Für Betroffene kann die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine Erleichterung darstellen oder Schwierigkeiten mit sich bringen. Eine Diagnose ist die Feststellung und Beurteilung einer körperlichen oder psychischen Krankheit. Sie hat zum Ziel, eine Erklärung für die Probleme oder Schwierigkeiten einer Person zu finden, und bildet die Basis für eine Behandlung.
Die Einordnung von Merkmalen (Klassifikation)
Die Einordnung von Merkmalen (Klassifikation) soll Abgrenzung schaffen. Das heisst: Eine Gruppe von Symptomen wird einem bestimmten Störungs- oder Krankheitsbild zugeschrieben und nicht einem anderen. Diese Art des Herangehens ist wünschenswerterweise wissenschaftlich, das heisst systematisch, nachvollziehbar und wiederholbar. Jedoch ist jeder Mensch anders und zeigt nicht immer die gleichen Symptome.
Um allgemeingültige Diagnosekriterien zu definieren, ist ein langer Beobachtungsprozess der Vorkommnisse nötig. AD(H)S steht für ein uneinheitliches Störungsbild und Überschneidungen mit anderen Krankheitsbildern. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft manchmal AD(H)S Symptome zeigen.
Häufige Fragen und Unsicherheiten
Es herrscht Unklarheit, was mit AD(H)S gemeint ist; nicht selten wird gefragt: «Gibt es das überhaupt?». Fragt man betroffene Familien und ihre Kinder, lautet die Antwort in den meisten Fällen ganz klar ja. Fachpersonen, die diese Meinung teilen, benutzen Diagnosekriterien und AWMF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, zurzeit in Überarbeitung), um Anzeichen von AD(H)S genauer eingrenzen zu können.
Sicherlich haben sich zahlreiche Bedingungen in der Gesellschaft und damit auch die Anforderungen an die Kinder gewandelt. Gegebenenfalls hat sich auch die Wahrnehmung der Symptomatik in unserer Gesellschaft verändert. Denn bevor es zu einer Abklärung auf AD(H)S kommt, ist den meisten Eltern bereits bewusst, dass ihr Kind Probleme in Bereichen zeigt, in denen Altersgenossen nicht auffallen.
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Kulturelle Unterschiede und regionale Unterschiede
Was jedoch als auffälliges Verhalten angesehen wird, ist abhängig von kulturellen Normen. So scheint es im Tessin im Vergleich mit der Romandie und vor allem der Deutschschweiz zu weniger AD(H)S-Diagnosen pro Jahr zu kommen. Im Europavergleich gibt es laut Statistik in Italien weniger Kinder mit AD(H)S als in Deutschland. Die Gründe für eine unterschiedlich hohe Anzahl an Fällen sollen weiter untersucht werden. Deshalb widmet sich beispielsweise ein neues Forschungsprojekt dem Phänomen AD(H)S in allen drei grossen Sprachregionen der Schweiz und erhofft sich neue Einblicke.
Voraussetzungen für die Diagnose
Um AD(H)S diagnostizieren zu können, müssen Verhaltensauffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit, Impulsivität und eventuell auch der Hyperaktivität schon im Vorschulalter und über mindestens sechs Monate hinweg bestehen. Und diese Auffälligkeiten müssen in verschiedenen Lebensbereichen, also etwa in der Schule und zu Hause, sichtbar werden. Kinder können sich zu Hause ganz anders verhalten als im Klassenzimmer und ebenfalls bei verschiedenen Lehrern.
Im Sinne des multimodalen Ansatzes benötigen Fachpersonen zum Erstellen einer Diagnose neben den Schilderungen der Eltern auch Wahrnehmungen und Beobachtungen von Bezugspersonen aus anderen Umfeldern des Kindes. Dies sind in der Regel die Lehrpersonen. Zusätzliche Beobachtungen von Grosseltern oder Leitern aus einem (Sport-)Verein können die Abklärung ergänzen.
Die Rolle der Entwicklungsgeschichte und Familie
Die Berücksichtigung der Entwicklungsgeschichte des Kindes gehört bei der Einschätzung genauso dazu wie das gründliche Einholen von Informationen über die Familie. Solche Auskünfte sind nützlich, da man von einer erblichen Komponente von AD(H)S ausgeht. Studien zeigen jedoch, dass sich lediglich die Wahrscheinlichkeit für Symptome erhöht. Das heisst jedoch, dass eine Weitervererbung keineswegs immer der Fall ist. Somit hat nicht jeder von ADHS betroffene Erwachsene auch ein Kind mit ADHS, und nicht alle Kinder mit ADHS haben ebenfalls betroffene Eltern oder Verwandte.
