Sigmund Freud, ein österreichischer Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker und Religionskritiker, gilt als Begründer der Psychoanalyse und einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Theorien haben nicht nur die Psychologie, sondern auch die Literatur und Kunst massgeblich beeinflusst.
Freuds Psychoanalyse in Grundzügen
Die psychoanalytische Theorie ist äusserst komplex. Um sie in ihren Grundzügen darzustellen, soll das Grundlegende aus dem Überblick des Ganzen aufgezeigt werden. Im Folgenden werden die zentralen Freudschen Begriffe erläutert:
- Das Unbewusste (Ubw): Die Annahme eines Ubw mit weitreichenden Wirkungen versetzt dem Glauben des Rationalismus einen Stoss.
 - Psychischer Determinismus: Psychisches Geschehen ist kausal determiniert, unterworfen dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Leben, Psychisches und Geistiges sind Ausflüsse der Materie.
 - Fehlleistungen: Diese Freudsche Auffassung ist heute zum Gemeingut geworden. Der psychoanalytisch gebildete Mensch hat es sich angewöhnt, eigenen Fehlleistungen nachzugehen, weil sich meist interessante Entdeckungen über Gegebenheiten des Ubw machen lassen.
 - Traumdeutung: Freud bezeichnet die Traumdeutung als die ‘via regia’ (den königlichen Weg) zum Ubw.
 - Der psychische Apparat: Freud betrachtete das Seelenleben als einen aus Einzelteilen zusammengesetzten Apparat. Die Lehre vom psychischen Apparat ist eine der grundlegendsten Anschauungen der Psychoanalyse.
 - Die Triebe: Für Freud war es selbstverständlich, das Triebleben als die Basis des Psychischen zu betrachten. Er sah das menschliche Leben eingespannt zwischen die Pole des ‘Eros’ und des ‘Thanatos’.
 - Die Libido: Das dynamische Geschehen der Psyche wird in Gang gehalten durch die psychische Energie, die er als Libido bezeichnet.
 - Verdrängung: Der Mensch ist nicht ohne weiteres bereit oder fähig, die Inhalte des Es bewusst werden zu lassen.
 
Freud und die Motivwahl in Märchen
Freud behandelt in seinem Text die Frage nach der Motivwahl. Als Beispielgeschichte wählt er die Erzählung vom Kaufmann von Venedig, wo ein junger Mann zwischen drei Kästchen wählen muss, um die kluge Porzia für sich zu gewinnen. Eine Umkehrung des Motivs findet sich auch in einer Erzählung aus den Gesta Romanorum, wo eine junge Frau eine ähnliche Wahl vornehmen muss, um zu dem jungen Sohn des Kaisers zu gelangen.
Freud weist nun darauf hin, dass die Wahl des Motivs bzw. dessen Umkehrung ein beliebtes Motiv für Märchen, Mythen und Dichtung ist. Auch bei Aschenputtel, Shakespeares König Lear und dem Mythos von Aphrodite findet sich dieselbe Motivwahl. Es geht darum, dass sich ein Mann zwischen drei Frauen entscheiden muss. Und in jeder Geschichte ist es immer die jüngste und hübscheste Frau, die gewählt wird. Man stelle sich nun die Frage, warum ausgerechnet die dritte die Wählenswerteste sei. Freud gibt an, dass neben ihrer Schönheit auch andere Eigenschaften hervorstechen.
Aschenputtels Verstecken setzt Freud mit Verstummen Cordelias gleich, wobei er mittels seiner Psychoanalyse Stummheit als Darstellung des Todes sieht. Um seine Argumentation zu stützen, berichtet Freud von einem Traum, in dem ein Freund zur gleichen Zeit gestorben ist, wo er von ihm geträumt hat, dass er ihm nicht antwortet. Bei diesem Traum zeigt sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen Verstummen und dem Tod.
Lesen Sie auch: Der Fall Bartsch und die Psychoanalyse
Nicht nur das Stummsein, sondern auch das Sichverbergen, das Unauffindbarsein, sowie die auffällige Blässe deutet Freud als Todessymbole. Um die These zu bekräftigen, dass das Stummsein als ein Todessymbol gedeutet werden kann, fügt Freud eine Reihe von Märchen an. Unter anderen berichtet er von dem Volksmärchen der Brüder Grimm „Die zwölf Brüder“, in dem die zwölf Brüder wegen ihrer Schwester zweimal symbolisch sterben müssen.
