scheint jedoch, dass viel von der wirklichen Stärke solcher Entdeckungen durch die gewohnheitsmässigen Praktiken genau jener Methoden kritischer Theorie, die diesen Formeln so weit verbreitet haben, abgestumpft wurde. Insbesondere ist es möglich, dass die sehr produktiven kritischen Gewohnheiten, verkörpert in dem, was Paul Ricoeur denkwürdigerweise die «Hermeneutik des Verdachts» nannte - weit verbreitete kritische Gewohnheiten, die inzwischen beinahe zum Synonym mit der Kritik selbst geworden sind - eine unbeabsichtigt lähmende Nebenwirkung hatten: Eventuell haben sie die Entschlüsselung der lokalen, zufälligen Beziehungen zwischen einem bestimmten Wissen und seinen narrativen/epistemologischen Konsequenzen für den Suchenden, Wissenden oder Erzählenden eher erschwert als erleichtert.

Ricoeur führte die Kategorie der «Hermeneutik des Verdachts» ein, um die Position von Marx, Nietzsche, Freud und ihren intellektuellen Nachkommen in einem Kontext zu beschreiben, der auch alternative Disziplinen der Hermeneutik, wie zum Beispiel die philologisch-theologische «Hermeneutik der Wiederherstellung von Bedeutung» einschliesst.

Seine Absicht, die erste der beiden Begriffe zur Verfügung zu stellen, war eher deskriptiver und taxonomischer als imperativer Natur. Im Zusammenhang mit der neueren kritischen Theorie in den USA, in der Marx, Nietzsche und Freud für sich genommen als durchaus hinreichende Genealogie für den Mainstream der neohistoristischen, dekonstruktiven, feministischen, queeren und psychoanalytischen Kritik angesehen werden, wird die Anwendung einer Hermeneutik des Verdachts meiner Meinung nach jedoch weithin als eine zwingende Verfügung und nicht als eine Möglichkeit unter anderen verstanden.

Die Bezeichnung hat genau wie das «Immer historisieren» von Fredric Jamesons so etwas wie einen heiligen Status bekommen - und merkwürdigerweise passen beide gut zusammen. Immer historisieren? Was könnte weniger mit Historisieren zu tun haben als das gebieterische, atemporale Adverb «immer»?

Es erinnert mich an die Autoaufkleber, die Leute in anderen Autos dazu auffordern, «Autorität [zu] hinterfragen». Ein ausgezeichneter Ratschlag, aber vielleicht etwas verschwendet an diejenigen, die genau das tun, was man ihnen durch einen im Auto befestigten Papierstreifen befiehlt!

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Das imperative Framing macht mit einer Hermeneutik des Verdachts die komischsten Dinge. Es überrascht nicht, dass die methodologische Schlüsselrolle des Verdachts in der gegenwärtigen kritischen Praxis mit einer begleitenden Privilegierung des Begriffs der Paranoia einherging.

In den letzten Absätzen von Freuds Aufsatz über den paranoiden Dr. Schreber diskutiert er eine «auffällige Ähnlichkeit» zwischen Schrebers systematischem Verfolgungswahn und Freuds eigenen Theorie. In der Tat verallgemeinerte Freud später bekanntlich, dass «die Wahnvorstellungen von Paranoikern eine unschätzbare äussere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systematiken unserer Philosophen haben», zu denen er sich selbst zählte.

Bei aller Raffinesse mag es durchaus gestimmt haben, dass die vermeintliche Kongruenz zwischen Paranoia und Theorie Freud nicht gefallen hat; aber selbst wenn - sie scheint ihren unangenehmen Beigeschmack inzwischen verloren zu haben.

Die Artikulation einer solchen Kongruenz war wahrscheinlich ohnehin unvermeidlich; Ricoeur bemerkt: «Für Marx, Nietzsche und Freud ist die grundlegende Kategorie des Bewusstseins die Beziehung von verstecken-zeigen oder, wenn Sie so wollen, simulieren-manifestieren.

Das kennzeichnende Merkmal von Marx, Freud und Nietzsche ist also eine generelle Hypothese, die sowohl den Prozess des falschen Bewusstseins als auch die Methode der Entzifferung betrifft. Beides gehört zusammen, da der Mann des Verdachts umgekehrt das Werk der Falsifizierung des Mannes der Täuschung ausführt».

Der Mann des Verdachts blufft den Mann der Täuschung doppelt: Offenbar ist Paranoia für die Denker*innen nach Freud inzwischen weniger eine Diagnose als ein Rezept geworden.

