Maercker Kollner: Posttraumatische Belastungsstörung 2005

Kinästhetik zur Förderung der Bewegungskompetenz in der Langzeitpflege

Kinästhetik dient dazu, menschliche Aktivitäten zu beschreiben und zu beobachten (Hatch & Maietta, 2003).

Kinästhetik befähigt die Pflegenden, unterstützungsbedürftige Menschen in ihren Aktivitäten individuell und gemäss ihren Ressourcen zu unterstützen und gleichzeitig ihre eigene Bewegungskompetenz zu berücksichtigen bzw. zu verbessern.

Diese Fähigkeit wird auch als „Kinästhetikkompetenz“ bezeichnet.

Sie besteht aus 4 Dimensionen: Wissen, Fertigkeiten, Haltung und Bereitschaft zur Weiterentwicklung von Bewegungsförderung und Bewegungswahrnehmung (Gattinger et al. 2016).

Für die Entwicklung von Kinästhetikkompetenz ist eine lernförderliche Organisationskultur und -struktur, die Gestaltung lernförderlicher Rahmenbedingungen und die Entwicklung einer gemeinsamen Vision in Institutionen erforderlich (Maurer et al., 2022).

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Projektziel

Die Samariterstiftung, ein großer Träger von stationären Langzeitpflegeeinrichtungen in Deutschland, hat sich zum Ziel gesetzt, die Kinästhetikkompetenz aller Pflege- und Betreuungspersonen in ihren Einrichtungen zu fördern.

Die Absicht dieses Projektes ist, die Entwicklung der Kinästhetikkompetenz von Pflege- und Betreuungspersonen in der stationären Langzeitpflege zu evaluieren (mittels Prozess- und Outcome-Evaluation).

Methodisches Vorgehen

Das Bildungs- und Entwicklungsprojekt wurde in Modelleinrichtungen pilotiert.

Für die Outcome-Evaluation wurde die Kinästhetikkompetenz der Mitarbeitenden zu 3 Zeitpunkten (T0, T1, T2) erhoben.

Dies erfolgte mittels Selbsteinschätzung in Form eines Fragebogens (KCSE-Skala) und anhand einer Fremdeinschätzung in Form einer strukturierten Analyse von Videodaten mit Mobilisationssituationen (KCO).

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Für die Prozessevaluation erfolgten zu 3 Erhebungszeitpunkten Interviews mit Leitungspersonen und zu 2 Zeitpunkten Fokusgruppeninterviews mit den Mitarbeitenden, um die Fragebogenerhebung anhand strukturierter und offener Fragen zu ergänzen.

Im Anschluss an die Pilotierung wurde das Hauptprojekt gestartet.

Ergänzend unterstützt das IGW - OST mit seiner Expertise die Samariterstiftung bei der nachhaltigen Entwicklung der Kinästhetikkompetenz (Coaching und Entwicklung von Indikatoren).

Ergebnisse aus den Modelleinrichtungen

Die nachfolgenden Ergebnisse beziehen sich auf die Pilotierungsphase in den Modelleinrichtungen.

Die Prozessevaluation zeigte unterschiedliche förderliche und hemmende Einflussmechanismen.

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Im Allgemeinen wurde das Projekt als positiv erlebt.

Während Leitungs- und Pflegepersonen angaben, im Vorfeld gut über das Projekt informiert gewesen zu sein, berichteten Betreuungspersonen von einem Informationsdefizit.

Die praxisnahe Entwicklung durch Praxisbegleitungen und Inhouse-Schulungen ermöglichten das Lernen im vertrauten Umfeld, barg jedoch durch die Covid-19-Pandemie auch Herausforderungen.

Zusätzlich war die Eigen- und Fremdmotivation, das Mitmachen der Leitungspersonen und der Austausch über positive Erfahrungen im Team förderlich.

Hemmende Faktoren waren die fehlende Kontinuität zur Umsetzung von Kinästhetik, die erschwerte Wahrnehmung des Nutzens einer höheren Kinästhetikkompetenz und Unsicherheiten über den Projektverlauf (Maurer et al., 2024).

Die Outcome-Evaluation zeigte, dass die Mitarbeitenden im Durchschnitt eine gute Kinästhetikkompetenz entwickelten.

Die Kinästhetikkompetenz setzt sich, basierend auf der KCSE-Skala, aus den vier Dimensionen Haltung, Entwicklung, Wissen und Fertigkeiten, sowie dem Summenscore zusammen.

Bei den Teilnehmenden hat sich der Mittelwert der KCSE-Skala in allen vier Dimensionen und dem Summenscore zwischen den Erhebungszeitpunkten gesteigert (jedoch nur in der Dimension «Entwicklung» statistisch signifikant (p = .006).

Besonders von der T1-Erhebung zur T3-Erhebung war eine leichte Steigerung in allen vier Dimensionen und dem Gesamtscore zu erkennen.

