Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen der höchsten Anteile an psychiatrischen Zwangseinweisungen: Fast ein Viertel aller Psychiatrie-Patientinnen und Patienten in der Schweiz werden laut einer Untersuchung aus dem Jahre 2009 unfreiwillig hospitalisiert.
Fürsorgerische Unterbringung (FU)
Gemäss Art. 426 Abs. 1 des Zivilgesetzbuches (ZGB) darf eine Person, die an einer psychischen Störung, an einer geistigen Behinderung oder unter schwerer Verwahrlosung leidet, gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, sofern die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders sichergestellt werden kann. Diese Massnahme wird seit Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechts am 1. Januar 2013 als «fürsorgerische Unterbringung» (FU) bezeichnet.
Die fürsorgerische Unterbringung bedeutet für Betroffene einen massiven Eingriff in ihre verfassungsmässig garantierte persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV): Einerseits wird Betroffenen - wie bei jedem Freiheitsentzug - das Recht, ihren persönlichen Aufenthalt selbst bestimmen zu können, entzogen und andererseits sind mit einer Einweisung oft auch weitere Zwangsmassnahmen wie die unfreiwillige Medikation verbunden.
Voraussetzungen für eine FU
Während die ersten beiden Voraussetzungen für eine FU, nämlich die in der Fachliteratur als «Schwächezustände» bezeichnete psychischen Störung (inkl. Suchterkrankung) und geistige Behinderung einem medizinischen Verständnis folgen, handelt es sich bei der schweren Verwahrlosung um einen auslegungsbedürftigen und umstrittenen juristischen Begriff. Das Bundesgericht umschreibt die schwere Verwahrlosung als Zustand, der mit der Menschenwürde schlechterdings nicht mehr zu vereinbaren ist. Dabei genüge es nicht, dass die betroffene Person in unhygienischen Verhältnissen lebt oder keinen festen Wohnsitz hat.
Als weitere Voraussetzung muss die FU verhältnismässig sein. Die FU muss also geeignet sein, eine Besserung des Schwächezustands der betroffenen Person herbeizuführen. Sodann muss die FU das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellen. Dies bedeutet, dass eine FU immer nur als ultima ratio angeordnet werden darf. Schliesslich muss angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs insbesondere der Zumutbarkeit des Eingriffs für die Betroffenen grosse Beachtung geschenkt werden.
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Demnach sollen nur schwerwiegende oder besonders akute Situationen von Fremd- oder Eigengefährdung eine Einweisung gegen den Willen der betroffenen Person rechtfertigen können. Beispielsweise könnte ein unter Schizophrenie leidender Mann, der im Wahn seine Frau mit einem Messer bedroht, aufgrund von akuter Fremdgefährdung fürsorgerisch untergebracht werden. Erleidet eine Frau aufgrund ihrer Spielsucht dramatische Geldverluste, nimmt in der Folge zahlreiche verschreibungspflichtige Medikamente ein und droht sich umzubringen, wäre eine fürsorgerische Unterbringung wegen Selbstgefährdung wohl auch in diesem Fall angezeigt.
Schliesslich muss es sich um eine geeignete Einrichtung handeln. Der Begriff der Einrichtung wird relativ weit verstanden. Neben psychiatrischen Anstalten sind auch Alters- und Pflegeeinrichtungen ohne geschlossene Abteilungen darunter zu subsumieren. Das Bundesgericht entschied, dass nicht zuletzt aufgrund der stigmatisierenden Wirkung eine Strafanstalt nur in Ausnahmefällen, namentlich in besonderen Gefährdungssituationen, als geeignete Anstalt in Frage kommt.
Beispielsweise verneinte das Bundesgericht im Falle eines damals noch per FFE eingewiesenen Drogensüchtigen, der gegenüber dem Personal der psychiatrischen Klinik wiederholt massive Drohungen ausgestossen hatte, eine derartige besondere Gefährdungssituation. Immerhin sei der Beschwerdeführer weder gewalttätig geworden noch gebe es Anhaltspunkte dafür, dass er zu gewalttätigem Verhalten neige. Eine psychiatrische Klinik wie im geschilderten Fall verfüge sicherlich über die Möglichkeiten, auch schwierige und renitente Patienten geeignet unterzubringen und zu behandeln.
