Autismus-Diagnose bei Erwachsenen in Niedersachsen: Herausforderungen und Chancen

Stundenlanges Arbeiten im Flow, Kreativität, Blick fürs Detail, logisches Denken und Zuverlässigkeit - autistische Erwachsene haben Arbeitgebenden viel zu bieten. Doch im Zwischenmenschlichen ecken sie oft an.

Das Gefühl, anders zu sein

Das Gefühl, anders zu sein als die anderen, begleitet Stephanie, seit sie sich erinnern kann. Sie bemühte sich als Kind und Jugendliche mit allen Kräften, «normal» zu wirken. Erst ein Burnout im Erwachsenenalter und die darauffolgende Diagnose Autismusspektrumsstörung führten der Art Directorin vor Augen, woher ihr Anderssein rührt.

Autismus und herausforderndes Verhalten

Wissenschaftlich hat sich herausgestellt, dass Autismus und herausforderndes Verhalten häufig korrelieren. Die Auffälligkeit setze sich, so Theunissen, auch im Erwachsenenalter fort.

Wie kann sich herausforderndes Verhalten mit Autismus zeigen?

Wie viele Menschen mit Autismus hat Marco Mühe, Reize zu verarbeiten. Oft fühlt er sich unverstanden oder überfordert. In seiner Ohnmacht wird er wütend und entwickelt dabei grosse Kräfte.

Fallbeispiele und soziale Institutionen

In der Martin Stiftung leben Menschen mit Autismus und herausforderndem Verhalten. Für sie wird es in den nächsten Jahren dank dem Neubau Rütibühl zusätzliche neue Wohnplätze geben. Der 19-jährige Marco kann nicht sprechen, er macht sich durch undefinierbare Laute oder durch lautes Schreien bemerkbar.

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Bei einem dieser Wutanfälle hat Marco seine Zimmertüre so lange und heftig zugeschlagen, bis die Türzarge vollständig demoliert war. Für die vier Mitbewohnerinnen von Marco, die ebenfalls mit Autismus leben, wird die Situation von Tag zu Tag unerträglicher.

Die Martin Stiftung ist eine von wenigen sozialen Institutionen in der Schweiz, die spezialisierte Wohngruppen für Menschen mit Prader-Willi-Syndrom haben. Auch diese Menschen zeigen immer wieder herausforderndes Verhalten.

Der Fall Paul

Der 30-jährige Paul leidet an einem Prader-Willi-Syndrom (PWS), einem genetischen Defekt. Betroffene weisen eine allgemeine Entwicklungsverzögerung auf. Die Regulierung des Appetits und der Umgang mit Frustrationen sind deshalb die zentralen Herausforderungen. Sie benötigen eine klare Tagesstruktur, genaue Abläufe und eine minutiöse Essenskontrolle mit Berechnung der Kalorienmenge.

Paul trat 2016 in die Martin Stiftung ein, in eine für Menschen mit Prader-Willi-Syndrom spezialisierten Wohngruppe. Im Laufe der Zeit kam es zu immer grösseren Eskalationen. Im Kern ging es darum, dass sich Paul im Gefüge der Wohngruppe nicht mehr orientieren konnte. Trotz klarer Strukturen kann nicht alles streng gemeinschaftlich geregelt werden, es bedarf immer wieder individueller, situationsbezogener Ausnahmen, womit Paul nicht umgehen konnte.

Nach einem Spitalaufenthalt fand Paul in keiner Institution mehr einen Platz, sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Kantons Zürich. Der Beistand sah sich gezwungen, Paul in ein Alters- und Pflegeheim einzuweisen. Das Pflegeheim installierte ein Sondersetting mit Einzelbetreuung, das grundsätzlich gut funktionierte. Doch Paul fand immer wieder Schlupflöcher, um seinen unbändigen Hunger zu stillen. Das Resultat: Paul nahm innert kurzer Zeit rund 40 Kilo zu.

