Erinnerungssplitter aus einem ganzen Leben, aus denen eine kleine psychologische Aufarbeitung mit rotem Faden aus frühester schwieriger Kindheit mit allen Auswirkungen bis ins hohe Alter geworden ist.
Diese Niederschrift habe ich im Winter 2020/21 begonnen mit der Hoffnung, mich von den verstörenden Ereignissen dieser Welt distanzieren und gleichzeitig meine nächtlichen Gespenster auf Papier bannen zu können.
Übergriffe und ihre Folgen
Ich bin überzeugt, dass nicht eine einzige Frau dieser Welt nie irgendwann sexuell belästigt wird. Selber erinnere ich mich an die verschiedensten Episoden in meiner Vergangenheit:
- Damals als wir mit unserer Mutter die Weihnachtsausstellung in den Schaufenstern beim Jelmoli bewunderten und sich ein Mann in der Menge von hinten an mich heranmachte.
 - Damals im Winter als ein Mann meine Schwester und mich vom Bahnhof her in der Dunkelheit verfolgte, obszöne Sprüche von sich gab und unter seinem Mantel nestelte, ich voller Angst einen Sturmschritt anschlug, dem meine Schwester kaum folgen konnte, wir nach Hause liefen und im letzten Moment - kurz vor einem unbeleuchteten Weg - in unsere Wohnung abbiegen konnten: mein Sturmläuten an der Haustür hat unsere Eltern aufgeschreckt, meine Panik war offensichtlich, sie haben zusammen von Polizei gesprochen, aber erkannt, dass der Unhold schnell über alle Berge verschwunden ist, mein Vater hat uns empfohlen, in einem solchen Fall im nächsten Wirtshaus Schutz zu suchen, mir war, meine kleine Schwester habe das alles gar nicht richtig kapiert, sie hat sich beklagt, dass sie den ganzen Weg rennen musste.
 - Damals als mir von der Schule kommend von weitem ein Mann sofort ins Auge stach, der mir auf fast menschenleerer Strasse auf der Gegenseite entgegenkam, ich meinen Impuls, einen anderen Weg einzuschlagen, wegschob, er sogleich auf meine Seite wechselte und auf meiner Höhe mir prompt irgendwelche Obszönitäten zuraunte, die ich nicht mal richtig verstand, mich aber total verklemmt und verängstigt weiterlaufen liessen.
 - Damals als im Zugabteil einer sich von der Seite an mich heranmachte, ich mich so abdrehte, dass er es schliesslich auf der Gegenseite bei meiner Schwester versuchte, ich sie scharf fixierte, worauf sie zu mir herüberwechselte, beim Aussteigen dann einzig mein bitterböser Blick zurück auf den Mann, der uns nachschaute.
 - Damals als mein Vater im Lungensanatorium Clavadel kurte und meine Mutter, meine Schwester und ich uns im Spital auf TBC kontrollieren lassen mussten, ich in einen stockdunklen Raum eintreten musste, niemanden sah, aber jemand wortlos meine nackten, bereits gut entwickelten Brüste drückte und knetete, ich beschämt wieder hinausgehen durfte, mich an keinen weiteren Untersuch erinnere, wie ich das verwirrte Gesicht meiner Mutter nach ihrem Untersuch beobachtete, sie uns hingegen nicht weiter beachtete: Glaubte sie wohl, nur sie hätte das erlebt? Aus dem Gesicht meiner jüngeren Schwester konnte ich nichts ablesen.
 - Damals, viele Jahre später beim ausgebuchten Rockkonzert in Montreux der Mann hinter mir - welcher? alle schauten in der mitrockenden Masse ganz unschuldig nach vorne - der versuchte, sich an mir zu reiben, ich mich abdrehen musste, der mir das tolle Konzert von Bob Dylan trotzdem nur fast versauen konnte.
 
Jeder Übergriff, auch wenn er harmlos erscheint, hinterlässt jedoch das Gefühl der Erniedrigung, des Ausgenützt seins, der Scham und auch Mitschuld (weil man sich nicht gewehrt hat).
Ein besonders verstörender Fall
An den aus heutiger Sicht gravierendsten Fall erinnere ich mich nur wegen der kleinen silbernen Pfeffermühle, mit der ich als Kleinkind so gerne gespielt hätte. Nie durfte ich sie aus der Vitrine nehmen, an diesem Tag jedoch schon, mein elf Jahre älterer Bruder erlaubte es mir. Dann erinnere ich mich nur noch verschwommen, wie ich nackt auf dessen nackter Brust lag und endlich mit der kleinen Pfeffermühle spielen durfte, schwach erinnere ich mich an sein komisches Verhalten, das mich störte und irritierte, der Rest ist versunken. Ob es da vorher oder nachher noch andere ähnliche Vorkommnisse mit ihm gab, weiss ich nicht, ich erinnere mich nicht.