In der Schweiz lag nach altem Recht die ordentliche Zuständigkeit zur Einweisung bei den Vormundschaftsbehörden. Den Kantonen wurde jedoch das Recht eingeräumt, die Anordnungsbefugnis an weitere geeignete Stellen zu delegieren. Die grosse Mehrheit der Kantone hat von diesem Recht Gebrauch gemacht und die Einweisungskompetenz auf einen mehr oder weniger breit gefassten Kreis von Ärztinnen und Ärzten ausgedehnt.
Der bundesrätliche Entwurf zur Revision des Erwachsenenschutzrechtes sah noch vor, dass ausser der zuständigen Erwachsenenschutzbehörden nur vom Kanton mandatierte «geeignete» Ärztinnen und Ärzte (sprich: psychiatrische Fachärzte/-innen) zur Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung berechtigt sein sollen. Das Parlament hat dies jedoch wieder verworfen. So haben sich die Einweisungsvoraussetzungen denn auch kaum verändert; neu ist einzig, dass nach geltendem Recht die ärztliche Einweisung längstens sechs Wochen andauern darf, wobei die Kantone kürzere Fristen vorsehen können. Nach Ablauf dieser Frist ist gemäss Art. 429 Abs.
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Zwangsbehandlung
In den alten gesetzlichen Bestimmungen für den FFE erblickte das Bundesgericht keine genügende gesetzliche Grundlage für eine Zwangsbehandlung. Die Schliessung dieser juristischen Lücke durch die Schaffung von Art. 434 und Art.
Als erstes gilt festzuhalten, dass Behandlungen im Sinne von Art. 434 und Art. 435 ZGB wie die Zwangsmedikation nur während einer FU zulässig sind. Die Möglichkeit der Zwangsbehandlung stellt demnach die logische Konsequenz des Einweisungsentscheids dar. Es ist aber gestützt auf andere Gesetze im formellen Sinn (im Kanton Zürich beispielsweise gestützt auf das sog. «kantonale Gesundheitsgesetz») und unter Umständen gestützt auf die sog.
Art. 434 Abs. 1 ZGB sieht vor, dass eine Zwangsbehandlung ausschliesslich im Rahmen der im Behandlungsplan vorgesehenen medizinischen Massnahmen möglich sein soll. Derartige medizinische Massnahmen dürfen bloss zwangsweise durchgesetzt werden, wenn sie von der Chefärztin/dem Chefarzt der Abteilung schriftlich angeordnet und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden. Darüber hinaus muss der eingewiesenen Person ohne Behandlung ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden drohen (Selbstgefährdung) oder sie muss eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter darstellen (Fremdgefährdung). Zusätzlich müssen Betroffene bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit (z.B. aufgrund einer durch die psychische Erkrankung oder Sucht hervorgerufene Bewusstseinsstörung, Demenz oder schwerem Intelligenzmangel) urteilsunfähig sein. Im Übrigen müssen Zwangsbehandlungen stets dem aktuellsten Stand der Wissenschaft entsprechen.
Wissenschaftlich umstrittene Massnahmen kommen genauso wenig in Frage wie Behandlungsformen mit dauerhaft schädigenden Nebenwirkungen (z.B. Dagegen umschreibt Art. 435 ZGB die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung in medizinischen Notfallsituationen. Gemäss Art. 435 Abs. 1 ZGB dürfen in Notfällen die zum Schutz der betroffenen Person oder dritter unerlässlichen medizinischen Massnahmen sofort ergriffen werden. Als medizinischen Notfall werden akute, lebensbedrohliche Zustände bezeichnet. Unter unerlässlichen Massnahmen werden die in der vorliegenden Situation indizierten und unaufschiebbaren medizinischen Handlungen verstanden.
Rechtsschutz und Beschwerdemöglichkeiten
Gemäss Art. 426 Abs. 4 ZGB kann eine zwangseingewiesene oder ihr nahestehende Person jederzeit um Entlassung ersuchen. Über die Entlassung entscheidet laut Art. 428 Abs. 1 ZGB grundsätzlich die Erwachsenenschutzbehörde. Wird das Entlassungsgesuch von ihr abgelehnt, besteht für Betroffene oder ihnen nahestehende Personen die Möglichkeit, diesen Entscheid nach Art. 450 Abs. 1 i.V.m. Art. 450e ZGB gerichtlich anzufechten. Die Erwachsenenschutzbehörde hat aber auch die Möglichkeit, den Entscheid über die Entlassung an die Einrichtung zu delegieren (Art. 428 Abs. 2 ZGB). Auch hier kann gegen die Abweisung des Gesuchs Beschwerde erhoben werden. Dann ist allerdings nach Art. 439 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB vorzugehen. Wird eine FU schliesslich gestützt auf einen ärztlichen Entscheid angeordnet, können Betroffene oder ihnen nahestehenden Personen nach Art. 439 Abs. 1 Ziff.
