Es wurde wohl noch nie so viel über Autismus gesprochen wie heute. Die Autismus-Diagnosen bei Kindern nehmen zu. Doch steckt dahinter eine tatsächliche Zunahme von Betroffenen - oder einfach ein besseres Verständnis für das Phänomen? Das zeigt sich auch an den Diagnosen: Im vergangenen Jahr haben in der Schweiz über 12’000 Kinder und Jugendliche wegen einer Autismus-Spektrum-Störung Geld der Invalidenversicherung (IV) erhalten. Das sind dreieinhalbmal so viele wie 2015. Die Zahl der Minderjährigen, die deswegen eine Hilflosenentschädigung erhalten, ist sogar um über das Fünffache gestiegen.
Der Bund lanciert deswegen ein neues Forschungsprojekt, um die Lebensläufe und Unterstützungsmassnahmen von betroffenen Kindern und Jugendlichen systematisch zu analysieren und dadurch die Basis für eine gezieltere Förderung zu schaffen. Mit gezielter Unterstützung können viele Autistinnen und Autisten am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Vielleicht sitzt neu ein autistisches Kind in der Klasse deiner Kinder? Dann solltest du Folgendes wissen - denn es gibt noch immer viele Mythen und falsche Vorstellungen über Autismus.
Was ist Autismus?
Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung des Gehirns. Meist wird er in der Kindheit diagnostiziert, manchmal aber erst im Erwachsenenalter. Autistische Menschen nehmen ihre Umwelt anders wahr. Sie haben oft Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und im Erkennen nonverbaler Signale. Gleichzeitig sind sie detailorientiert, schätzen klare Strukturen und entwickeln häufig Spezialinteressen, die sie intensiv verfolgen. Veränderungen können sie belasten, viele reagieren zudem besonders empfindlich oder unempfindlich auf Reize.
Autismus gilt als Spektrum, weil die Ausprägungen stark variieren: Manche brauchen viel Unterstützung im Alltag, andere kaum. Einige sprechen nicht, andere sehr gut. Hochfunktionaler Autismus - früher Asperger genannt - geht mit sozialen Schwierigkeiten einher, jedoch ohne Intelligenzminderung oder verzögerte Sprachentwicklung.
Ist Autismus vererbbar?
Ja: Eineiige Zwillinge sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 bis 95 Prozent beide autistisch, wenn es einer davon ist. Und das Erkrankungsrisiko ist bei Geschwistern von Patienten 50- bis 100-mal höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Doch man geht davon aus, dass 6 bis 10 Gene an der Störung beteiligt sind, die Vererbung ist daher komplex.
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Was beeinflusst sonst noch das Risiko für Autismus?
Es gibt verschiedene zusätzliche Risikofaktoren, die ermittelt wurden, aber oft ist nicht klar, wie gross ihre Rolle ist. Sie betreffen alle die Zeit vor der Geburt, wenn das Gehirn des Kindes noch am Entstehen ist. Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft das antiepileptische Medikament Valproinsäure nehmen mussten, haben ein erhöhtes Risiko für Autismus.
Weitere Risikofaktoren sind: ein hohes Alter des Vaters oder der Mutter, eine schwere Infektion der Mutter während der Schwangerschaft, Diabetes der Mutter und ein Abstand zur letzten Schwangerschaft von weniger als einem Jahr sowie hohe Luftverschmutzung in der Umgebung der Mutter. Weiter wird auch das Risiko von Umweltgiften wie Pestiziden, Phthalaten oder beispielsweise Lithium diskutiert.
Mehrfach widerlegt ist die Befürchtung, dass Impfungen Autismus verursachen könnten. Die bei Impfungen verabreichten Mengen an Zusatzstoffen sind dazu zu klein und die Gehirne der Kinder nicht mehr so fundamental vulnerabel wie im Mutterbauch.
Die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die Autismus-Spektrum-Störung auslösen.
