Allgemeine Wirkfaktoren in der Psychotherapie: Eine Definition

Die Frage nach der Wirkungsweise von Psychotherapie ist bis heute nicht vollends geklärt, obwohl ihre Wirksamkeit unbestritten ist. Es existieren zwei gegensätzliche Vorstellungen darüber, was Psychotherapie wirksam macht.

Einerseits gehen Befürworter empirisch fundierter Psychotherapieansätze von der therapeutischen Bedeutsamkeit methoden- und störungsspezifischer Techniken aus. Andererseits führen die Vertreter der Sichtweise, dass zwischen verschiedenen Psychotherapierichtungen nur geringe Wirkunterschiede bestehen, die Wirksamkeit von Psychotherapie auf allgemeine Wirkfaktoren zurück.

Das Modell allgemeiner Wirkfaktoren ("common factors model") stellt einen vielversprechenden Ansatz zur Integration der verschiedenen Psychotherapieansätze dar, weist jedoch konzeptionelle Unklarheiten auf. Techniken und Wirkfaktoren sind zudem verschiedenen Ebenen des Therapieprozesses zugeordnet.

Ein Taxonomie-Projekt versucht, die konzeptuellen Schwierigkeiten zu überwinden, indem spezifische Techniken und allgemeine Wirkfaktoren aufeinander bezogen werden. Auf der Basis einer umfangreichen Literaturanalyse wurden 22 allgemeine Wirkfaktoren identifiziert und definiert. Gleichzeitig wurden 22 Standardtechniken der psychotherapeutischen Hauptrichtungen vorgegeben, durch die die allgemeinen Wirkfaktoren mehr oder weniger implementiert werden können.

Psychotherapieexperten schätzten daraufhin in einer Umfrage ein, wie stark die einzelnen allgemeinen Wirkfaktoren durch die spezifischen Psychotherapietechniken umgesetzt werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die verschiedenen allgemeinen Wirkfaktoren aufgrund der Profile ihrer Zusammenhänge mit spezifischen Psychotherapietechniken beschreiben lassen. Diese Zusammenhänge gilt es, in Psychotherapieprozessanalysen zu validieren.

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Die Therapeutische Beziehung

Die therapeutische Beziehung spielt eine wichtige Rolle im klinischen Alltag und in der Psychotherapieforschung. Zahlreiche empirische Studien konnten einen Zusammenhang zwischen der therapeutischen Beziehung und dem Therapieerfolg nachweisen. Neuere Metaanalysen zeigen, dass circa 10% der Varianz des Therapieergebnisses durch die therapeutische Beziehung erklärt werden kann.

Es gibt viele unterschiedliche Konzepte der therapeutischen Beziehung. Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die therapeutische Beziehung entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg einer Psychotherapie ist, unabhängig davon, welches Verfahren der Therapeut/die Therapeutin vertritt und welche Methoden konkret verwendet werden.

Wichtige Merkmale einer guten therapeutischen Beziehung aus Patientensicht sind unter anderem Vertrauen, Einfühlungsvermögen, Sympathie, genügend Zeit, ein lösungsorientiertes Vorgehen sowie einen respektvollen Umgang (Hermer & Röhrle, 2008).

Bedürfnisorientierte Beziehungsgestaltung

Menschliches Verhalten ist darauf ausgerichtet, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Die Erfüllung der genannten Bedürfnisse ist gemäss Grawe eine wesentliche Quelle für ein glückliches und zufriedenes Leben. Zu Beginn der Therapie sind die Grundbedürfnisse durch frühere Beziehungserfahrungen des Patienten meist stark verletzt.

In der therapeutischen Beziehung hat der Therapeut die Möglichkeit, dem Patienten bedürfnisbefriedigende Erfahrungen zu vermitteln. Mit einer bedürfnisorientierten Beziehungsgestaltung wird der optimale Kontext für erfolgreiche Lern- und Veränderungseffekte in der Psychotherapie geschaffen.

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Daher ist eine auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Psychotherapie besonders wichtig, wo gemeinsam mit dem Patienten unter anderem die individuellen Wünsche und Bedürfnisse sowie die bisherigen Verhaltensmuster zur Erreichung dieser herausgearbeitet werden können. Eine erste Übungsmöglichkeit bietet dabei das therapeutische Setting, wo erste korrektive Erfahrungen gemacht werden können, bevor diese im realen Beziehungsumfeld der Patienten erprobt werden.