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Voraussetzung für die Erhebung der Beschwerde ist immer Urteilsfähigkeit. Im Falle der betroffenen Person darf an diese keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Wie bereits erwähnt, sind neben den Betroffenen auch ihnen nahestehende Personen, insbesondere Vertrauenspersonen im Sinne von Art. 432 ZGB zur Beschwerde berechtigt. Als «nahestehend» werden Personen bezeichnet, die kraft ihrer Eigenschaften und aufgrund ihrer verwandtschaftlichen oder familiären Bande als fähig erscheinen, die Interessen der betroffenen Person wahrzunehmen (BGE 114 II 213 E. 3). Weiter können gemäss bundesgerichtlicher Definition indessen nur natürliche Personen als nahestehend gelten. Juristische Personen, wie Vereine beispielsweise, fallen ausser Betracht.
Statistische Aspekte und kantonale Unterschiede
Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurde 2011 eine Studie erstellt, die sich mit der Wirksamkeit des Rechtsschutzes bei psychiatrischen Zwangseinweisungen in der Schweiz befasste. Der Studie ist zu entnehmen, dass die Schweiz im Quervergleich mit 15 EU-Staaten einen der höchsten Anteile an psychiatrischen Zwangseinweisungen aufweist. Die Kompetenz der Kantone, den Ärztekreis enger oder weiter zu definieren, der eine Zwangseinweisung anordnen darf, hat sich als wichtiger Faktor bei der Erklärung der kantonalen Unterschiede bezüglich der Einweisungszahlen herausgestellt. So kommt die BAG Studie zum Schluss, dass in Kantonen, in welchen eine Zwangseinweisung nur von Fachärztinnen und -ärzten angeordnet werden darf, die Einweisungszahlen erheblich tiefer sind.
Zum Vergleich: Im Kanton Zürich dürfen alle Ärztinnen und Ärzte mit einer Praxisbewilligung unabhängig von ihrem psychiatrischen Wissen oder ihrer beruflichen Erfahrung eine FU anordnen.
Qualität von Einweisungszeugnissen und Rechtsbeistand
In der BAG Studie zu Rate gezogene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Qualität von ärztlichen Einweisungszeugnissen in der Vergangenheit sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht nicht zu überzeugen vermochte. Die Zeugnisse von Psychiaterinnen und Psychiatern schnitten deutlich besser ab als diejenigen, die nicht von Fachärztinnen und Fachärzten ausgestellt wurden. Dies ist umso problematischer, als dass in der Schweiz die grosse Mehrheit der Einweisungsentscheide auf ärztlichen Gutachten basieren. Trotz diesen Erkenntnissen hat sich das Parlament dagegen entschieden, nur Ärztinnen und Ärzte mit genügendem Fachwissen die Einweisungsbefugnis zu erteilen.
Ein weiterer Faktor für die Unterschiede zwischen den Staaten ist die Regelung, ob im Falle einer Zwangseinweisung obligatorisch ein Beistand (z.B. Anwalt/-in, Sozialarbeiter/in) ernannt werden muss. Die Erwachsenenschutzrevision hat nicht dazu geführt, dass Betroffenen obligatorisch ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt wird; nichtsdestotrotz sieht das geltende Recht aber in Art. 432 ZGB die Möglichkeit des Beizugs einer Vertrauensperson vor.
Problematisch ist wie gesagt, dass Betroffene aus ihrem sozialen Umfeld oftmals keine geeignete Person kennen oder verpflichten können. Aus diesem Grund wird in der Studie des BAG die Einführung von unabhängigen kantonalen Begleitungs- und Beratungsdiensten für untergebrachte Personen empfohlen. So wurde im Kanton Tessin die «Stiftung Pro Mente Sana» mit dieser Aufgabe betraut. Ihre Haupttätigkeit besteht darin, fürsorgerisch untergebrachte Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige situationsgerecht zu beraten und direkt mit den Einrichtungen und den kantonalen Institutionen zusammenzuarbeiten.
