Das Leben ist oft beides: Himmel und Hölle zugleich. Da sind all die Kriege, das Elend, die Katastrophen, aber gleichzeitig gibt es diese wundervollen Glücksmomente: das Lächeln eines Kindes, die neue Liebe, ein medizinischer Durchbruch. Doch wie hängen Freud und Leid zusammen? Und wie weiter nach dem Schicksalsschlag?
Die bittersüße Sehnsucht
Man kennt das bittersüße Gefühl der Sehnsucht, die Vorstellungen von dem großen Glück. Das Gefühl der Sehnsucht könnten wir so beschreiben: „Ich verzehre mich nach etwas. Ich fühle einen inneren Riss. Es wirft mich aus der Bahn. Ich vermisse, leide, begehre, mal hoffnungsvoll, mal verbittert. Die Sehnsucht fühlt sich mal süss, betörend, dann wieder brennend, nagend an, je nachdem, ob wir glücklich, verliebt, krank und traurig sind. Dann wiederum sehnen wir uns nach innerem Gleichgewicht. Wir sehnen uns - ständig. Das ist unsere Natur.
Die Impulse der Sehnsucht sind intensiv. Die Gefahr besteht, dass wir uns in Alkohol ertränken, mit Drogen zudröhnen, uns in Tabletten- und Esssucht stürzen, Zucker in uns schütten, um uns einzubilden, das Leben würde dadurch süsser. Wir können uns aber auch dazu entscheiden, die Zeichen der Sehnsucht als Chance zu nutzen, uns neu zu orientieren. Ist es wirklich wichtig, diese Vollkommenheit zu erreichen, die wir immer suchen? Wir könnten doch auch „unvollkommen“ glücklich sein.
Sehnsüchtige Gefühle führen uns auf unserem subjektiven Lebensweg. Sie zeigen uns immer wieder: Dahin willst du. Das zieht dich an. Das gefällt dir. Das beglückt dich. Dort sind Deine Grenzen, Deine Fähigkeiten. Was ist Dir noch wichtig in Deiner Situation? Welche neuen Möglichkeiten kristallisieren sich auf Deinem Weg heraus? So können wir sehnsüchtige Gefühle als Chance nutzen. Sie kann uns auf unsere wirklichen Bedürfnisse, Hoffnungen, Wünsche aufmerksam machen. Sie zeigt uns unsere Leidens- und Liebesfähigkeit, unseren Charakter.
Die durch Freud und Leid beobachteten sehnsüchtigen Gefühle können uns zu einer neuen Wahl führen - der Wahl zum Optimismus, zur Hoffnung auf neues Lebensglück, zu einem neuen Ich - zur Freiheit der Unvollkommenheit, zu neuen Chancen.
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Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
Der theoretische Hintergrund der Psychoanalyse ist eng mit Freuds praktischer Tätigkeit und seinen persönlichen Erfahrungen verbunden. Anfänglich verwendete Freud ein Hypnoseverfahren, später entwickelte er daraus die Methode der freien Assoziation. Mit der Traumdeutung (1900) entwickelte Freud die Kernkonzepte des psychoanalytischen Theoriegebäudes, nämlich die Systeme unbewusst, vorbewusst und bewusst.
Sigmund Freuds Theoriengebäude war anfänglich stark von durch den Zeitgeist bedingten mechanistischen Ideen geprägt; dies zeigt sich in Begriffen wie Trieb, Libido, psychischer Apparat etc. Erst nach 1920 rückte im strukturellen Persönlichkeitsmodell das Ich in das Zentrum der psychoanalytischen Betrachtungsweise (Das strukturelle Persönlichkeitsmodell wird auch Strukturmodell oder Instanzenmodell genannt). Später, und besonders nach Freuds Tod, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Funktionen des Ich.
Nach Freuds Tod erfolgte eine Erweiterung der psychoanalytischen Betrachtungsweise: Zunehmend wurde den strukturellen Deformationen innerhalb der Ich-Funktionen erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, Deformationen also, welche das Ich bereits in allerfrühester Kindheit gar nicht erst zu einer angemessenen Entwicklung kommen lassen. Ich-Psychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie es Menschen gelingt, sich an die Welt, in der sie leben, anzupassen. Dabei geht es um Fragen der Entwicklung von Beziehungsstrukturen ebenso wie um die Regulation von Selbst- und Selbstwertgefühl, aber auch um Aspekte der Entwicklung der Motorik oder der Denk- und Wahrnehmungsfunktionen.
