Wie wir uns fühlen, verändert sich immer wieder und wird beeinflusst von einer Vielzahl von Einflüssen. So scheint unser emotionales Befinden beispielsweise verschiedenen Rhythmen zu folgen - wie etwa dem Tagesrhythmus. Wie stark unser emotionales Befinden schwankt, scheint sich im Laufe des Lebens zu verändern. Insgesamt konnte gezeigt werden, dass das emotionale Befinden älterer Erwachsener stabiler ist als das von jüngeren Erwachsenen. Was ist jedoch die Ursache dieses Befundes?
Die Forscher Annette Brose, Susanne Scheibe und Florian Schmiedek nahmen sich dieser Frage an. In einer aufwändigen Studie haben 101 junge Erwachsene und 103 ältere Erwachsene an 100 Tagen berichtet, welche täglichen Ereignisse ihnen begegnet sind. Zusätzlich gaben sie an, wie sie sich nach diesen Ereignissen gefühlt haben. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass sich die Lebensumstände tatsächlich stark zwischen den Altersgruppen unterschieden. Ältere Erwachsene erlebten insgesamt weniger negative Ereignisse.
Im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen haben ältere Erwachsene ausserdem berichtet, dass die Ärgernisse ihre täglichen Routinen weniger beeinträchtigten. Das bedeutet, dass die Häufigkeit und Art der negativen Ereignisse, die ältere Erwachsene erleben, sich von denen jüngerer Erwachsener unterscheidet. Die Forscher konnten darüber hinaus zeigen, dass diese Lebensumstände älterer Erwachsener mit weniger emotionalen Schwankungen zusammenhingen. Ein Unterschied in der Emotionalen Stabilität von jungen und älteren Erwachsenen scheint also mindestens teilweise durch das Lebensumfeld der beiden Altersgruppen beeinflusst zu werden.
Quelle: Brose, A., Scheibe, S., & Schmiedek, F. (2013). Life contexts make a difference: Emotional stability in younger and older adults. Psychology and Aging, 28, 148-159.
Altersbilder in der Gesellschaft
In unserer Gesellschaft existieren zahlreiche Altersbilder - sowohl gegenüber älteren als auch jüngeren Menschen. Wir erwerben die Vorstellungen des Alters meistens dann, wenn wir selbst noch nicht alt sind. Die Motivation, sich gegen negative Altersbilder zu wehren, ist also noch nicht vorhanden. Auch später neigen ältere Menschen dazu, sich von der Gruppe der «Alten» abzugrenzen.
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Altersbilder sind oft widersprüchlich: Ältere gelten einerseits als starr und unflexibel, andererseits als warmherzig und gelassen. Das liegt am Kontext: Wir wenden diese Vorstellungen ja in unterschiedlichen Situationen an. An der Kasse stellen Sie sich nicht hinter die ältere Frau, aber auf dem Spielplatz sieht diese Person fürsorglich und warmherzig aus. Diese Bilder widersprechen sich nicht direkt, weil sie nebeneinander existieren.
Stereotype aufzubrechen, braucht Zeit. Zudem gibt es in unsicheren Zeiten eine Tendenz, auf gewohnte Bilder zurückzufallen. Man kann jedoch Trends wie eine Entwicklung zum «aktiven Altern» ausmachen. Das hat auch politische Gründe: Wir wollen ältere Menschen dazu aktivieren, länger zu arbeiten, um die Sozialsysteme zu entlasten.
Die Rolle von Altersbildern
Altersbilder sind «nützlich»: Altersbilder entstehen nicht im luftleeren Raum - sie spiegeln gesellschaftliche Erwartungen darüber wider, wie sich Menschen im «jungen» oder «hohen» Alter verhalten sollen (oder eben nicht). Altersbilder können gleichzeitig negativ und positiv sein - etwa stur und warmherzig. Medien prägen Altersbilder stark, indem sie oft einseitige oder extreme Darstellungen zeigen.