Zusammenfassung der Verbesserungen durch die Revision des Erwachsenenschutzrechts
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch die Revision des Erwachsenenschutzrechts einige Besserungen in Bezug auf den Rechtschutz erzielt werden konnten (Vereinheitlichung und Ausbau der Beschwerdemöglichkeiten, Interdisziplinarität/Professionalität der einweisungsbefugten Erwachsenenschutzbehörde, Beschränkung der ärztlichen Einweisungsdauer auf 6 Wochen etc.). Gemäss dieser Analyse stellen die im ZGB statuierten Voraussetzungen und das im Gesetz beschriebene Verfahren eine genügende rechtliche Grundlage dar: Die Einweisungsvoraussetzungen sind so klar und abschliessend geregelt, dass eine FU für Betroffene im konkreten Fall vorhersehbar ist. Art. 426 ff. ZGB entspricht demnach den Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK. Zudem ist aufgrund der jederzeitigen Möglichkeit, ein Entlassungsgesuch zu stellen und bei dessen Abweisung Beschwerde bei einer gerichtlichen Instanz zu erheben, auch die in Art. 5 Abs. 4 EMRK vorgeschriebene gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit eingehalten. Das Verhältnismässigkeitserfordernis von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK schliesslich wird durch die Formulierung «wenn die nötige Behandlung nicht anders erfolgen kann» in Art. 426 Abs.
Aus EMRK Sicht heikel ist jedoch die Tatsache, dass eine FU nicht zwingend nach einer medizinischen Untersuchung erfolgen muss. Entscheidet die Erwachsenenschutzbehörde nach Art. 428 Abs. 1 ZGB über eine Einweisung, liegt es gemäss Art. 446 Abs. 2 ZGB in ihrem Ermessen, das Gutachten einer sachverständigen Person heranzuziehen. Die Zwangsbehandlung nach Art. 434 und Art. 435 ZGB entspricht den Anforderungen von Art. 3 und Art. 8 EMRK: So genügen die Bestimmungen im ZGB dem Erfordernis des Nachweises der Notwendigkeit der Zwangsbehandlung, indem eine derartige Massnahme nur auf Geheiss der Chefärztin/des Chefarztes der Abteilung angeordnet werden darf und der betroffenen Person ohne Behandlung ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet ist. Weiter erfüllen die Bestimmungen des ZGBs zur Zwangsbehandlung die Vorgaben nach Art.
Richtlinien der SAMW
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat 2015 komplett überarbeitete Richtlinien über Zwangsmassnahmen in der Medizin veröffentlicht. Die Richtlinien orientieren sich an folgenden Grundsätzen: Respektierung der Selbstbestimmung, Subsidiarität und Verhältnismässigkeit, ein geeignetes Umfeld sowie Kommunikation und Dokumentation. Weiter bieten sie eine Hilfestellung bei der Umsetzung der Richtlinien, hinsichtlich des Entscheidungsprozesses, der Einweisung und ...
Psychische Erkrankungen als Behinderung
Trotz gesetzlicher Gleichstellungsrechte stossen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Schweiz im Alltag häufig auf rechtliche Hürden und Schutzlücken. Während psychische Beeinträchtigungen rechtlich als Behinderungen anerkannt sind, mangelt es insbesondere im Strafrecht und im privaten Bereich an wirksamen Durchsetzungsmöglichkeiten. Der effektive Diskriminierungsschutz bleibt damit oft Theorie - mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen.Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben Anspruch auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Schutz vor Diskriminierung. Dennoch werden sie im Alltag oft benachteiligt und stossen auf rechtliche Hürden, wenn sie ihre Rechte durchsetzen wollen.
Was ist eine psychische Erkrankung?
Psychische Erkrankungen sind klinisch relevante Störungen, die das Denken, Fühlen oder Verhalten einer Person erheblich beeinträchtigen. Im Unterschied zu kurzzeitigen psychischen Belastungen erfordert eine psychische Erkrankung in der Regel eine Diagnose nach internationalen Klassifikationssystemen wie dem ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) oder dem DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen). Sie umfassen Krankheitsbilder wie Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, bipolare Störungen oder Substanzabhängigkeiten. Eine psychische Störung liegt definitionsgemäss vor, wenn sie zu einer deutlichen Beeinträchtigung wichtiger Funktionsbereiche führt - etwa im sozialen, beruflichen oder familiären Umfeld. Deswegen fallen auch die Autismus-Spektrum-Störung ASS und die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung ADHS unter psychische Erkrankungen.