Konflikttheorie und Strukturmodell
Die psychoanalytische Methode soll helfen, die Dramatik im Erleben des jungen Kindes nachvollziehen zu können. Die Konflikttheorie bildet den Ursprung des psychoanalytischen Denkens. Sie basiert auf einem Trieb oder Antrieb, der als Wunsch erlebt wird, und dessen Hemmung oder Abwehr. Abwehr ist ein dynamischer Vorgang, der das Bewusstsein vor den gefährlichen, konflikthaften, inneren wie auch äusseren Reizen schützen soll.
Deshalb ist die psychoanalytische Konflikttheorie untrennbar mit dem psychoanalytischen Strukturmodell verbunden, welches diese drei Segmente beinhaltet: Das Es als Triebsystem, Ich und Über-Ich als Steuerungssysteme.
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Ein bedeutsamer intrapsychischer unbewusster Konflikt ist z. B. jener zwischen den Wünschen nach Abhängigkeit und jenen nach Autonomie. Dass Konflikte entstehen, ist ein entwicklungspsychologisch gesehen völlig normales Phänomen. Gemäss psychoanalytischem Verständnis gibt es aber einen Grundkonflikt, der als zentraler infantiler Konflikt in der Lebensentwicklung eines Menschen beschrieben wird. Die psychodynamische Betrachtungsweise betrachtet die Grundkonflikte als Bestandteil der menschlichen Entwicklung unter dem Blickwinkel der Konfliktverarbeitung.
Im diagnostischen Prozess wird der Patient gemäss dem Stand seiner Entwicklung und Reifung in die vorgegebenen Konflikttypen eingeordnet.
| Konflikttyp | Extrem 1 | Extrem 2 | 
|---|---|---|
| Abhängigkeit vs. Unterwerfung vs. Kontrolle | Hinnahme als Schicksal, Gehorsam und Unterwerfung | - | 
| Versorgung vs. Autarkie | Starke Abhängigkeit, passiv und anklammernd | Keine Hilfe annehmen, sich anspruchslos darstellen | 
| Selbstwert vs. Objektwert | Minderwertigkeit | Aufwertung oder Idealisierung anderer | 
| Über-Ich- und Schuldkonflikte | Schuldübernahme bis zur masochistischen Unterwerfung | - | 
| Ödipal-sexuelle Konflikte | Nichtwahrnehmung von Erotik und Sexualität | Sexualität bestimmt alle Lebensbereiche ohne Befriedigung | 
Es, Ich und Über-Ich
In seinem Strukturmodell (auch Instanzenmodell) beschrieb Freud den immerwährenden Kampf zwischen zwei gegnerischen Instanzen der Persönlichkeit - dem Es und dem Über-Ich. Der dritte Aspekt des Selbst, das Ich, tritt in diesem Kampf als Vermittler auf. Das Es repräsentiert die grundlegenden Triebe. Es handelt irrational, auf Impulse hin und drängt nach Ausdruck und unmittelbarer Befriedigung, ohne zu berücksichtigen, ob das Gewünschte realistisch und möglich, sozial wünschenswert und moralisch akzeptabel ist. Das Es wird vom Lustprinzip beherrscht, dem unregulierten Drang nach Befriedigung - insbesondere sexueller, körperlicher und emotionaler Lüste, die hier und jetzt erfahren werden wollen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
Das Über-Ich repräsentiert die Werte eines Individuums, einschliesslich der moralischen Einstellungen, die von der Gesellschaft gelernt wurden. Das Über-Ich entspricht in etwa der landläufigen Vorstellung von Gewissen. Es entwickelt sich, indem das Kind nach und nach die Verbote der Eltern und anderer Erwachsener bezüglich gesellschaftlich unerwünschter Handlungen zu seinen eigenen Werten macht. Es ist die innere Stimme des Sollens und des Nicht-Sollens. Das Über-Ich schliesst auch das Ich-Ideal ein, die Ansicht einer Person darüber, was für ein Mensch sie versuchen sollte zu werden. Das Es will tun, was sich gut anfühlt, während das Über-Ich darauf besteht, das zu tun, was richtig ist.