Experten kennen mittlerweile ganz unterschiedliche genetische Risikofaktoren für Autismus-Spektrum-Störungen wie Frühkindlichen Autismus. Dabei handelt es sich zum Beispiel um:
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- Veränderungen (Mutationen) in einzelnen Genen oder in mehrere Genen
 - fehlende oder zusätzlich vorhandene winzige Erbgut-Abschnitte (Mikrodeletionen und Mikroduplikationen)
 - eine abweichende Struktur oder Anzahl der Chromosomen (Chromosomenaberrationen)
 
Beispielsweise fanden Forscher des Children's Hospital of Philadelphia in einer Studie mit mehr als 10.000 Probanden heraus, dass eine einzelne genetische Variante bei 65 Prozent der autistischen Teilnehmer vorkam. Dieser Genabschnitt zwischen den Genen CDH10 und CDH9 spielt bei der Verknüpfung von Nervenzellen im Gehirn eine Rolle. Etwa 15 Prozent der Fälle von Autismus könnten auf das Vorhandensein dieser Genvariante zurückzuführen sein, vermuten die Forscher.
Die genetischen Risikofaktoren, die Autismus-Spektrum-Störungen zugrunde liegen, können von den Eltern vererbt oder neu entstanden sein (in den Keimzellen: Ei- und Samenzellen). Die Vererbbarkeit von Autismus-Spektrum-Störungen liegt bei ungefähr 40 bis 80 Prozent. Das zeigen neuere Zwillings- und Familienstudien. Bei Eltern, die ein Kind mit einer solchen Störung haben, ist im Allgemeinen mit einer 10- bis 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit auch ein weiteres Kind betroffen. Dieses Wiederholungsrisiko steigt auf über 30 Prozent, wenn Eltern bereits zwei Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben.
Je nach den zugrunde liegenden genetischen Risikofaktoren kann das Wiederholungsrisiko bei Autismus-Spektrum-Störungen im Einzelfall aber auch viel niedriger ausfallen.
Mit zunehmendem Alter der Eltern steigt verschiedenen Untersuchungen zufolge das Risiko für Autismus-Spektrum-Störungen bei den Kindern. Das liegt unter anderem vermutlich daran, dass es mit höherem Alter häufiger zu spontanen Genveränderungen (Spontanmutationen) kommt.
Vorerkrankungen der Eltern - besonders der Mütter - spielen ebenfalls eine Rolle für das Auftreten von Autismus-Spektrum-Störungen bei den Kindern. Das können sowohl Vorerkrankungen sein, die sich auf körperlicher Ebene (somatisch) manifestieren, wie zum Beispiel Schuppenflechte (Psoriasis). Es können aber auch neurologische und psychiatrische Vorerkrankungen relevant sein, zum Beispiel Depressionen.
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Darüber hinaus sind für Autismus-Spektrum-Störungen wie Frühkindlichen Autismus Risikofaktoren im Zusammenhang mit der Schwangerschaft bekannt. Dazu zählen beispielsweise eine Röteln-Infektion bei Schwangeren sowie die Anwendung verschiedener Medikamente in der Schwangerschaft (z.B. krampflösender Mittel = Antiepileptika).
Frühe Diagnose und Unterstützung
Frühkindlicher Autismus macht sich grundsätzlich schon vor dem dritten Lebensjahr bemerkbar. Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung und kann nicht geheilt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum nicht unterstützt werden können. Autismus ist ein Spektrum, bei dem die Symptome der Betroffenen unterschiedlich ausgeprägt sind.
Das übergeordnete Therapieziel besteht deshalb darin, die Lebensqualität und die Teilhabemöglichkeiten von Betroffenen und ihren Familien zu verbessern. Besonders wichtig ist es, die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Kinder zu verbessern. Auch belastende stereotype und repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten werden angegangen.
Um diese Ziele zu erreichen, setzt sich das individuelle Behandlungskonzept aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Es kann zum Beispiel eine Autismus-spezifische Frühförderung, Logopädie, verhaltenstherapeutische und ergotherapeutische Methoden umfassen.
Psychische und körperliche Begleitsymptome und -erkrankungen sollten ebenfalls angemessen behandelt werden, gegebenenfalls auch mit Medikamenten (z.B. bei begleitender Angststörung oder aggressiven Verhaltensweisen). Wichtig ist auch, das Umfeld mit einzubeziehen. Die Angehörigen profitieren von einer psychosozialen Unterstützung, etwa einer genauen Aufklärung über das Störungsbild bei frühkindlichem Autismus oder einer psychologischen Beratung und Begleitung. Für den Erfolg der Behandlung ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Bezugspersonen des Kindes wie Lehrkräften wesentlich.