Rechtliche Einstufung als Behinderung
Die WHO definiert Behinderung als Beeinträchtigung körperlicher Funktionen oder Strukturen infolge eines gesundheitlichen Problems oder Unfalls. Sie schränkt die Fähigkeit ein, alltägliche oder soziale Aktivitäten auszuüben. Behinderung wird dabei nicht nur als medizinisches, sondern auch als soziales Problem verstanden. Sie kann sichtbar oder unsichtbar (wie im Falle psychischer Erkrankungen), vorübergehend oder dauerhaft sowie unterschiedlich ausgeprägt sein. Rechtlich werden psychische Erkrankungen dann als Behinderung eingestuft, wenn sie voraussichtlich langfristig bestehen und die Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich einschränken. Dies ergibt sich sowohl aus der Definition der WHO als auch aus dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK, SR 0.109).Die BRK spricht explizit von «langfristigen seelischen Beeinträchtigungen», die - in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Barrieren - eine gleichberechtigte Teilhabe behindern können (Art. 1 BRK). Die Schweizer Bundesverfassung (BV) schützt ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund einer «körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung» (Art. 8 Abs. 2 BV, SR 101). Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3) definiert Menschen mit Behinderungen als Personen, denen es wegen einer voraussichtlich dauernden körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung erschwert ist, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich auszubilden oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (Art. 2 BehiG).
Schutzlücken im Strafrecht und im privaten Bereich
Strafrechtlich besteht jedoch eine Lücke: Der Diskriminierungstatbestand (Art. 261bis StGB) erfasst psychische Erkrankungen und andere Erkrankungen oder Behinderungen nicht ausdrücklich. Öffentliche Abwertungen bleiben in der Regel straflos, es sei denn, sie erfüllen die Voraussetzungen einer Persönlichkeitsverletzung.Der Staat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, Diskriminierung zu verhindern und auch im privaten Bereich Schutz zu gewährleisten (Art. 35 BV). Das BehiG bietet Schutz bei Diskriminierungen durch Behörden oder konzessionierte Unternehmen, bietet aber im Privatbereich abgesehen von öffentlich angebotenen Dienstleistungen keinen Schutz. So bietet das BehiG im Falle von Diskriminierungen im Arbeitsleben zwischen Privaten keinen Schutz.
Anerkennung als Behinderung im Invalidenversicherungsrecht
In der Schweiz wird eine psychische Erkrankung dann als Behinderung im Sinne des Invalidenversicherungsrechts anerkannt, wenn sie zu einer voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbsunfähigkeit führt. Dabei ist nicht allein die Diagnose entscheidend, sondern insbesondere die funktionelle Auswirkung der Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit. Dies gilt für alle Krankheiten. Im Falle von psychischen Krankheiten ist es besonders schwierig, die funktionellen Auswirkungen glaubhaft zu machen.
Voraussetzungen für die Anerkennung
Für die Anerkennung einer psychischen Erkrankung und anderer Erkrankungen als Behinderung im sozialversicherungsrechtlichen Sinn sind mehrere Voraussetzungen zu erfüllen. Zunächst muss ein medizinisches Substrat vorliegen - das heisst, es muss eine fachärztlich fundiert diagnostizierte psychische Störung mit Krankheitswert bestehen, die über blosse Befindlichkeitsstörungen hinausgeht. Das Bundesgericht hat in BGE 127 V 294 klargestellt, dass psychosoziale Belastungen allein nicht ausreichen; erforderlich ist eine eigenständige psychiatrische Diagnose, wie etwa eine klinisch relevante, anhaltende Depression.