Ältere Menschen leisten ja auch ihren Beitrag dazu, dass sich Altersbilder stabilisieren - zum Beispiel als Entschuldigung oder Grund, Verantwortung abzugeben und als Schutz vor Überforderung. Gleichzeitig brauchen wir gesellschaftlich akzeptierte Vorstellungen, was ein «gutes Alter» bedeutet. Sie geben Orientierung.
Im Arbeitskontext wird man früher als alt wahrgenommen als im Familienkontext - so entstehen unterschiedliche Bewertungen. Und: Je älter man wird, desto weiter nach oben verschiebt sich die Grenze, was man selbst als alt betrachtet. Das Rentenalter gilt jedoch als grosses Indiz für die Vorstellung, wer alt ist.
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Vermutlich weil sich die Altersbilder auf die Lebensphasen fokussieren, in denen Übergänge und Veränderungen stattfinden. Wenn sich Zugehörigkeiten, Rollen, Fähigkeiten oder Interessen verändern. Diese Vorstellungen beeinflussen unser Selbstbild und auch unser Verhalten. Was man in der Jugend über das Alter denkt, überträgt man später auf sich selbst. Sie wirken also wie selbsterfüllende Prophezeiungen.
Jugendbilder prägen, wie wir junge Menschen wahrnehmen und wie sie sich selbst sehen. Auch sie sind oft widersprüchlich und können sowohl positiv als auch negativ besetzt sein. Wie bei Altersstereotypen führen diese Vorstellungen zu Ausgrenzung und Vorurteilen.
Altersbilder sind keine Schicksale, denen man einfach ausgeliefert ist. Man kann durch eigene Erfahrungen und eine kritische Reflexion der eigenen Vorstellungen seine Altersbilder anpassen: Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, erkennt man, dass das Alter und Altern wesentlich differenzierter ist, als es das Stereotyp nahelegt. Es geht ja dabei aber nicht darum, das Alter zu leugnen, sondern eine ausgewogene Vorstellung zu entwickeln, Verletzlichkeiten nicht zu leugnen, aber auch Chancen und Potenziale erkennen. Das muss man aber auch wollen.
Medien fokussieren oft auf Extreme. Und das verfestigt Stereotype. Vulnerable Situationen werden überrepräsentiert, zum Beispiel der Pflegenotstand, Demenz oder Einsamkeit im Alter. Diese Themen sind medienwirksam, weil sie Aufmerksamkeit erregen. Auch die sogenannten Super-Ager, die diesen Stereotypen trotzen, sind überrepräsentiert. Es gibt also keine repräsentative Darstellung der Unterschiedlichkeit des tatsächlichen Alters.
Die Unterscheidung zwischen "jungen Alten" und "alten Alten"
Vor etwa 50 Jahren hat der Psychologe Peter Laslett den Begriff des dritten Alters geprägt. Das war eine Errungenschaft und ein Fortschritt gegenüber der früheren Vorstellung, im Alter sei das Leben vorbei. Laslett betonte das aktive Alter, in dem man noch über Ressourcen verfügt und sich engagieren kann. Natürlich gibt es Politik und Wirtschaft, die daraus Kapital schlagen möchten. Oder gesellschaftliche Erwartungen bezüglich der Nutzbarkeit. Aber auch ältere Menschen selbst profitieren von der Vorstellung des aktiven Alters, weil sie als erstrebenswerter gilt und das Gefühl der Zugehörigkeit stärkt.
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Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es eine biologische Grundlage für eine Unterscheidung zwischen dem dritten oder vierten Lebensalter, weil wir uns das aktive Alter unter anderem durch eine gute medizinische Versorgung erarbeitet haben. Aber irgendwann treten körperliche oder geistige Verluste ein, die zu einer Abhängigkeit führen. Das können wir nicht verhindern oder unendlich aufschieben. Die Unterscheidung ist also ein Wechselspiel vieler Faktoren und nicht nur gesellschaftliche Konstruktion.