Der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung braucht Zeit, aber es lohnt sich.

Allgemeine Wirkfaktoren nach Klaus Grawe

Der Psychologische Psychotherapeut und Therapieforscher Klaus Grawe hat untersucht, was in der Psychotherapie wirkt:

  1. Die Qualität der Beziehung - die therapeutische Allianz - trägt wesentlich zum Erfolg einer Psychotherapie bei.
  2. Positive Möglichkeiten wie Persönlichkeitsmerkmale, Motivationen, Fähigkeiten und Interessen der Klientin oder des Klienten werden in der Therapie aktiviert.
  3. Die Probleme, die in der Therapie verändert werden sollen, werden unmittelbar erlebbar gemacht.
  4. Hilfe zur Problembewältigung ermöglicht Klientinnen und Klienten positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit ihren Problemen.

Die Psychotherapie-Debatte

Professor Bruce Wampold von der University of Wisconsin in Madison ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Psychotherapie-Forscher. Zusammen mit seinem Kollegen Zac E. Imel publizierte er The Great Psychotherapy Debate. Im Kern zeigen die Forscher, dass nur ein kleiner Teil der positiven Effekte von Psychotherapie auf spezifische Faktoren zurückzuführen ist.

Ethische Fragen und moralische Konflikte betreffen fast immer zwischenmenschliche Beziehungen. Genau deshalb liegt in der Beziehung zwischen Psychotherapeuten und Patienten auch das grösste Potenzial für ein positives Therapieergebnis. Ungelöste moralische Konflikte bezüglich Beziehungsaspekten können die Erfolgsaussichten einer Psychotherapie bedeutsam schmälern.

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Forschungsperspektiven

Die Forschung zur differentiellen Indikation geht noch einen Schritt weiter: "welches therapeutische Vorgehen [ist] aus welchen Gründen für welche Patienten besonders geeignet" (Grawe 1992). Die vierte grosse Fragestellung befasst sich mit den Wirkungsweisen von Psychotherapie, d.h. wie gross ist der Anteil sog. allgemeiner vs. spezifischer Faktoren am Therapieergebnis?

Die Forschung, welche sich auf die Ergebnisse oder die Wirkung von Psychotherapie bezieht, befindet sich in der paradoxen Situation, dass trotz der heute schier unzähligen, verschiedenen Psychotherapierichtungen auf den ersten Blick keine Unterschiede in der Wirksamkeit gefunden werden konnten. Erst in neuerer Zeit konnten differentielle Wirksamkeiten festgestellt werden, wonach sich Therapieformen in spezifischen Bereichen sehr wohl unterscheiden.

Die vier herausgearbeiteten Heuristiken (reflektierende Abstraktion, Emotionsverarbeitung, Kompetenzerweiterung und Beziehungsgestaltung) werden unterschiedlich eingesetzt. Das Fazit der Berner Forschungsgruppe: "Wir interpretieren die Ergebnisse dieser Untersuchung in erster Linie als einen Hinweis darauf, dass Flexibilität im Beziehungsverhalten und im technischen Vorgehen zu den wichtigsten Qualitäten eines erfolgreichen Psychotherapeuten gehören.

Die Frage also, auf welche Faktoren es ankommt, damit ein bestimmter Klienten gut mit einem bestimmten Therapeuten zusammenarbeiten kann bzw. umgekehrt. Jede Therapieform hat ihre Stärken und Schwächen; somit erscheint es sinnvoll, z.B. Menschen mit ausgesprochener Angst-Symptomatik (z.B. soziale oder einfache Phobien) mit (kognitiver) Verhaltenstherapie zu behandeln, Personen hingegen mit strukturellen Defiziten (sprich: Persönlichkeitsstörungen) eher psychoanalytisch zu behandeln.

Immer mehr wird das psychotherapeutische Prozessgeschehen mit den erreichten Ergebnissen in Beziehung gesetzt, es wird also versucht, (kausale) Verbindungen zu suchen zwischen z.B. "Patient’s in-session impacts" und dem "postsession outcome" oder zwischen der therapeutischen Beziehung ("therapeutic bond") und dem "outcome" etc.

Die Frage nach der Wirksamkeit von Psychotherapie hat in der Schweiz im Zusammenhang mit der (Wieder-) Aufnahme psychologisch-psychotherapeutischer Leistungen in die Grundversicherung der Krankenkassen wieder an Interesse gewonnen.

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