In einer Welt, in der man nicht verblendet sein muss, um Beweise für systemische Unterdrückung zu finden, scheint es mittlerweile naiv, unaufrichtig oder gefügig zu sein, aus etwas anderem als einer paranoiden kritischen Haltung heraus zu theoretisieren. Ich selbst habe keinerlei Bedürfnis, auf den Gebrauch von «paranoid» als pathologisierende Diagnose einzugehen.

Aber es scheint mir ein grosser Verlust, wenn die paranoide Forschung völlig mit der kritischen theoretischen Forschung gleichgesetzt wird, anstatt als eine Art von kognitiver/affektiver theoretischer Praxis unter anderen Praktiken. Insbesondere die Queer Studies haben eine sehr intime Historie mit dem paranoiden Imperativ, ganz abgesehen von dem Prestige, das der Hermeneutik des Verdachts heute gesamtheitlich anhaftet.

Freud führte natürlich jeden Fall von Paranoia auf die Unterdrückung von spezifisch gleichgeschlechtlichem Begehren zurück, sei es bei Frauen oder bei Männern. Und im Allgemeinen wurde von dieser Freud’schen Assoziation in der Psychoanalyse traditioneller, homophober Gebrauch gemacht, indem Homosexuelle als paranoid pathologisiert wurden oder Paranoia als eine charakteristisch homosexuelle Krankheit betrachtet wurde.

In seinem Buch Le Desire Homosexuel, das 1972 veröffentlicht und 1978 ins Englische übersetzt wurde, knüpfte Guy Hocquenghem jedoch noch einmal an Freuds Formulierungen an.

Er zog daraus eine Schlussfolgerung, welche die schädlichen Ungereimtheiten nicht reproduzieren würde. Wenn Paranoia die Unterdrückung gleichgeschlechtlichen Begehrens widerspiegelt, so argumentiert Hocquenghem, dann ist Paranoia ein einzigartig privilegierter Ort, um nicht wie in der Freud’schen Tradition die Homosexualität selbst zu beleuchten, sondern vielmehr die Mechanismen der homophoben und heterosexistischen Durchsetzung gegen sie.

Was durch ein Verständnis von Paranoia veranschaulicht wird, ist nicht das Wesen von Homosexualität, sondern das von Homophobie und Heterosexismus - kurz: Wenn man diese Unterdrückungen als systemisch versteht, versteht man, wie die Welt funktioniert.

Und so wurde Paranoia Mitte der 1980er Jahre zum beliebtesten Objekt antihomophober Theorie. Wie konnte sich Paranoia von ihrem Status so schnell zu einer ausdrücklich legitimierten Methode entwickeln? Ich habe mir mein eigenes Material der 1980er Jahre und das einiger anderer Kritiker noch einmal angeschaut und habe versucht, diesen Übergang nachzuvollziehen - einen Übergang, der heute bemerkenswert erscheint, damals aber, so scheint es mir, die natürlichste Entwicklung der Welt war.

Ein Teil der Erklärung liegt in einer Eigenschaft der Paranoia selbst. Mit anderen Worten: Paranoia neigt zur Ansteckung. Genauer gesagt, Paranoia wird von gespiegelten Verhältnissen angezogen und tendiert dazu, diese zu konstruieren - insbesondere symmetrische Epistemologie.

Leo Bersani schreibt: «Interesse zu wecken, bedeutet, eine paranoide Lesart zu garantieren, und so müssen wir zwangsläufig misstrauisch gegenüber den Interpretationen sein, die wir anregen. Paranoia ist eine unausweichliche interpretatorische Verdoppelung der Präsenz».

Sie setzt einen Dieb darauf an (und wird, wenn nötig, selbst zu einem), einen Dieb zu fangen; sie mobilisiert List gegen Verdacht, Verdacht gegen List; «es braucht einen, um einen zu erkennen.» Eine paranoide Freundin von mir, die glaubt, dass ich ihre Gedanken lese, weiss das, weil sie meine liest.

Sie - ebenfalls eine paranoide Schriftstellerin - taucht immer wieder an Tatorten des Plagiats auf, als Täter*innen oder Opfer gleichermassen; eine ebenso streitbare Kollegin, stellt sich mich nicht nur als genauso vertraut mit den Gesetzen der Verleumdung vor wie sie, sondern lässt mich schliesslich auch so werden. (Alle diese Beispiele sind übrigens fiktiv).