Sie schafft mit Studien, Medienbeiträgen oder Vorträgen ein Bewusstsein für die Komplexität und Reichhaltigkeit des Alters. Und sie weist auf Altersdiskriminierung hin - ähnlich wie es die Genderforschung über Jahrzehnte gemacht hat. In Deutschland etwa erstellt eine Kommission im Auftrag der Bundesregierung regelmässig einen Bericht über die Situation älterer Menschen. Die Politik muss dann Stellung beziehen und die Forderungen in der politischen Agenda umsetzen.
Effektiver Wandel ist jedoch ein langwieriger Prozess, weil Altersbilder tief verankert sind - oft selbst bei Menschen, die gegenüber anderen Diskriminierungsformen sensibilisiert sind. Sie sehen die Älteren als Bremse für den Fortschritt. Man macht es sich sehr einfach, wenn man die Alten als homogenen Klumpen bezeichnet. Das Engagement der Klimaseniorinnen oder Omas gegen Rechts wird oft belächelt oder sogar abgewertet.
Die Rolle des Geschlechts im Alter
Die Rolle des Geschlechts im Alter wurde prominent von der US-amerikanischen Soziologin Susan Sontag in den 70ern benannt. Sie schrieb einen vielbeachteten Artikel über die doppelten Bewertungsmassstäbe, die man bei alten Frauen und alten Männern anlegt. Sie sagte, bei Frauen gehe es primär um Attraktivität und darum verliere man an Sichtbarkeit, wenn man nicht mehr als attraktiv gilt. Bei Männern hingegen zählen Einfluss und Macht.
Die Vorstellung der lieben Oma zuhause gilt ja als sympathisch. Dieses eigentlich positive Altersbild wirkt hier aber einschränkend. Und wenn man von der Norm abweicht, wird das bei Frauen strenger geahndet als bei Männern. Aber das ist ja generell bei Frauen so: Wenn sie Einfluss und Macht anstreben, wird das kritisch beäugt. Bei älteren Frauen ist das noch viel ausgeprägter - auch weil sie alte Rollenbilder selbst noch anwenden.
Engagements wie das der Klimaseniorinnen tragen aktiv dazu bei, neue Rollenbilder zu propagieren. Sie werden zudem auch von vielen jüngeren Generationen respektiert. Aber die Doppelbelastung durch Alters- und Geschlechterbilder bleibt. Umso wichtiger ist es, stereotype Zuschreibungen aktiv zu hinterfragen.
Risikobereitschaft im Alter
Die Neigung, Risiken einzugehen, sinkt mit dem Alter, so eine Studie der Universität Basel. Aber nicht überall: Bei schwierigen Lebensumständen bleibt sie hoch und unterscheidet sich nicht zwischen Männern und Frauen.
Wissenschaftler der Universität Basel und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin haben untersucht, welche Faktoren die Risikobereitschaft beeinflussen. Alter, Geschlecht, aber auch grosse Armut und soziale Ungleichheit spielen dabei eine Rolle, wie die Universität Basel am Freitag mitteilte.
In den meisten Ländern sinkt die Bereitschaft, im Alltag Risiken einzugehen, mit dem Alter. Auch sind Männer meist risikofreudiger als Frauen. Jedoch finden sich in Ländern wie Nigeria, Mali und Pakistan weniger bis keine alters- oder geschlechtsbedingte Unterschiede bei der Risikobereitschaft.
Um dieses Phänomen zu erklären, verglichen die Forscher Daten aus 77 Ländern. Dabei fanden sie einen deutlichen Zusammenhang der gleichbleibend hohen Risikobereitschaft mit den vorherrschenden Lebensumständen. Berücksichtigt wurden wirtschaftliche und soziale Armut, Mordrate, Pro-Kopf-Einkommen und Einkommensungleichheit.
Rui Mata, Erstautor der Studie und Assistenzprofessor an der Universität Basel, sieht den Grund für das Phänomen entsprechend im Konkurrenzdruck: Wo die Ressourcen knapp seien, müssten die Menschen stärker miteinander konkurrieren. «Dies gilt für Männer wie Frauen gleichermassen und erklärt die geringeren Geschlechterunterschiede.»