Medizinische und psychologische Untersuchungen
Neben der Durchführung von speziell entwickelten psychologischen Tests, welche sich auf das Verhalten des Kindes und seine Begabungen konzentrieren, sollte ausserdem immer eine medizinische Untersuchung erfolgen. Dabei wird zunächst ausgeschlossen, dass Konzentrations- und Leistungsprobleme tatsächlich durch eine Verminderung des Hör- und Sehvermögens, durch Schlafstörungen, durch Stoffwechselstörungen (z. B. Schilddrüse) oder durch Mangelerscheinungen (z. B. Magnesium) verursacht werden.
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Für manche ist es die Modediagnose unserer Zeit, für andere die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter: ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) bzw. ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Betroffen sind rund 5 bis 6 Prozent aller Kinder. Jungen deutlich öfter als Mädchen.
Eine zusätzliche neuropsychologische Untersuchung erlaubt Rückschlüsse darauf, ob und wo das Kind Funktionsstörungen haben könnte, etwa hinsichtlich des Arbeitsgedächtnisses oder seiner Wahrnehmung. Noch gibt es keine Methode, um AD(H)S anhand von rein biologischen Merkmalen festzustellen. In sogenannten bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) wird zwar sichtbar, welche Hirnareale aktiv sind und wie sich diese Aktivierung bei Menschen mit oder ohne AD(H)S unterscheidet. Doch beim einzelnen Patienten kann so noch keine Diagnose gestellt werden. Diese bildgebenden Verfahren rücken aber immer mehr ins Zentrum der Forschung, so wie auch die Theorie, dass die Ursache für AD(H)S ein Mangel des Neurotransmitters Dopamin zwischen den Nervenzellen ist.
Der Diagnoseprozess und seine Herausforderungen
Auch ohne körperliche Tests kann heute schon eine für das Kind zutreffende Diagnose gestellt werden. Damit das Risiko einer falschen Einschätzung minimiert wird, benötigt es ein sorgfältiges Vorgehen entsprechend den Kriterien. Die Leitlinien, welche die Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme DSM-5 und ICD 10 umrahmen, lassen viel Interpretationsspielraum zu und vertrauen auf die subjektive Einschätzung des Klinikers. Das wird oft kritisiert, es besteht der Wunsch nach mehr Eindeutigkeit.
Da aber alle Symptome wie die drei Hauptanzeichen bei ADHS, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, bei unterschiedlichen Personen verschieden stark ausgeprägt sind, wird das Vorgehen im Praxisalltag auch für Fachpersonen zur Herausforderung. Die abklärende Fachperson sollte deshalb spezialisiert sein im Kinder-/Jugendbereich und sich mit AD(H)S gut auskennen. Dies trifft in der Schweiz auf Personen aus unterschiedlichen Disziplinen zu (z. B. Kinderärzte, Psychologen). Wichtig ist, eine kompetente Fachperson zur Seite zu haben, welche auf Fragen und Bedenken eingeht, sich Zeit nimmt und das Kind auf seinem Weg begleitet.
Die Bedeutung einer sorgfältigen Beurteilung
Ob eine Diagnose angemessen und auch im Interesse des Kindes ist, muss in jedem Einzelfall sorgfältig beurteilt werden. Beeinträchtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit können Folgen von Entwicklungsstörungen, Erkrankungen, Verletzungen und psychischen Dysfunktionen des Gehirns sein. Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich von Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung und Sprache können die Lebensqualität, den Schul- und Berufserfolg von Kindern und Jugendlichen nachhaltig gefährden.
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In der neuropsychologischen Untersuchung setzen wir standardisierte Tests ein, um die geistige Leistungsfähigkeit in wichtigen Funktionsbereichen zu untersuchen und quantitativ einzuschätzen. Wir erfassen Art und Ausmass von Beeinträchtigungen der höheren Hirnfunktionen und beantworten Fragen nach möglichen Ursachen, Konsequenzen, Massnahmen und Empfehlungen. Die Fragestellungen können sowohl einen medizinischen als auch einen schulischen Hintergrund haben.
