ADHS Statistik in Deutschland: Eine umfassende Analyse

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine im Erwachsenenbereich etablierte und valide Störung. Dies wird durch eine Vielzahl an Publikationen zu unterschiedlichen Themenbereichen (u. a. Diagnostik, Therapie, Komorbidität) unterstrichen. In PubMed (Stand: 8.10.2022) finden sich unter den Stichworten «ADHD and Adults» 13 833 Publikationen. Zudem liegen internationale wie nationale Leitlinien zur Diagnostik und Therapie vor.

Die Voraussetzung für eine Diagnose im Erwachsenenalter ist der Nachweis des Beginns der Symptomatik in der Kinder- und Jugendzeit, wie es in der ICD-10/ICD-11 und dem DSM-5 gefordert wird. Schätzungen zur Prävalenz im Erwachsenenalter in der Allgemeinbevölkerung schwanken weltweit zwischen 3 und 5%, in Deutschland liegt sie bei 4,7%.

In psychiatrischen Institutionen liegen die Prävalenzraten jedoch deutlich höher, im ambulanten Bereich bei zirka 15%, im stationären Bereich schwanken sie zwischen zirka 7 und 39%. Zudem weisen viele Patienten zwar nicht mehr das Vollbild einer ADHS auf, das Störungsbild zeigt sich jedoch subsyndromal, das heisst, die Patienten haben weiter Symptome und mögliche Folgen. Patienten mit einer ADHS weisen neben der Symptomatik zum Teil schwerwiegende Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen auf (z. B. soziale Beziehungen, Beruf/Schule) und sind täglich mit den aus der Symptomatik resultierenden Schwierigkeiten bei fast allen Aktivitäten des Alltags konfrontiert.

Patienten mit einer ADHS haben weiterhin ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung körperlicher Erkrankungen. Es handelt sich somit bei der ADHS im Erwachsenenalter um eine persönlich wie gesellschaftlich relevante Diagnose, die mit hohen Kosten verbunden ist. Viele Patienten, die sich im Erwachsenenalter zur Abklärung anmelden, wurden im Kindes- oder Jugendalter nie abgeklärt. Einer zuverlässigen und vor allem rechtzeitigen Diagnosestellung kommt daher eine wichtige Rolle zu, zumal zwischenzeitlich eine Reihe effektiver Behandlungsansätze existieren, insbesondere psychopharmakologische, aber auch psychotherapeutische.

Kennzeichen der ADHS im Erwachsenenalter

Wie im Kindes- und Jugendalter ist die ADHS auch im Erwachsenenalter gekennzeichnet durch Symptome in den Bereichen Unaufmerksamkeit (u. a. Vergessen von Details/Flüchtigkeitsfehler, Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, Vergesslichkeit bei Alltagsaktivitäten), Hyperaktivität (z. B. Zappeln mit Händen und Füssen, überaktiv, aufstehen, wenn es nicht angemessen ist) und Impulsivität (z. B. anderen ins Wort fallen, andere stören), was die Basis für die Diagnosestellung liefert. Der Bereich Hyperaktivität nimmt im Zeitverlauf eher ab, manifestiert sich eher als innere Unruhe.

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  • Komorbide Störungen nehmen im Zeitverlauf zu.
  • Zur Kernsymptomatik treten eine Reihe weiterer klinisch relevanter Bereiche auf, z. B. emotionale Dysregulation oder Desorganisation werden deutlich.

ADHS in ICD-10, ICD-11 und DSM-5

Die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter ist wie bei allen anderen psychischen Störungen anhand eines anerkannten Klassifikationssystems zu stellen. Sind dies ICD-10, ICD-11 und DSM-5. ICD-10 ist seit 1992 gültig, ICD-11 offiziell seit 2022, wenngleich es noch keine offizielle deutschsprachige Übersetzung gibt, DSM-5 liegt im deutschsprachigen Raum seit 2015 vor.

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Konzeptualisierungen von ADHS in ICD-10, ICD-11 und DSM-5

Kriterium ICD-10 ICD-11 DSM-5
Ersterkrankungsalter vor dem 7. Lebensjahr vor dem 12. Lebensjahr vor dem 12. Lebensjahr
Begriff Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ADHS ADHS

Gegenüber ICD-10 gab es speziell, was die ADHS betrifft, immer Vorbehalte (u. a. Ersterkrankungsalter vor 7 Jahren, zu ungenau, Kriterien für das Erwachsenenalter ungeeignet), oft wird in der Praxis auf die deutliche, präzisere Beschreibung des Störungsbilds im DSM-5 zurückgegriffen, das vor allem aber in der Forschung. In der ICD-11 wurden die kritischen Punkte revidiert (u. a. Ersterkrankungsalter bis 12 Jahre, Präzisierung der Symptombeschreibungen) und erstmals der Begriff ADHS eingeführt. Mit der ICD-11 findet somit eine Annäherung an DSM-5 statt, sodass zukünftig auf ICD-11 zurückgegriffen werden kann (sobald eine offizielle deutschsprachige Version vorliegt), da die Mitgliedsländer der WHO verpflichtet sind, nach ICD zu verschlüsseln.