Die Studie zeige, dass die Risikoneigung sich mit dem Alter anpasse, und das über viele Kulturen hinweg, liess sich Ralph Hertwig vom MPI für Bildungsforschung in der Mitteilung zitieren. Sie sei also - anders als von der Ökonomie oft unterstellt - nicht konstant.
Interview über das Alter
Alexandra M. Freund, Professorin für Psychologie an der Universität Zürich und Expertin für Lebensspannenforschung, setzt sich intensiv mit Fragen auseinander, was geschieht, wenn wir älter werden und warum dieser Prozess vielen Menschen derartige Mühe bereitet. In diesem Interview geht sie auf körperliche und vor allem psychologische Prozesse ein, die irgendwann auf uns alle zukommen werden. Sie erklärt, weshalb erwachsene Kinder ihren Eltern gegenüber oft gereizt sind - und weshalb der Tod seinen wahren Schrecken nicht im Alter, sondern in der Jugend verbreitet.
Der Abstand zwischen dem biologischen Alter und dem gefühlten Alter wird bei vielen Erwachsenen immer grösser. Man ist 50 oder 55 und fühlt sich wie Anfang 40, und mit 60 fühlt man sich dann vielleicht wie Ende 40. Das nimmt teilweise fast schon bizarre Ausmasse an.
Eine Erklärung ist, dass für viele Personen die Lebensumstände lange Zeit relativ stabil bleiben. Man hat also in seinem Alltag bis auf die Pensionierung nur wenig, was einem sagt: Du bist jetzt in einer anderen Lebensphase. Auch auf intellektueller oder psychologischer Ebene kommt es nicht mehr zu Brüchen, wie man sie beim Übertritt vom Jugend- zum Erwachsenenalter erlebt. Eine weitere Erklärung ist, dass man auf gar keinen Fall zu den Alten gehören will, weil das Alter in unserer Gesellschaft ein so schlechtes Ansehen hat.
Es gibt eine Vielzahl von Studien und Metaanalysen, die zeigen: Die Stereotype sind wirklich negativ. Die Alten sind aus Sicht der Jüngeren inkompetent, sie sind nutzlos und nehmen zu viele Ressourcen für sich in Anspruch, die sie eigentlich den nachfolgenden Generationen überlassen sollten.
Pointiert zusammengefasst, lautet das Klischee: Die Alten sind lieb, aber inkompetent. Und anders, als es viele glauben, herrscht nicht nur in westlichen Kulturen eine Geringschätzung des Alters vor, sondern auch in asiatischen. Dort sind die Vorurteile sogar noch ausgeprägter.
Paradoxerweise passt aber auch dieses Klischee zum negativen Ansehen der übrigen Alten, weil es stark als positive Ausnahme definiert wird.
Eine negative Sicht auf das eigene Altern vermindert nicht nur das subjektive Wohlbefinden, sondern ist auch mit einem höheren Krankheitsrisiko und sogar einer kürzeren Lebenserwartung verbunden. Das gesellschaftlich vorherrschende negative Bild vom Altern zu verändern, ist extrem schwierig.
Die Angst vor dem Tod nimmt im hohen Alter nicht zu, sondern tendenziell eher ab. Was viele viel stärker umtreibt, ist die Angst, abhängig zu werden, die Autonomie zu verlieren, anderen Menschen zur Last zu fallen. Der Tod entfaltet seinen Schrecken nicht im Alter, sondern in der Jugend.
Wenn Personen etwas bereuen, sind es meist nicht Dinge, die sie getan, sondern Dinge, die sie unterlassen haben. Ein häufiges Bedauern ist: «Ich hätte mir mehr Zeit nehmen sollen für …» - und dann kommt das, wovon man denkt, dass es das Leben reicher gemacht hätte. Viele sagen: «Ich hätte weniger arbeiten und stattdessen meiner Familie oder meinen Freundschaften mehr Zeit widmen sollen.» Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, was sich nicht mehr nachholen lässt - das nagt schon an vielen älteren Leuten, auch wenn sie insgesamt meist mit ihrem Leben zufrieden sind.