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Das Pflegezentrum machte berechtigterweise Druck, eine andere Lösung zu finden, weil ein 30-jähriger Mann mit Behinderung definitiv nicht in ein Alters- und Pflegezentrum gehört. Heute wohnt Paul in einem separaten Studio der Martin Stiftung, welches er nur in Begleitung verlassen darf. Er wird in einer 1:1-Betreuung von Fachpersonen begleitet. Die Situation hat sich dank einem minutiös strukturierten Alltag stabilisiert.

Ursachen für herausforderndes Verhalten

Ein schnelles, hektisches, reizvolles Leben ist der häufige Grund für das herausfordernde Verhalten von Menschen mit Behinderung. Menschen wie Paul oder Marco nehmen die Welt anders wahr und brauchen länger, um Reize zu verarbeiten. Sie reagieren oft überempfindlich auf Lärm, ungewohnte Situationen oder Unvorhergesehenes. Dies führt zu Reaktionen wie Stress, Angst, Ohnmacht oder auch zu Selbst- oder Fremdgefährdung. Aber es kann auch andere Ursachen geben.

Der Demenzexperte André Hennig unterscheidet deshalb zwischen extrinsischen und intrinsischen Verhalten. Neben den schon erwähnten äusseren Ursachen wie ein störendes Umfeld, gebe es auch nicht erfüllte Bedürfnisse der Menschen mit Demenz. Diese seien, so Hennig, sogar häufiger. Der Bewohner habe zum Beispiel Schmerzen, Hunger, Durst, die Nacht zuvor schlecht geschlafen oder einen beginnenden Infekt. Durch die Behinderung und die Demenz falle es ihnen jedoch schwer, diese wahrzunehmen oder zu kommunizieren.

«Herausfordernde Verhaltensweisen sind nicht nur Ausdruck der betroffenen Person selbst, sondern immer auch Reaktionen auf ihr Umfeld. Deshalb muss dieses unbedingt mitberücksichtigt werden», sagt Prof. Dr.

Präventive Massnahmen und Krisenintervention

In der HEVE-Studie der Hochschule Luzern wurden auch präventive Massnahmen ausgewertet, die Begleitpersonen einsetzen, um herausforderndes Verhalten zu vermeiden. Kommt es hingegen zur Krisensituation, werden bei der HEVE-Studie⁴ andere Massnahmen von den Begleitpersonen genannt wie verbale Kommunikation, Begleitung aus dem Raum, Ablenkung, die Abgabe von Medikamenten und der Ruf von Teamkollegen.

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Allgemein gilt, dass mehr Ruhe, klare Strukturen und eine individuellere und bedürfnisgerechtere Begleitung den betroffenen Menschen Schutz und Entlastung bieten. Je weniger Reize, desto seltener werden Ohnmachtsgefühle und Aggressionen entwickeln.

Neubau Rütibühl

Die Martin Stiftung baut derzeit ein Haus, das diesen Bedingungen entspricht. Der Neubau Rütibühl liegt am Waldrand oberhalb von Herrliberg, mitten in der Landwirtschaftszone. Es ist ruhig und vom Haus bietet sich ein herrlicher Bergblick.

Im Neubau Rütibühl der Martin Stiftung sind sechs Wohnplätze für Menschen mit herausforderndem Verhalten geplant. Untergebracht sind sie in einem von vier Gebäuden. Kleine Wohneinheiten mit eigenem Bad und WC und einer eigenen Loggia an der frischen Luft, bieten einen idealen Rückzugsort sowie Schutz und Entlastung, gerade bei eskalierenden Situationen.

In baulicher Hinsicht wird darauf geachtet, dass Infrastruktur und Materialien sehr resistent sind. Kleinmöbel wie Kleider- oder Badezimmerschränke sind fest eingemauert, sie können weder umgestossen noch aus der Halterung gerissen werden. Für die Fenster wird Sicherheitsglas verwendet. Auf Spiegel wird grundsätzlich verzichtet. Damit sich das Fachpersonal in eskalierenden Situationen in Sicherheit bringen kann, sind Doppeltüren vorgesehen.