Differenzialdiagnostik und Komorbidität bei ADHS

Stärker noch als bei anderen psychischen Störungen stellt sich bei ADHS die Frage nach Differenzialdiagnosen (DD), vor allem deshalb, weil einige Störungen auch als komorbide Störungen auftreten können. Bei einer genauen Beachtung und Prüfung der Kriterien der jeweiligen Störung ist das in der Regel jedoch nicht kompliziert, zudem stehen eine Reihe diagnostischer Hilfsmittel zur Verfügung. Schwierigkeiten im diagnostischen Prozess ergeben sich manchmal dadurch, dass eine Reihe von Kernsymptomen, welche die ADHS im Erwachsenenalter charakterisieren, sowie Begleitsymptome bei verschiedenen anderen psychischen Störungen ebenfalls auftreten können.

  • Konzentrationsstörung: Kann bei fast allen psychischen Störungen als Begleitsymptomatik auftreten (z. B. schizophrene Störungen), ist bei anderen Störungen jedoch ebenfalls ein diagnostisches Kriterium (z. B. depressive Störungen).
  • Hyperaktivität: Dieses Merkmal ist ebenso nosologisch unspezifisch und kann auch bei anderen Störungen auftreten (z. B. Manie).
  • Impulsivität: Das Phänomen kann ein Persönlichkeitsmerkmal sein oder bei anderen Störungen als diagnostisches Kriterium gewertet werden (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung).
  • Emotionale Instabilität: Dieses Merkmal wird oft als Stimmungsschwankungen bezeichnet und kann ebenfalls bei anderen Störungen auftreten (z. B. bipolare Störung).

Im DSM-5 werden 7 Differenzialdiagnosen explizit genannt, in der ICD-10 sind es 3, in der ICD-11 sogar 11 (u. a. Autismus, Lernstörungen, Persönlichkeitsstörungen, affektive und Angststörungen). Im DSM-5, besonders aber in der ICD-11 werden diese nicht nur aufgeführt, sondern die Unterschiede explizit erläutert. Da sich ADHS-Symptome auch in der Normalbevölkerung manifestieren können, jedoch in geringerer Ausprägung, ist eine Abgrenzung dazu sehr wichtig. Hier gibt die ICD-11 wie bei allen anderen psychischen Störungen eine Hilfestellung mit der expliziten Rubrik «Abgrenzung zur Normalität». Darin wird beschrieben, wie sich die Symptomatik im Normalbereich manifestieren kann bzw. nicht automatisch als klinisch relevant anzusehen ist.

Im Vergleich zu vielen anderen psychischen Störungen zeigen sich höhere Komorbiditätsraten. Schätzungen gehen bis zu 80%. Als komorbide Störungen sind vor allem solche aus dem Bereich der affektiven Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen von Bedeutung.

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Diagnostischer Prozess und diagnostische Instrumente

Die Diagnosestellung basiert im Vergleich zu den meisten anderen psychischen Störungen nicht auf den Symptomen der klassischen Psychopathologie, sondern auf eher erlebens- und verhaltensnahen Merkmalen. Stärker noch als bei den meisten anderen psychischen Störungen sind alle zur Verfügung stehenden Informationen einzubeziehen. Beginnend bei vorliegenden Schul- oder Arbeitszeugnissen über die Befragung von Dritten (z. B. Eltern, Partner, Freunde) bis zum Patienten, der im Erwachsenenalter die jedoch wichtigste Informationsquelle darstellt. Jede Informationsquelle kann wichtige Beiträge zur Diagnosestellung liefern (z. B. Schul- und Arbeitszeugnisse über das Arbeitsverhalten, Berichte von Partnern über Interaktionsverhalten oder Probleme in der Paarbeziehung).