Grundsätzlich bleiben körperliche Fähigkeiten, die mit Ausdauer zu tun haben, länger erhalten als solche, die auf Schnellkraft beruhen. Im höheren Alter nimmt die körperliche Leistungsfähigkeit weiter ab, aber das ist meist weniger dramatisch als die Zunahme des Krankheitsrisikos. Über 70 Prozent der über 65-Jährigen haben eine oder mehrere Erkrankungen, bei den über 85-Jährigen sind es sogar über 90 Prozent.
Nicht alle Fähigkeiten nehmen gleichförmig und im selben Ausmass ab. Grob gesagt unterscheidet man zwischen kristallinen und fluiden Fähigkeiten. Kristallin sind die Formen der Intelligenz, die mit Wissen zu tun haben und häufig sprachgebunden oder kulturell geprägt sind. Also Dinge, die ich im Laufe des Lebens erwerbe und die mit Erfahrung, Bildung und Ausbildung zu tun haben. Kristalline Fähigkeiten nehmen auch im hohen Alter nur geringfügig ab. Es sei denn, jemand erkrankt an Demenz.
Fluide Fähigkeiten sind stark biologisch bedingt, sie haben viel mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der Arbeitsgedächtnisspanne zu tun. Diese Fähigkeiten nehmen im Alter ab, und soweit wir es heute wissen, können wir gegen diesen Abbau eigentlich nichts tun.
Mit zunehmendem Alter werden Menschen besser darin, mit ihren Emotionen umzugehen; das, was man in der Fachsprache Emotionsregulation nennt. Ich vermeide bestimmte Situationen, von denen ich weiss: Sie regen mich wahnsinnig auf, ohne dass ich irgendetwas verändern kann. Ich kann meinen Gefühlsausdruck auch besser kontrollieren und zeige anderen nicht mehr zwingend, wenn ich beispielsweise genervt bin.
Mit zunehmendem Alter werden Menschen besser darin, sich ihre Ziele so zu setzen, dass sie sich nicht wechselseitig behindern, sondern eher verstärken. Wenn ich weiss, ich habe nur noch eine begrenzte Zeit, in der ich bestimmte Pläne umsetzen kann, überlege ich mir genauer, was ich eigentlich will, und fokussiere stärker darauf. Ausserdem kenne ich mich besser und weiss, was mir wirklich Freude bereitet und mich bereichert. Das verstärkt übrigens auch den Mut, nicht mehr alle Erwartungen erfüllen zu müssen, die andere an einen herantragen.
Zu seinen Eltern hat man zeitlebens ein spezielles Verhältnis, weil man als Kind völlig von ihnen abhängig war und sie für die meisten auch später enorm wichtige Bezugspersonen bleiben. Diese Bezugspersonen möchte man weiterhin in seinem Leben haben, und man möchte sie als kompetente Menschen erleben, die das Leben gut bewältigen. Stattdessen mitzuerleben, wie sie abbauen - ich spreche jetzt von einem deutlichen Abbau -, ist für Kinder im mittleren Erwachsenenalter oft schwierig.
Die Kinder reagieren häufig gereizt, weil sie den Eltern unterstellen, sich einfach zu wenig zusammenzureissen. Es ist einfacher, sich zu sagen, eigentlich könnten sie doch noch alles, als sich einzugestehen, dass ihre Fähigkeiten abbauen - denn das läutet gewissermassen ihre letzte Lebensphase ein. Die Eltern ihrerseits sind meistens nicht bereit, sich von ihren erwachsenen Kindern diese Genervtheit bieten zu lassen.