Zudem muss die psychische Erkrankung die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der betroffenen Person in erheblichem Mass beeinträchtigen. Eine blosse Diagnose genügt nicht, wenn daraus keine funktionellen Einschränkungen resultieren. In BGE 142 V 106 wurde hervorgehoben, dass entscheidend ist, ob der versicherten Person aufgrund ihres Leidens eine (teilweise oder vollständige) Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar ist.Weiter ist eine klare Abgrenzung zu psychosozialen Faktoren notwendig. Belastungen wie familiäre Konflikte oder Arbeitslosigkeit begründen für sich genommen keine Invalidität. Sie können jedoch berücksichtigt werden, wenn sie eine eigenständige psychische Erkrankung auslösen oder deren Auswirkungen verstärken.
Strukturiertes Beweisverfahren
Schliesslich erfolgt die Beurteilung psychischer Erkrankungen seit BGE 141 V 281 im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens. Dabei werden die funktionellen Auswirkungen anhand standardisierter Indikatoren geprüft, wobei insbesondere Wert auf die Objektivierbarkeit und Konsistenz der festgestellten Einschränkungen gelegt wird. Diese Indikatoren werden in zwei Gruppen unterteilt: Erstens der funktionelle Schweregrad, der etwa durch eine therapieresistente Depression, chronifizierte Beschwerden, fehlende soziale Einbindung oder zusätzliche psychische Störungen (Komorbiditäten) belegt werden kann. Zweitens wird die Konsistenz der Einschränkungen geprüft, also ob die geschilderten Beeinträchtigungen mit dem tatsächlichen Verhalten übereinstimmen. Beispielsweise spricht für Konsistenz, wenn Betroffene weder im Alltag noch in der Freizeit aktiv sind, mehrere Eingliederungsversuche gescheitert sind und die Anamnese einen anhaltenden Leidensdruck zeigt.
Politische Entwicklungen und Initiativen
In der Schweiz leben rund 1.9 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Politisch gewinnt die Thematik von psychischen Erkrankungen an Aufmerksamkeit: So hat der Bundesrat eine Strategie zur Behindertenpolitik 2023-2026 verabschiedet, welche eine Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) vorschlägt, um den Schutz von Menschen mit Behinderungen im Erwerbsleben zu stärken und Private zur Schaffung barrierefreier Dienstleistungen zu verpflichten. Zudem prüft der Bundesrat gesetzliche Massnahmen zur Förderung der gesellschaftlichen und öffentlichen Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Die Inklusionsinitiative des Vereins für eine inklusive Schweiz schlägt eine Änderung von Art. 8 BV vor, um einen Anspruch auf Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen sowie auf selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Behinderungen zu verankern.
Fazit
Trotz der formellen Gleichstellung psychischer Beeinträchtigungen mit körperlichen Behinderungen bestehen in der Schweiz nach wie vor erhebliche Hürden für deren rechtliche Anerkennung und effektive Durchsetzung von Rechten. Zwar bieten Verfassung, Behindertengleichstellungsgesetz und internationale Konventionen wie die UN-BRK einen grundlegenden rechtlichen Rahmen, doch fehlt es in der Praxis an klaren Durchsetzungsmechanismen, insbesondere im Strafrecht und in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Die Anerkennung im sozialversicherungsrechtlichen Kontext (z.B. IV-Leistungen) ist besonders restriktiv: Sie erfordert nicht nur eine fachärztlich diagnostizierte Störung, sondern auch den Nachweis erheblicher funktioneller Einschränkungen, die objektivierbar und konsistent sein müssen. Belastungen rein psychosozialer Natur reichen nicht aus. Diese Schutzlücken zeigen, dass die bestehenden gesetzlichen Normen allein nicht genügen - es braucht eine konsequentere Umsetzung und Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Damit angesprochen sind auch die von der BRK erwähnten gesellschaftlichen Barrieren, die eine gleichberechtigte Teilhabe behindern können (Art. 1 BRK), also Umweltfaktoren, die die Integration erschweren.
Tabelle: Voraussetzungen für die Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Behinderung im Sozialversicherungsrecht
| Voraussetzung | Bedeutung | 
|---|---|
| Medizinisches Substrat | Fachärztlich diagnostizierte psychische Störung mit Krankheitswert | 
| Erhebliche Beeinträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit | Funktionelle Einschränkungen müssen die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit in Frage stellen | 
| Abgrenzung zu psychosozialen Faktoren | Psychosoziale Belastungen allein reichen nicht aus, können aber Auswirkungen verstärken | 
| Strukturiertes Beweisverfahren | Objektivierbare und konsistente funktionelle Einschränkungen müssen nachgewiesen werden | 
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