Das Ich ist der realitätsgebundene Aspekt des Selbst, der den Konflikt zwischen den Impulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ich schlichtet. Das Ich repräsentiert die persönliche Sicht einer Person auf die materielle und soziale Realität - ihre bewussten Überzeugungen über die Ursachen und Konsequenzen von Verhalten. Ein Teil der Aufgaben des Ich besteht darin, Handlungen auszuwählen, welche die Impulse des Es befriedigen, ohne unerwünschte Konsequenzen zu haben. Das Ich wird vom Realitätsprinzip beherrscht, das vernünftige Entscheidungen über lustorientierte Begierden stellt.
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Das Ich ist jenes Funktionenbündel, das sich im Dienst des Austauschs mit den jeweils relevanten Umwelten herausbildet und selbst- wie objekterhaltend tätig ist. Einige sogenannte Ich-Funktionen sind z. B.: Wahrnehmen, Urteilen, Steuern, Antizipieren, Aufschieben. Das Ich bündelt psychische Energie und vermittelt gegensätzliche Kräfte aus Es und Über-Ich. Die Aufgabe des Ich, zwischen den Anforderungen des Es und denen des Über-Ich eine realitätsangepasste Synthese zu finden, gehört zum Bewussten (Bewusstsein), da sich das Ich dabei der willkürlichen körperlichen Bewegungen, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses usw. bedient.
Das Unbewusste und die Traumdeutung
Gewisse Teile des Gefüges aus Geboten, Verboten und moralischen Wertvorstellungen (die zum Über-Ich gehören) sind zwar bewusst. Andere Wertvorstellungen und soziale Anforderungen wurden schon in frühester Kindheit übernommen und sind nicht bewusst (oder nicht mehr bewusst). Diese Anforderungen können sogar verleugnet werden, obwohl eine Person konkret danach handelt.
- Dynamisch Unbewusstes: Der mentalen Vergegenwärtigung und sprachlichen Reflexion dauerhaft durch Abwehrprozesse entzogen.
 - Das Vorbewusste enthält jene psychischen Inhalte, welche zwar momentan im Bewusstsein nicht präsent sind, aber nahezu beliebig reproduziert und erinnert werden können.
 
Der Traum war für Freud «der Königsweg» zur Entdeckung des Unbewussten. Die in der Traumdeutung aufgedeckten Mechanismen finden sich in anderen Erscheinungsformen des Unbewussten wieder, z. B. in Fehlleistungen, Versehen, Versprechern etc. Freud nahm an, dass das unbewusste Es an der Traumbildung einen wesentlichen Anteil hat.
Freud hat den Traum auch als «Hüter des Schlafes» bezeichnet: Das Ich setzt dabei Bedürfnissen und Ansprüchen, die sonst zum Erwachen führen würden, eine harmlose Wunscherfüllung entgegen, etwa wenn das Hungergefühl durch einen Traum beschwichtigt wird, in dem man etwas isst. Wenn allerdings der Drang zu gross wird, wacht der Schläfer auf. Die Deutung von Träumen hat im psychoanalytischen Setting einen hohen Stellenwert, weil durch den Traum unbewusstes Material an die «Oberfläche» befördert und der Bearbeitung zugänglich gemacht wird.
Für die Deutungsarbeit allgemein - und auch die mit Traummaterial - gilt, dass es keine allgemein gültigen Deutungen gibt. Es geht dabei um eine Rekonstruktion und Einsicht in die Dynamik des frühkindlichen Konfliktes, der der jeweiligen Störung zugrunde liegt, und nicht um eine präzise Zuordnung zwischen einzelnen Traumelementen und deren Bedeutung. Da sich der Konflikt besonders in charakteristischen Abwehrmustern manifestiert, geht es bei der Deutungsarbeit eher um die Analyse dieser Abwehrmuster bzw. deren Auflösung.
Manifest vs. Latent
Freud definierte zwei Arten des Trauminhalts, den manifesten und den latenten. Der manifeste Inhalt ist der bewusst erinnerte Traum, der nach dem Aufwachen mehr oder weniger genau erinnert wird. Der latente (versteckte) Inhalt wird nicht erinnert, sondern muss in seiner symbolischen Bedeutung erschlossen werden. Hier zeigen sich die eigentlichen Motive, die nach Ausdruck suchen, jedoch so schmerzvoll oder inakzeptabel sind, dass sie nur in versteckter oder symbolischer Form ausgedrückt werden können. Um einen Traum zu deuten, muss der Therapeut dessen manifesten Inhalt in den latenten übersetzen. PsychoanalytikerInnen glauben, dass Träume eine gute Quelle für Informationen über die unbewussten Motivationen des Patienten sind. Therapeuten versuchen mit Hilfe der Traumanalyse, diese versteckten Motive zu enthüllen.