Idealerweise beginnt die Behandlung bei frühkindlichem Autismus möglichst früh und zieht sich über einen längeren Zeitraum hin. Sie kann im familiären Umfeld, teilstationär oder vollstationär erfolgen. Experten bevorzugen oftmals den teilstationären Ansatz - eine Mischung aus Therapiemassnahmen, die zu Hause und in spezialisierten Einrichtungen (mit Einzel- und Gruppentherapien) durchgeführt werden.
Die Rolle der Mütter und Familien
Gefordert sind in besonderen Mass die Eltern, aber auch die Geschwister sowie Grosseltern, Freunde und Nachbarn. Ein Kind mit Autismus grosszuziehen, betrifft die gesamte Familie und ihr Umfeld. In einer Familie, besonders wenn noch Geschwisterkinder da sind, geht es um komplexe Verflechtungen feiner zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese werden durch verbale und nonverbale Kommunikation aufgebaut.
Genau hier wird es schwierig mit einem Familienmitglied mit Autismus, denn genau das Verständnis eben dieser Kommunikationsformen ist oftmals beeinträchtigt. Für Geschwister ist es besonders wichtig, das Verhalten des Bruders verstehen und einordnen zu können. Unerwartete Reaktionen können Angst machen, unerfüllte Erwartungen enttäuschen. Hier kommen dann oft unbewusst Schuldgefühle dazu: Was habe ich nur gemacht, dass er plötzlich so schreit?
Eltern sein, ist heute ganz allgemein eine grössere Herausforderung als je zuvor. Wir leben in diesem Nukleus der Kleinfamilie. Beruf, Schule, Freizeit, Paarbeziehung, Eltern-Kindbeziehung. Es bleibt ein Balanceakt. Wir tendieren dann natürlich dazu, uns diesem besonderen Kind vermehrt zu widmen, es zu fördern, es zu unterstützen, seine Probleme aufzuarbeiten, seine Spezialinteressen zu ermöglichen. Wir sind dem selben Fehler aufgesessen, zu glauben, die Geschwister laufen nebenher. Aber auch sie brauchen einen eigenen besonderen Platz, eigene Interessen, Freunde, Aktivitäten.
Autismus: Stärken und Perspektiven
Häufig ist mehrheitlich die Rede von Schwierigkeiten und Problemen, mit denen Menschen mit Autismus im Alltag zu kämpfen haben. Sie haben aber auch viele Stärken. Menschen aus dem autistischen Spektrum sind in der Regel ehrlich und in ihrer Kommunikation offen und direkt. Hintergedanken und Lügen sind ihnen fremd. Menschen mit Autismus nehmen Details überdurchschnittlich ausgeprägt wahr. Anders als ihre Mitmenschen sehen sie Dinge und Situationen erst in ihren Einzelmerkmalen, bevor sie diese als Ganzes erfassen. Spezialinteressen: Menschen mit Autismus entwickeln oft spezielle Interessen und vertiefen diese mit einer aussergewöhnlichen Begeisterung und Ausdauer.
Nicht jedes Kind mit Asperger-Autismus ist hochbegabt, aber was sie eint, ist die Gabe sich auf ihre «Spezialinteressen» zu fokussieren. Wenn sie etwas interessiert, dann beschäftigen sie sich intensiver damit als wir das für gewöhnlich tun. Sie eignen sich unglaubliches Wissen an, beobachten genau, mit einem erstaunlichen Durchhaltevermögen. Das nennt man dann «Spezialinteressen». Hierin sind sie besonders gut. Mein Sohn beschäftigt sich seit er zwei Jahre alt ist mit der Zoologie.
Vielfalt bereichert eine Gesellschaft. Wir sollten uns nicht verstecken, damit Inklusion zur Selbstverständlichkeit wird. Alle sollen dadurch erfahren, dass man selber vielfältig sein darf.
Tabelle: Risikofaktoren für Autismus-Spektrum-Störungen
| Faktor | Beschreibung | 
|---|---|
| Genetische Faktoren | Mutationen in einzelnen oder mehreren Genen, fehlende oder zusätzliche Erbgutabschnitte, Chromosomenaberrationen | 
| Alter der Eltern | Erhöhtes Risiko bei höherem Alter der Eltern | 
| Vorerkrankungen der Eltern | Körperliche, neurologische oder psychiatrische Vorerkrankungen, insbesondere der Mütter | 
| Schwangerschaftsrisiken | Infektionen während der Schwangerschaft (z.B. Röteln), Medikamenteneinnahme (z.B. Antiepileptika) |