Die Untersuchungsergebnisse werden unter Berücksichtigung der Informationen aus der Krankengeschichte, der Bildungsbiographie und Angaben von Angehörigen in einem ausführlichen Untersuchungsbericht zusammengefasst, der Vorschläge für weitere diagnostische und therapeutische Massnahmen enthält. Es wird angeboten, die Untersuchungsergebnisse in einem persönlichen Gespräch zu erläutern.
Abklärungen werden auf Deutsch und Englisch angeboten. Die neuropsychologische Diagnostik bei Krankheit, Unfall oder für Kinder und Jugendliche in der obligatorischen Schulzeit wird von den Krankenkassen bezahlt. Attest-Untersuchungen für Lese- und Rechtschreibstörungen (Dyslexie) oder Rechenstörungen (Dyskalkulie) für den Nachteilsausgleich für Jugendliche nach der obligatorischen Schulbildung werden hingegen nicht durch die Krankenkasse vergütet. Die Kosten müssen deshalb selbst übernommen werden. Die Abrechnung erfolgt nach Aufwand (CHF 250.- pro Stunde).
Behandlung von ADHS
Bei Verdacht auf ADHS ist eine gründliche Abklärung ebenso wichtig wie das Finden einer passenden Behandlung für das Kind. Im Zentrum sollte dabei stets die Frage stehen, wie dem Kind am besten geholfen werden kann, damit es trotz ADHS sein Potential ausschöpfen kann. ADHS ist nicht leicht zu diagnostizieren, denn es gibt keine körperlichen Untersuchungen, anhand derer sich die Störung feststellen lässt. Auch gibt es nicht den einen Test, der zweifelsfrei belegt, dass ein Kind ADHS hat. Eine sorgfältige Abklärung durch Fachpersonen ist deshalb zentral.
Die Abklärung umfasst meistens eingehende Gespräche mit den Eltern, dem Kind und den Eltern und je nach Alter auch mit dem Kind alleine. Dabei werden Informationen über die bisherige Lebensgeschichte, das Verhalten im Alltag, das familiäre und soziale Umfeld etc. eingeholt. Oft werden dabei Fragebögen eingesetzt, die von Eltern, Lehrpersonen und je nach Alter auch vom Kind ausgefüllt werden. Damit sich die Fachperson ein Bild vom Verhalten des Kindes machen kann, sind zudem Unterrichtsbesuche möglich. Testpsychologische Untersuchungen sind ebenfalls Teil der Abklärung. Dies einerseits zur Feststellung von Stärken und Leistungsproblemen. Andererseits auch zur Abklärung, ob Begleitstörungen wie z. B. eine Lese-Rechtschreibstörung oder eine Dyskalkulie vorliegen.
Damit eine Diagnose gestellt werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:
- Ein Teil der Symptome ist bereits vor dem vollendeten siebten Lebensjahr aufgetreten.
 - Die Symptome bestehen seit mindestens sechs Monaten und sind dem Entwicklungsstand des Kindes nicht angemessen.
 - Die Symptome sind ausgeprägter als bei Kindern gleichen Alters.
 - Die Symptome führen in mindestens zwei Lebensbereichen zu Beeinträchtigungen, z. B. in der Schule und zu Hause.
 - Die Symptome lassen sich nicht durch eine andere körperliche Erkrankung oder eine psychische Störung erklären.
 
Therapiemöglichkeiten
Die Behandlung von ADHS richtet sich danach, wie stark die Beeinträchtigung ist. Sehr wichtig ist, dass das Kind Strukturen vermittelt bekommt und lernt, Strategien zu entwickeln, die ihm helfen, den Alltag zu bewältigen. Dazu kann ein Coaching hilfreich sein. Dieses umfasst oftmals auch die Beratung der Eltern. Für die Bewältigung der Herausforderungen in der Familie, in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen ist ein Verhaltenstraining sinnvoll. Bei Kindern, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit ADHS ein schlechtes Selbstwertgefühl entwickelt haben oder die unter Depressionen leiden, ist eine Psychotherapie hilfreich.
Ein weiteres Therapieangebot ist das Neurofeedback. Dieses computergestützte Training macht die Hirnaktivität auf einem Bildschirm sichtbar. Das Training besteht darin, die Hirnaktivität zu beeinflussen und zu steuern und dadurch die Konzentration zu verbessern. Die Wirksamkeit von Neurofeedback bei ADHS ist bislang nicht wissenschaftlich bewiesen. Manche Betroffene scheinen davon jedoch zu profitieren.