Wenn man bedenkt, dass Paranoia in einem besonders engen Zusammenhang mit der phobischen Dynamik rund um die Homosexualität zu stehen scheint, mag es strukturell unvermeidlich gewesen sein, dass die Auslegungspraktiken, die in antihomophoben Arbeiten am zugänglichsten und fruchtbarsten wurden, oft wiederum paranoid waren.

Es muss neben den strukturellen jedoch auch historische Gründe für diese Entwicklung gegeben haben, denn die häufige Begünstigung paranoider Methodologie in neueren nicht-queer-kritischen Projekten, wie die der feministischen, psychoanalytischen und konstruktivistischen Theorie, der marxistischen Kritik oder des Neuen Historismus, ist strukturell weniger leicht zu erklären.

Eine kürzlich veröffentlichte Diskussion über Paranoia beruft sich auf «eine populäre Maxime der späten 1960er Jahre: ‹Nur weil man paranoid ist, heisst das nicht, dass sie es nicht auf einen abgesehen haben›».

In der Tat scheint es durchaus plausibel, dass eine Version dieses Axioms (so etwas wie Henry Kissingers: «Selbst ein Paranoiker kann Feinde haben») so unauslöschlich in die Gehirne der Babyboomer eingeschrieben ist, dass es uns die fortwährende Illusion bietet, einen besonderen Einblick in die Epistemologie des Feindbildes zu haben.

Auch hier habe ich den Eindruck, dass wir diese konstitutive Formulierung so nachdrücklich vertreten, als hätte sie eine selbstverständliche imperative Kraft: Die Feststellung, dass selbst paranoide Menschen Feinde haben, wird so gehandhabt, als ob ihre absolut notwendige Konsequenz die einstweilige Verfügung wäre, «dass man nie paranoid genug sein kann».

Wenn man davon ausgeht, dass das ursprüngliche Axiom wahr ist, macht auch dessen Wahrheitsgehalt einen paranoiden Imperativ noch nicht zur Selbstverständlichkeit. Aus «nur weil man paranoid ist, heisst das nicht, dass man keine Feinde hat», könnte jemand folgern, dass Paranoia kein wirksames Mittel ist, um Feinde loszuwerden.

Anstatt zu dem Schluss zu kommen, «dass man nie paranoid genug sein kann», könnte diese Person auch reflektieren: «es heisst also nicht, dass man paranoid sein muss, nur weil man Feinde hat».

Noch einmal: Wenn jemand eine unverstellte Sicht auf systemische Unterdrückung hat, bedeutet das nicht, dass sich diese Person an sich oder notwendigerweise für einen bestimmten Zweig erkenntnistheoretischer oder narrativer Konsequenzen verpflichtet.

Nicht paranoid zu sein (und natürlich müssen wir diesen Begriff viel genauer definieren) und auch andere Formen des Wissens neben der paranoiden zu praktizieren, bedeutet an sich noch nicht, die Realität oder die Tragweite von Feindschaft oder Unterdrückung zu leugnen.

Wie können wir Paranoia so verstehen, dass wir sie als eine Art erkenntnistheoretische Praxis unter weiteren, alternativen Praktiken einordnen? Neben Freud scheinen Melanie Kleins (insofern, als dass Paranoia sowohl einen affektiven als auch kognitiven Modus darstellt) und Silvan Tomkins’ Ansätze für diesen Zweck am besten geeignet zu sein.

Ein Beispiel für die Darstellung von Paranoia in der Kunst findet sich im Werk von William Klein, der 1954 nach acht Jahren in Europa nach New York zurückkehrte. Seine Fotografien fingen die boomende Metropole als einen dunklen, rauen und bedrückenden Ort ein, was in seinem Fotobuch „New York 1954-1955“ zum Ausdruck kam. Klein selbst beschrieb seinen Blick auf New York als einen "doppelten Blick" - den eines Parisers und den eines "Klugscheissers aus New York".

Die Ausstellung in der Photobastei in Zürich zeigt eine Auswahl von 130 Bildern aus dem Buch New York 1954.55. Life is Good and Good for You is New York: Trance Witness Revels vom 12. September bis 3. November.

Auch in der Musik findet sich das Thema Paranoia wieder. So veröffentlichten Black Sabbath im Jahr 1970 das Album „Paranoid“, welches zu einem der legendärsten Metalalben aller Zeiten werden sollte. Ironischerweise sollte der Song nur als Lückenfüller dienen. Erst ganz am Ende der Album-Session wurde der Song aufgenommen und auf’s Album gepackt.

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