Der Fall Antonia

Die 34-jährige Antonia lebt im Körper einer grossen und kräftigen erwachsenen Frau, kognitiv ist sie jedoch auf dem Stand eines Kleinkindes. Aufgrund ihres Verhaltens wurde Antonia in der alten Institution der Wohnplatz gekündigt. Ihre Eltern suchen verzweifelt nach einer Anschlusslösung, doch ihre Bemühungen waren lange erfolglos, weil sämtliche kontaktierten Institutionen inner- und ausserkantonal die Aufnahme von Antonia ablehnten.

Die Verantwortlichen der Martin Stiftung erkannten den Leidensdruck der Eltern und vereinbarten, sie punktuell in der Betreuung von Antonia zu entlasten, anfänglich mit einem halben Tag pro Woche in der Tagesstruktur. Auf dringenden Wunsch der Eltern wurde die Betreuungszeit im Laufe der Zeit erhöht, was eine 1:1-Begleitung erforderte.

Nach rund einem Jahr erhielt Antonia einen fixen Wohnplatz auf einer Wohngruppe mit vorwiegend Seniorinnen. Antonia ist eine liebenswerte und freundliche Person. Eine Herausforderung ist für sie ungewohnte Situation oder eine Veränderung, zum Beispiel, wenn sie einen Tonträger mit ihrem Lieblingslied vermisst.

In solchen Momenten fängt sie an zu schreien, läuft davon, beisst ihre Betreuungsperson oder reisst ihre Mitbewohnerinnen an den Haaren. Antonia wird laut und fordernd, aus Wut verkotet sie ihr Zimmer. Viele Gespräche sind jeweils notwendig, um sowohl Antonia als auch die betroffenen Bewohnerinnen zu beruhigen.

Die Eltern haben Antonia auf die Warteliste für einen Wohnplatz im Neubau Rütibühl setzen lassen. Mit dem Neubau Rütibühl schaffen wir einen idealen Ort für Menschen, die heute überall auf geschlossene Türen stossen oder in improvisierten Lösungen leben müssen.

Psychotherapeutische Unterstützung in Winterthur

In Winterthur gibt es eine Praxisgemeinschaft, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bei psychischen Problemen und auf ihrem aktuellen und weiterführenden Lebensweg unterstützt. Die Praxis bietet unter anderem therapeutische Ausbildung in systemischer Paar- und Familientherapie, Traumazentrierte Psychotherapie und EMDR mit Kindern und Jugendlichen im Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen, DBT (Dialektisch Behaviorale Therapie) und DBT-PTBS.

Schwerpunkte der Praxis

  • Ängste, Phobien, Tics und Zwänge
  • Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (AD(H)S)
  • Traumafolgestörungen
  • Autismus-Spektrum-Störungen
  • Depression
  • Selbstverletzende Verhaltensweisen, Suizidalität
  • Essstörungen
  • Familiäre Krisen und Belastungen
  • Psychosomatische Beschwerden
  • Schulangst, Schulschwänzen (Schulabsentismus)
  • Mobbing, Schulleistungsprobleme
  • Verhaltensauffälligkeiten

Anmeldung und Kostenübernahme

Die Anmeldung ist über verschiedene Wege möglich. Patient*innen können sich selbst oder über die sorgeberechtigten Personen nach Möglichkeit mit Zuweisung durch den/die behandelnden Kinderärzt*in oder Hausärzt*in über das Kontaktformular oder direkt bei dem/der entsprechenden Therapeut*in anmelden. Bei der Anmeldung für psychologische Psychotherapie ist eine Anordnung durch den/die Kinderärzt*in oder Hausärzt*in vorgängig nötig. Die Anordnung muss zwingend bei der ersten Konsultation vorliegen.

Die Kosten der ambulanten Psychotherapie werden über die Krankenkassen-Grundversicherung abzüglich des 10% Selbstbehalts übernommen. Bei Versicherten im Hausarztmodell benötigen wir vor dem ersten Termin eine Zuweisung durch den/die Kinderärzt*in oder Hausärzt*in. Zudem gibt es auf Wunsch die Möglichkeit der Kostenübernahme durch Zusatzversicherungen oder auf Selbstzahlerbasis.

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