Die Schwierigkeit, die richtige Diagnose zu finden, kann für Menschen mit komplexen psychischen Problemen eine große Herausforderung darstellen. Oftmals führt dies zu einem langen Leidensweg und einer Vielzahl von Fehldiagnosen, bevor die eigentliche Ursache erkannt wird.
Ein Beispiel hierfür ist die Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), insbesondere in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen wie komplexen Traumafolgestörungen (kPTBS/DDNOS/DIS) oder dem Verhaltensprofil Pathological Demand Avoidance (PDA).
Fehldiagnosen und ihre Auswirkungen
Viele Betroffene berichten von einer Odyssee durch verschiedene Arztpraxen und Therapien, bevor sie eine zutreffende Diagnose erhalten. Dies kann zu Frustration, Verzweiflung und dem Gefühl führen, nicht verstanden zu werden.
Ein Betroffener schildert seine Erfahrungen mit zahlreichen Diagnosen, darunter Asperger-Autismus, Hochbegabung und Hochsensibilität. Er betont, dass viele Psychiater das Thema kPTBS/DDNOS/DIS in der Schweiz erst in den letzten Jahren überhaupt berücksichtigen und es kaum spezialisierte Stellen dafür gibt.
Die Schwierigkeit, eine geeignete Traumatherapie zu finden, wird ebenfalls hervorgehoben. Standard-Traumatherapien sind oft nicht ausreichend oder sogar kontraproduktiv, insbesondere bei komplexen Traumafolgestörungen wie DDNOS, bei denen verschiedene Persönlichkeitsanteile existieren.
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Die Kombination von ASS und DDNOS erschwert die Diagnose und Therapie zusätzlich, da es kaum Fachleute gibt, die sich mit beiden Spektren auskennen. Dies führt oft zu einer Vielzahl von Diagnosen, die lediglich Erklärungsversuche darstellen, aber nicht die eigentliche Ursache des Leidens beheben.
Pathological Demand Avoidance (PDA) als mögliche Ursache für Fehldiagnosen
In den letzten Jahren wird zunehmend ein weiteres Konzept berücksichtigt: die Pathological Demand Avoidance (PDA). Kinder mit PDA verhalten sich im Alltag oft sehr ähnlich wie jene mit einer oppositionellen Verhaltensstörung oder einer Störung des Sozialverhaltens, sodass sie häufig solche Diagnosen erhalten.
Pathological Demand Avoidance wird derzeit nicht als eigenständige Diagnose anerkannt, sondern vielmehr als ein spezifisches Verhaltensprofil definiert. Es ist hauptsächlich durch eine extreme und pathologische Ablehnung von Anforderungen charakterisiert.
Die Auffassung, dass PDA und Autismus zusammengehören, wird in der Forschung kontrovers diskutiert, aber von vielen Praktikerinnen, die sich mit PDA befassen, geteilt.
Kinder mit PDA beschreiben ein Gefühl intensiver Angst, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet oder sie mit einer Anforderung konfrontiert werden. Im Gegensatz zu Kindern mit oppositionellem Trotzverhalten lehnen sich Kinder mit PDA-Verhalten nicht nur gegen Autoritäten auf, sondern verweigern schlicht und einfach jedwede Anforderung.
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Damit ist praktisch jede Handlung gemeint, die mit einem «Muss» oder «Sollte» verbunden ist. Es kann sich dabei um Aufforderungen oder Bitten handeln, die andere Personen äußern, gesellschaftliche Anforderungen, aber auch ganz alltägliche Aufgaben wie Aufstehen, Anziehen oder Zähneputzen bis hin zu den Grundbedürfnissen, sodass manche Betroffene beispielsweise kaum in der Lage sind, genug zu essen, zu trinken oder sich um die Hygiene zu kümmern.
Während sich viele Kinder gegen Anforderungen wehren und beispielsweise ungern Zähne putzen oder am Morgen erst nach mehrmaliger Aufforderung aufstehen, ist das Vermeidungsverhalten bei Kindern mit PDA extrem übersteigert.
Zunächst setzen betroffene Kinder meist eher Vermeidungsverhalten ein, das sozial noch angemessen erscheint: Sie versuchen abzulenken, Erwachsene in ein Gespräch zu verwickeln oder beginnen vor sich hinzuträumen. Besteht das Gegenüber auf der Aufgabe, wird der Widerstand der Kinder extremer: Sie laufen weg, schreien, schlagen um sich oder verletzen sich sogar.
Gleichzeitig neigen betroffene Kinder dazu, andere zu kontrollieren. Sie möchten bestimmen, wer was tut, wer wo sitzt oder was isst. Viele Betroffene beschreiben ein Gefühl intensiver Angst, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet oder sie mit einer Anforderung konfrontiert werden. Diese Angst kann sich bis zu einem Panikanfall oder psychischen Zusammenbruch steigern.
Herausforderungen für Eltern und Erziehungsstrategien
Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen stehen unter extremem Druck und durchleben oft einen langen Leidensweg. Viele der üblichen Erziehungsstrategien versagen bei ihren Kindern. Fast immer wird den Eltern unterstellt, ihr Kind gar nicht, zu wenig oder falsch zu erziehen.
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So scheinen Betroffene gerade nicht - wie oft empfohlen - von viel Struktur, Ritualen und klaren Regeln zu profitieren, sondern von elterlicher Begleitung, die als Low-Demand-Erziehungsstil bezeichnet wird.
Dieser Erziehungsstil bedeutet nicht, dass man gar keine Anforderungen mehr an das Kind stellt. Kinder mit PDA-Verhalten profitieren zudem, wenn Anforderungen eher ausgehandelt oder mehrere Alternativen angeboten werden («Du könntest diese Hose oder diese hier anziehen») und unliebsame Aufgaben gemeinsam erledigt werden.
Die Bedeutung einer richtigen Diagnose und Therapie
Trotz der Herausforderungen ist es wichtig, nicht aufzugeben und nach einer zutreffenden Diagnose und geeigneten Therapie zu suchen. Eine richtige Diagnose ist der erste Schritt zur richtigen Therapie.
Auch wenn eine vollständige Heilung möglicherweise nicht immer erreichbar ist, kann eine angemessene Behandlung dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern und einigermaßen im Alltag zurechtzukommen.
Die Suche nach einem Coach oder Therapeuten, der sich sowohl mit ASS als auch mit komplexen Traumafolgestörungen auskennt, kann dabei hilfreich sein. Ebenso wichtig ist es, ein unterstützendes Umfeld zu finden, das Verständnis und Akzeptanz bietet.
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