Bei Verdacht auf eine ADHS bieten sich Screeningverfahren an. Meist kommen Patienten zwar selbst mit dem expliziten Wunsch nach Abklärung, oft ergeben sich aber Verdachtsmomente erst, wenn der Patient schon in Behandlung ist oder diese stagniert. Bei Verdacht auf das Vorliegen der Störung gilt es, diesen in einem nächsten Schritt mittels psychometrischer Verfahren bzw. diagnostischer Interviews weiter zu prüfen. Bestätigt sich der Verdacht, sollte eine differenzierte Erfassung des Schweregrads erfolgen. Diese kann als Ausgangspunkt für die spätere Evaluation des Therapieerfolgs verwendet werden. So können sich z. B. Hinweise auf das Ansprechen oder die Stagnation in der Therapie ergeben bzw. lässt sich das Ausmass der erreichten Veränderungen quantifizieren. Hinweisen auf Komorbiditäten muss unbedingt nachgegangen werden. Diese können sich bereits im diagnostischen Prozess ergeben, werden manchmal aber erst im Verlauf der Behandlung deutlich.

Es stehen zahlreiche Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren sowie diagnostische Interviews zur Verfügung. Alle Verfahren gibt es auf Deutsch. Bei der Verwendung von Fremdbeurteilungsverfahren und Interviews ist unbedingt ein vorheriges Training notwendig. Es ist jedoch zu bedenken, dass die Diagnose ADHS letztlich immer eine klinische Diagnose ist, das heisst alle zur Verfügung stehenden Informationen integriert. Die Auswahl von Untersuchungsverfahren ist von den Assessmentzielen abhängig. Verfahren, die auch dimensionale Beschreibungen erlauben bzw. den Schweregrad der Symptomatik abbilden, sind vor allem im Rahmen einer therapiebegleitenden Diagnostik von Bedeutung. Neuropsychologische Verfahren erlauben allein keine Diagnosestellung, können jedoch zur Quantifizierung von spezifischen Defiziten im Querschnitt und Verlauf beitragen. So wurden für ein weites Spektrum allgemeiner sowie spezifischer neuropsychologischer Funktionsbereiche Unterschiede zwischen Gesunden und ADHS-Patienten ermittelt (nicht nur allein Exekutivfunktionen).

Herausforderungen bei der Diagnosestellung

Die Diagnosestellung kann durch eine Reihe von Problemen erschwert werden. Zum Beispiel, wenn andere psychische Störungen diese aufweisen (z. B. Schizophrenie, Depression). Wenn andere psychische Erkrankungen (z. B. depressive Störungen) oder Störungen durch psychotrope Substanzen im Vordergrund, ist eine Abklärung oft schwierig, da sich teilweise Überschneidungen auf Symptomebene zeigen.

  • Auftreten erst im Erwachsenenalter: Bei einigen Patienten wird die Symptomatik erst im Erwachsenenalter deutlich, da sie bis dahin über Kompensationsmechanismen verfügt haben.
  • Mangelnde Motivation: Manchmal erscheinen Patienten nicht aus eigenem Antrieb, sondern werden von Dritten dazu bewegt (z. B. Patient wird durch Partner geschickt = fremdmotiviert, besonders bei jungen Erwachsenen). Hier besteht die Gefahr für eine mangelnde Mitarbeitsbereitschaft bzw. unzureichende Auskunftsbereitschaft oder sogar für eine Bagatellisierung von Problemen.
  • Mangelnde Introspektionsfähigkeit: Ein Reihe von Patienten hat Schwierigkeiten, ihre Probleme differenziert zu beschreiben.
  • Minderbegabung: Hier ergeben sich Probleme, da der Patient kaum in der Lage ist, die Schwierigkeiten hinreichend präzis zu beschreiben, auch der Einsatz psychometrischer Verfahren ist begrenzt bis unmöglich.
  • Probleme bei der Erinnerung an die Kindheit: Manche Patienten haben spontan nur vage oder keine Erinnerungen an die Vergangenheit.
  • Fehlende Unterlagen aus der Vergangenheit: Oft sind keine Zeugnisse vorhanden bzw. diese enthalten nur unzureichende Angaben (z. B. unauffällig).
  • Spezielle Untersuchungssituationen: Es gibt eine Reihe von Situationen, die eine Abklärung besonders erschweren. Hierzu zählen beispielsweise Begutachtungen oder der explizite Wunsch nach Medikation. In diesen Fällen gilt es, besonders aufmerksam gegenüber Aggravation oder Simulation zu sein.

Wichtige Punkte zur ADHS im Erwachsenenalter

  • ADHS ist auch im Erwachsenenalter eine häufige psychische Störung.
  • Die Diagnose stützt sich auf die Integration aller zur Verfügung stehenden Informationen. Sie lässt sich weder durch testpsychologische Ergebnisse noch durch apparative Befunde allein stellen.
  • Psychometrische Verfahren können einen wichtigen Beitrag zur Diagnosefindung liefern.
  • Sie können zudem zur Evaluation der Therapie eingesetzt werden.

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