Indem die Kinder im mittleren Erwachsenenalter Toleranz üben und versuchen, sich an der Emotionsregulation der Älteren ein Beispiel zu nehmen. Also, sich zu sagen: «Das ist nicht meine Küche, und es ist nicht mein Hemd. Ich kann mal etwas sagen, aber damit hat es sich. Das ist das Leben meiner Mutter und meines Vaters, die müssen schauen, dass es für sie gut ist, nicht für mich.» Umgekehrt möchte man sich ja von seinen Eltern auch nicht reinreden lassen.
Leider sehe ich ein grosses Potenzial für Generationenkonflikte. Wir sollten viel intensiver darüber nachdenken, wie wir den demografischen Wandel finanzieren können.
Sexuelle Aspekte und Beziehungen im Alter
Ein Tabu kann Sexualität im Alter doch heute nicht mehr sein: Fernsehsendungen, Ratgeberspalten in Zeitungen, auch Sozialwissenschaften wie Psychologie und Gerontologie oder die Medizin nehmen sich des Themas an. Dennoch werden alten Menschen sexuelle oder erotische Bedürfnisse heute noch oft abgesprochen.
Die Orientierung zu finden in diesem von Wünschen und Lust, von Pflicht und Leistungsdruck, von Schuldgefühlen, Doppelmoral, Scham und schamloser medialer Ausbreitung geprägten Thema ist schwierig. Zumal ältere Menschen unter verschiedensten Umständen leben: In festen, teils langjährigen Beziehungen, als Single, verwitwet, als gleichgeschlechtliches Paar, im Altersheim.
Ein typisches Muster, so Marlies Michel, sei bei langjährigen Ehepaaren zu erkennen: „Sex wird immer seltener, bis das Sexualleben mit den Jahren gänzlich einschläft.“ Auch wenn dies oft für einen der beiden Partner oder für beide problematisch ist, können viele Paare nicht miteinander darüber sprechen. Vor allem Paare im höheren Alter wurden in ihrer Jugend kaum aufgeklärt, ihnen fehlt die Sprache für das Sexuelle.
Das Klischee „Der Mann will Sex, die Frau will nicht“ lässt Marlies Michel nicht gelten, dazu seien die erotischen Bedürfnisse (auch bei Jüngeren) viel zu unterschiedlich. „Dass Frauen ihre Sexualität mit der Menopause beenden, ist ein hartnäckiger Mythos. Man weiss aus Studien, dass viele Frauen ihre Sexualität oft erst nach 50 so richtig entdecken und lustvoll ausleben“.
Marlies Michel berichtet von Paaren, die ihre auseinanderdriftenden sexuellen Bedürfnisse auf kreative Weise lösen: Da ist zum Beispiel der Mann gegen 60, dessen Ehefrau sich seit einiger Zeit verweigert; deshalb hat er Sex mit einer jüngeren Frau ausserhalb der Ehe. Ihn plagt das schlechte Gewissen, weil er glaubt, seine Frau damit zu verletzen und sich für eine der beiden Partnerinnen entscheiden zu müssen. In einem Paargespräch zeigt sich dann, dass die Frau mit der Aussenbeziehung ihres Mannes gut leben kann; für sie war er mit den Jahren als Sexpartner nicht mehr attraktiv. Für den Mann kam die Erlaubnis „Du darfst das“ überraschend. Seit das Sex-Thema völlig legitim nach aussen delegiert wurde, funktioniert das alltägliche Familienleben, auch die gemeinsamen Ferien, wieder gut.
Es ist natürlich, dass mit zunehmender Dauer einer Beziehung und mit dem Alter die sexuelle Lust nachlässt. Dennoch können Paare etwas dafür tun, die gegenseitige Attraktivität zu erhalten. Dazu gehört zum Beispiel, dass beide je ihren eigenen Freundeskreis und eigene Hobbys pflegen, dass sie nicht die ganze Freizeit zu zweit verbringen, sondern auch mal alleine verreisen. Kurz: Autonomie von Mann und Frau ist unerlässlich, um die Anziehung zu erhalten und die Beziehung gut altern zu lassen.