Neben den aufgeführten Therapiemöglichkeiten ist Sport insbesondere für Kinder mit Hyperaktivität eine gute Möglichkeit, um dem ausgeprägten Bewegungsdrang nachzugehen, Spannungen abzubauen und die Aufmerksamkeit zu steigern. Bei nachgewiesenen Teilleistungsstörungen, die begleitend zur ADHS auftreten, ist zudem eine gezielte Förderung wichtig.
Medikamentöse Behandlung
Medikamente kommen dann zum Einsatz, wenn der Leidensdruck gross ist und das Kind sich nicht auf Therapieangebote einlassen kann. In manchen Fällen ermöglicht erst die Einnahme des Medikaments, dass Erziehungsmassnahmen oder eine Verhaltenstherapie wirksam werden können. Auch wenn andere Behandlungsansätze nicht die gewünschte Wirkung gezeigt haben, wird eine medikamentöse Therapie in Betracht gezogen. Dennoch beruhigen und dämpfen sie den Bewegungsdrang des betroffenen Kindes so weit, dass die Konzentrationsfähigkeit verbessert wird.
Sie bewirken keine Charakterveränderungen und lassen auch positive Eigenschaften wie z. B. die Kreativität nicht verschwinden. Die Medikamentenmenge sowie deren Wirkdauer sind von Kind zu Kind sehr unterschiedlich und müssen individuell herausgefunden werden. In der mehrwöchigen Einstellphase der Behandlung sind Rückmeldungen bezüglich der Wirkung durch die Kinder selbst, die Lehrerpersonen und die Eltern überaus wichtig. Da nicht alle Kinder gleich gut auf die Medikamente ansprechen, muss zuweilen auch erst das richtige Präparat gefunden werden.
Ärztliche Kontrolle ist während der gesamten Dauer der Medikamenteneinnahme unverzichtbar. Bei Psychostimulanzien wie Ritalin® ist wichtig, dass Gewicht, Wachstum, Puls und Blutdruck regelmässig überprüft werden. Dies, weil diese Medikamente Appetit- und Schlafstörungen auslösen können, eine leichte Erhöhung von Puls und Blutdruck verursachen und in seltenen Fällen das Längenwachstum beeinträchtigen können.
Häufige Fragen zum Thema
Gibt es einen Zusammenhang zwischen ADHS und Ernährung?
Warum sind Diagnose und Behandlung wichtig?
Wenn der Verdacht aufkommt, dass ein Kind ADHS haben könnte, machen sich Eltern oftmals Sorgen, mit einer Diagnose würde ihm ein Stempel aufgedrückt. Das Problem ist jedoch, dass es diesen auch aufgedrückt bekommt, wenn es seine Sachen vergisst, die Hausaufgaben unvollständig erledigt oder nicht stillsitzen kann. Es gilt dann einfach als das Kind, das den Unterricht stört und sich zu wenig anstrengt.
Bei der Frage, ob Sie Ihr Kind abklären lassen oder nicht, sollte deshalb immer entscheidend sein, wie gross der Leidensdruck ist. Es kann für ein Kind sehr schmerzhaft sein, wenn alle seine Anstrengungen ins Leere laufen und es nie den Anforderungen genügen kann, die es erfüllen möchte. Zu wissen, dass es einen Grund gibt für seine Probleme und dass man ihm helfen kann, ist in vielen Fällen eine grosse Erleichterung. Für Sie als Eltern ist es ebenfalls hilfreich, zu wissen, dass nicht eine "falsche" Erziehung für die vielen Reibereien im Alltag verantwortlich ist.
Lehrpersonen und Klassenkameraden zeigen oft mehr Verständnis für ein Kind, wenn sie wissen, dass es seine Sachen nicht aus Gleichgültigkeit vergisst und nicht herumrennt, um andere zu stören. Bei ausgeprägter ADHS ist eine Diagnose zudem wichtig, damit das Kind einen Nachteilsausgleich bekommt. Dies bedeutet, dass die Lern- und Prüfungsbedingungen so angepasst werden, dass es seine Leistung besser erbringen und die Lernziele erreichen kann. Es soll dadurch die gleichen Chancen bekommen wie seine Mitschülerinnen ohne Beeinträchtigung.
Auch bei der Frage, welche Behandlung angezeigt ist, sollte der Leitgedanke sein, wie Sie Ihrem Kind das Leben mit ADHS erleichtern können und wie Sie es dabei unterstützen können, sein Potential zu entwickeln.
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