Freud interpretiert dies so, dass sie selbst für ihre zwölf Brüder stirbt. Auf diesem Weg versucht er erstens den Zusammenhang zwischen Verstummen und dem Tod zu untermauern und zweitens zu zeigen, dass die drei Schwestern Schicksalsschwestern sind und die dritte der Schwestern ein Todesengel sei.
«Rumpelstilzchen» als psychoanalytische Interpretation
Das Märchen «Rumpelstilzchen» ist eines der bekanntesten Märchen der Brüder Grimm. Sigmund Freud meinte, dass in Träumen von Frauen häufig «Rumpelstilzchen-ähnliche Männchen» zu finden sind. Sie kommen immer dann, wenn guter Rat teuer ist. Charlotte Bühler hingegen sieht in dem Märchen einen Reifeprozess vom Mädchen zur Frau.
Die Interpretationsbreite dieses Märchens fordert alle Märchenfreunde auf, es immer wieder zu beleuchten. Ist es die Tochter des Müllers, deren Entwicklung von Anfang an von männlichen Personen bestimmt und erzwungen wird? Das Mädchen wird mit männlichen Erwartungen belegt, die es einlösen muss. Im Prinzip ist es nichts anderes als eine Art Ware ihres Vaters. Es wird von ihm dazu eingesetzt, aus der Armut zu entfliehen. Ein Mitspracherecht über den Handel, den ihr Vater mit dem König anstrebt, hat sie nicht. Ein individuell weiblicher Entwicklungsweg ist ihr dadurch gar nicht möglich.
Die früh geprägte Fremdbestimmtheit bewirkt die Bedürfnis- und Willenlosigkeit des Mädchens. Es soll ausschliesslich ausführend tätig sein und das Stroh zu Gold spinnen. Oder ist der Müller der Sieger? Die väterliche Beziehung zur Tochter steht für den allgemein üblichen Umgang mit Frauen. Die männliche Dominanz und die weibliche Fügsamkeit entsprechen dem Zeitgeist und sind für Frauen und Männer verbindlich.
Lesen Sie auch: Die Traumdeutung von Sigmund Freud – Eine Übersicht
Aber auch der König könnte als Sieger dargestellt werden, denn auch er reiht sich in die beschriebenen Strukturen ein. Er überragt die Müllerstochter um ein Vielfaches. Der Königstatus beschreibt den Stellenwert des Mannes. Bereits vor der Hochzeit ist er eine gültige Persönlichkeit. Er setzt die Massstäbe, fordert, kontrolliert und belohnt. Die Frau muss nach seinen Vorstellungen werden und wird dann von ihm zur Königin erhöht.
Oder ist gar Rumpelstilzchen selbst der Sieger? Das Rumpelstilzchen, ein «lächerliches Männchen,» taucht als Retter in der Not auf, erfüllt die Forderungen und rettet das «soziale» Leben der Müllerstochter. Aus Sicht der Königin jedoch ist es aber überaus bösartig und nicht kontrollierbar. Es könnte aber auch angemerkt werden, dass der Kobold lediglich seinen verdienten Lohn haben möchte, gemäss dem mit der Müllerstochter geschlossenen mündlichen Vertrag.
Das Märchen «Rumpelstilzchen» als psychoanalytische Interpretation kann so gelesen werden, dass die Müllerstochter, beziehungsweise Königin, als Heldin aus alledem hervorgeht. Genauso gut aber kann auch das Rumpelstilzchen als Held der Geschichte gesehen werden.
«Rumpelstilzchen» ist ein tiefgreifendes und erschütterndes Märchen aus der Frauengeschichte und hat heute noch Gültigkeit für viele weibliche Lebensentwürfe. Die Grundrechte der Frau auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind inhaltliche Schwerpunkte des Märchens.
In der Kunsttherapie bietet das Märchen «Rumpelstilzchen» eine reiche Quelle an Symbolik und Themen, die zur Selbstreflexion und persönlichen Entwicklung beitragen können.
Lesen Sie auch: Ego, Es und Über-Ich erklärt
tags: #Freud #Psychoanalyse #Märchen