Abwehrmechanismen
Als Abwehr bezeichnet die Psychoanalyse jede psychische Aktivität, die darauf abzielt, psychischen Schmerz in all seinen möglichen Formen zu vermeiden. Die Abwehrmechanismen gehören zu den Funktionen des Ich und dienen der Wahrnehmung und Bewältigung der psychischen Realität. Eine Wahrnehmung verfällt der Abwehr, wenn die bewusste Konfrontation damit dem Ich Unlust bereitet. Allgemein richtet sich die Abwehr gegen alles, was Angst hervorrufen kann: Emotionen, bestimmte Situationen, Vorstellungen, Über-Ich-Forderungen etc.
Die Abwehr ist im Dienste der Unlustvermeidung funktional, wenn sie die Wahrnehmung der unangenehmen Konfrontation umgeht. Das gelingt durch bestimmte Mechanismen wie Verdrängung als der zentralen Leistung des Unbewusstmachens, sowie durch weitere Abwehrmechanismen wie Leugnung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Regression Rationalisierung etc. Das klassische Konzept der Abwehr geht davon aus, dass Abwehr als solche nicht pathologisch ist, da sie zugleich die Voraussetzung für die Charakterbildung ist. Die Ich-Stärkung und mit ihr die Abwehrorganisation sind für die kindliche Entwicklung entscheidend und ebenso wichtig wie die Entwicklung der Triebe.
Abwehrmechanismen sind mentale Strategien, mit denen sich das Ich gegen den täglichen Konflikt zwischen Impulsen des Es, die nach Ausdruck verlangen, und der Forderung des Über-Ich, diese zu verweigern, verteidigt. In der psychoanalytischen Theorie werden diese Mechanismen als essenziell für die Bewältigung mächtiger innerer Konflikte durch das Individuum betrachtet. Durch ihren Einsatz ist eine Person in der Lage, ein günstiges Selbstbild aufrechtzuerhalten und ein akzeptables soziales Erscheinungsbild zu wahren. Obwohl der Impuls nicht mehr wahrgenommen wird, ist er dennoch nicht verschwunden; die Gefühle spielen weiterhin eine Rolle bei der Funktionsweise der Persönlichkeit.
Abwehrmechanismen sind kommunikative, mentale und physische Operationen, die der Spannungsregulierung dienen. Das Individuum unterdrückt die Wahrnehmung bedrohlicher oder verpönter Triebimpulse oder Affekte, die es gegenüber einem Objekt hat. Die Verdrängung geht vom Ich aus, eventuell im Auftrag des Über-Ich, und verhindert eine vom Es angeregte Triebbesetzung. Verdrängung ist der psychische Prozess, der das Individuum davor schützt, extreme Angst oder Schuld zu empfinden, weil seine Impulse, Vorstellungen und Erinnerungen inakzeptabel sind und/oder weil ihr Ausdruck gefährlich wäre. Dem Ich bleibt sowohl der zensierte mentale Inhalt verborgen als auch der Prozess, mit dem die Verdrängung die Informationen aus dem Bewusstsein fernhält. Das Verdrängte bildet einen Teil des Unbewussten und bleibt dort aktionsfähig.
Mit der Gegenbesetzung schützt sich das Bewusste gegen das Andrängen der unbewussten Vorstellung. «Das muss ich wohl absichtlich verdrängt haben» stellt eine beliebte Redewendung dar, die häufig im Sinne von bewusst unterdrücken oder vergessen gebraucht wird. Der Vorgang der Verdrängung ist jedoch wie bei jedem Abwehrmechanismus als unbewusst zu bezeichnen, d.h. der Betreffende bemerkt nichts davon. Die Verschiebung ist wie die Projektion eine Übertragung verdrängter Wünsche und Impulse. Wegen ihrer multiplen Funktionen sind Verschiebung und Verdichtung als Generalmechanismen sowohl des normalen als auch des pathologischen seelischen Geschehens zu bezeichnen. Als Abwehrmechanismen im Dienste der Zensur dezentrieren und maskieren sie unbewusste Wünsche und Vorstellungen und bilden damit die wichtigsten Teilschritte bei der neurotischen und psychotischen Symptombildung.
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