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Verbale Übergriffe
Es gibt auch verbale Egoismen, die nicht sexuell motiviert sind. So entsinne ich mich an jenen Vorfall bei der Arbeit im Büro, als mein Mitarbeiter - Buchhalter und rechte Hand des Chefs - sich bei mir lang und breit und sehr ausführlich über die aus seiner Sicht ungerechtfertigte und lautstarke Massregelung seines Chefs beklagte. Schliesslich sagte er: Jetzt ist mir wieder wohler, stand auf und verschwand aus meinem Büro. Völlig konsterniert sass ich auf meinem Stuhl und fühlte mich beschmutzt wie eine dreckige Türvorlage: seinen ganzen Frust hatte er auf mich abgewälzt, ich hatte nicht ein einziges Wort zu seinen Vorwürfen beigetragen.
Kindheit und ihre Auswirkungen
Beim Erinnern an meine Kindheit steigt das Gefühl des Verlassen-seins, des Im-Stich-Gelassen-seins, des Allein-seins auf. Unsere Mutter musste jeden Tag zur Arbeit in die Fabrik, damit der Zahltag am Ende des Monats einigermassen reichte. Allerdings hat sie damit vor allem die Trinkerei ihres Mannes - unseres Vaters - unterstützt.
Kurz nach unserer Geburt wurden wir in die Krippe gesteckt, bis ich etwa vier Jahre alt war. Wie meine Mutter später erzählte, hat ihr das jeweils fast das Herz gebrochen, sie habe uns beim Weggehen von der Krippe noch auf der Strasse weinen hören. Sicher kann ich ihren Schmerz gut nachvollziehen, aber uns hat es natürlich noch mehr geschadet. Hätte es denn keine bessere Lösung gegeben?
Die Tage meiner Mutter waren voller Arbeit und Stress: Am Morgen uns Kleinkinder wecken, bereit machen und in die Kinderkrippe bringen, bis wir drei/vier Jahr alt waren; dann den ganzen Tag Akkordarbeit in der Näherei in der Fabrik; über Mittag manchmal noch schnell zum Einkaufen in die Migros, das Mittagessen herzaubern, kurz nach Zwölf kam mein Vater zum Essen nach Hause, zwanzig Minuten später eilte er bereits wieder auf den Zug. Diesen Stress hat sie auf sich genommen, um sicher zu sein, dass er über Mittag gegessen und nicht nur getrunken hat. Am Abend haushalten und auf den Ehemann warten, der meistens sehr spät und immer betrunken, oft torkelnd auftauchte, um ihm dann noch ein Abendessen aufzutischen. Schlimm war auch, dass er Ende Monat immer erst auf einer Beizenrunde seine Schulden abzahlen musste.
Gesellschaftliches Bewusstsein und Sensibilisierung
Hoffentlich ändert sich mit den heutigen Diskussionen das Bewusstsein für dieses Thema, sensibilisiert die Gesellschaft, erhellt die Hintergründe der Machtstrukturen und macht sie durchschaubar.
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Viele Frauen der jüngeren Generation sind heute selbstbewusst und aktiv unterwegs, schreiben sogenannte Catcalls mit Kreide auf die Strassen. So wird das Thema der verbalen Übergriffe auch für jene sichtbar, Männer und Frauen, die davon noch nie betroffen waren. Seit 2019 gibt's in der Westschweiz die App "Eyes Up", wo Übergriffe anonym registriert werden können.
Überlegt sich die Schule, was für ein Frauen- und Gesellschaftsbild sie ihren Schülern vermittelt? Fördert sie das Bewusstsein für Grenzüberschreitungen? Auch Politik und Gesetzgeber müssen Missbräuche ohne Wenn und Aber anerkennen und ahnden. Nur so wird sich das Bewusstsein in der Bevölkerung längerfristig verändern.
Selbstvertrauen und Verteidigung
Erst mal muss sich Selbstvertrauen entwickeln können, um sich selber wehren zu können, und das fehlte mir. Um die Selbstsicherheit, mit der sich andere Junge gewehrt haben, habe ich sie heftig beneidet und sie dafür bewundert. Trotzdem: wenn es eng wurde für mich, habe auch ich mich instinktiv wütend verteidigt, ich hoffe, das ist in jedem Menschen verankert.
Offen und selbstsicher kann ein junger Mensch wahrscheinlich nur werden, wenn mit ihm als Kind in einer intakten Familie ehrlich und vertrauensvoll über alle Themen ohne Tabus gesprochen wird.
Leider ist in unserer Familie nicht über Alltägliches hinaus mit uns gesprochen worden, und da sind wir sicher keine Ausnahmefamilie gewesen.
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