Keiner dieser Unterschiede zeigt sich als statistisch signifikant (Maurer et al., 2024).

Die beobachtete Fremdeinschätzung der Kinästhetikkompetenz (KCO) basierte auf den von den Einrichtungen zur Verfügung gestellten Videos.

Es zeigte sich eine z.T. deutliche Verbesserung der Kinästhetikkompetenz in allen Teilbereichen und infolgedessen im KCO-Gesamtwert.

Mitarbeitende wiesen bei der T1-Erhebung eine geringere Kinästhetikkompetenz auf als bei der T2-Erhebung.

Die Effektstärke nach Cohen (d) liegt bei 1,552 und entspricht einem grossen Effekt.

Die Interviews bestätigen diese Ergebnisse, denn die Teilnehmenden berichteten, dass sie Situationen differenzierter wahrnehmen und entsprechend angepasster in der Situation agieren.

Zudem bemerkten sie, dass die Umsetzung von Kinästhetik nicht mehr Zeit in Anspruch nimmt als ihr bisheriges Agieren.

Eine Verbesserung der Gesundheit wurde durch geringere muskuloskelettale Beschwerden beschrieben, und auch bei den Bewohnenden erlebten die Teilnehmenden positive Veränderungen (z. B. in Bezug auf die Interaktion und Selbstständigkeit) (Maurer et al., 2024).

Die Ergebnisse lassen darauf schliessen, dass bei zukünftigen Durchführungen des Programms beispielsweise eine stärkere Einbindung der Betreuungsassistentinnen und -assistenten hilfreich wäre, ebenso ein frühzeitiges, praxisnahes „Vertrautmachen“ mit Kinästhetik (vor dem Grundkurs) oder das explizite Darlegen der einzelnen Kursziele.

Gewaltprävention in Pflegeheimen: Das GRIP-Projekt

Gewalt in Pflegeheimen ist ein ernstes, oft tabuisiertes Thema mit Folgen für Bewohnende, Pflegende und Angehörige [3,4].

Gewalt kann von Pflegenden als auch Bewohnenden ausgehen, die Rollen sind häufig fluide [8].

Besonders gefährdet sind Menschen mit kognitiven Einschränkungen [9].

Trotz der Relevanz fehlen bislang fundierte, alltagstaugliche Präventionsstrategien [5].

Projektziele und Fragestellung

Im Projekt GRIP werden systematisch Situationen mit erhöhtem Gewaltrisiko in Pflegeheimen aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht.

Dabei werden individuelle, strukturelle und institutionelle Bedingungen aus Sicht von Pflegenden, Angehörigen und Expert:innen berücksichtigt.

Die Daten wurden thematisch analysiert [1] und durch systemisches Denken ergänzt - etwa durch die Erstellung von Causal Loop Diagrams [10], um die Gewaltverläufe und Eskalationsdynamiken visuell abzubilden.

Auf Basis der Ergebnisse wurde ein Fragebogen entwickelt und ein Online-Survey durchgeführt, um die Erkenntnisse zu quantifizieren und auf eine breitere Basis zu stellen.

Hierzu läuft derzeit noch die Analyse.

Ergebnisse aus der qualitativen Teilstudie

Die Ergebnisse der qualitativen Teilstudie des GRIP-Projekts liegen mittlerweile final vor.

Sie zeigen deutlich: Gewalt im Pflegeheim ist oft Teil alltäglicher Interaktionen und wird sowohl von Pflegenden als auch von Bewohnenden erlebt oder ausgeübt.

Die damit einhergehende Normalisierungs-Tendenz resultiert in geringer Reflexion von Gewaltpotentialen, wodurch das Risiko für Eskalationen steigt.

Einflussfaktoren zeigen sich auf individueller, zwischenmenschlicher, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene.

Sie betreffen sowohl persönliche Einstellungen und Kompetenzen der Pflegenden als auch strukturelle Bedingungen wie Ressourcenverfügbarkeit, Führungsstil und Teamkultur.

Die Reaktionen der Pflegenden auf belastende Situationen reichen von Rückzug, Sanktionierung und Bagatellisierung bis hin zu deeskalierenden, personzentrierten Handlungsstrategien.

Letztere sind vor allem bei reflektierten Pflegenden mit einer klaren professionellen Haltung und entsprechenden Fachkompetenz zu beobachten.

Die Auswertung mündete in ein systemisches Modell (Causal Loop Diagram [10]), das die komplexen Rückkopplungsschleifen zwischen Bewohnenden, Pflegenden, Angehörigen und Institutionen abbildet.

Es verdeutlicht, wie aversive Handlungen, fehlende Ressourcen und mangelnde Führung sich gegenseitig verstärken - aber auch, wie humanistische Werte, Teamstabilität und empathische Leitung diese Gewaltspiralen unterbrechen können.

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