Wird man mit Autismus geboren: Ursachen und Fakten

Eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) stellt meist hohe Anforderungen an das Umfeld und an die Betroffenen. Eine davon ist, dass es sich um eine abweichende Gehirnentwicklung handelt. Bei der ASS handelt es sich um eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung, die unterschiedlichste Ausprägungen hat. Nach wie vor gibt es wenig gesicherte Erkenntnisse, wie ASS entstehen.

Wie entstehen Autismus-Spektrum-Störungen?

Die Ursachenforschung hat bisher keine Antwort. In der Regel sind die Veränderungen in der frühen Kindheit, vor dem dritten Lebensjahr, erkennbar. Autismus manifestiert sich bereits in der frühen Kindheit, ist angeboren und hält lebenslang an. Bei ASS im Erwachsenenalter treten die Symptome meist in Krisenzeiten auf. Hinzu kommen eingeschränkte, repetitive und unflexible Muster an Verhaltensweisen und Interessen, die persönliche, familiäre, schulische, berufliche oder andere wichtige Bereiche des sozialen Lebens beeinträchtigen.

Menschen mit einer ASS erleben sich defizitär, wenn es darum geht, mit anderen Menschen zu sprechen, mit ihnen auszukommen oder auf sie zuzugehen, soziale Kommunikation und Interaktion zu initiieren und aufrechtzuerhalten ist schwierig. Das verursacht bei den Betroffenen ein klinisch bedeutsames Leiden.

Wer ist von ASS betroffen?

Von 10’000 Kindern sind zwei bis drei von ASS betroffen. Der Anteil der männlichen Personen im Verhältnis zu den weiblichen liegt bei 8:1. Es wird vermutet, dass Frauen besser kompensieren und überspielen können. Zahlen zur Erwachsenenbevölkerung liegen nicht vor.

Wie gelingt es ASS-Betroffenen, den Alltag zu meistern?

ASS-Betroffene können äussere Reize auf den verschiedenen Sinneskanälen weniger gut verarbeiten, d.h. relevante von nicht relevanten Reizen schwer unterscheiden. Dadurch kommt es zu einer Reizüberflutung und in der Folge meist zu Stressreaktionen. ASS-Betroffene entwickeln Strategien, um die Wahrnehmungen zu verarbeiten und den Alltag zu bewältigen, und zwar meist indem sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren. Dies führt zu Spezialinteressen, routinemässigen Vorlieben und hoch strukturierten Abläufen.

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Indem sie sich so verhalten, reduzieren sich im Entwicklungsverlauf soziale Kontakterfahrungen mit der Aussenwelt oder sie fallen bei extremer Fokussierung auf Gleichbleibendes sogar ganz weg. ASS-Betroffene trainieren dadurch weniger, soziale Signale zu deuten oder sich bei spontanen sozialen Erlebens- und Verhaltensweisen situativ anzupassen. Sie müssen in der Folge «erlernen», wie sie im sozialen Kontext reagieren «müssen»; im Gegensatz zu neurotypischen Personen, die das automatisch können.

Ursachen einer Autismus-Spektrum-Störung

Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung. Auch wenn überwiegend genetische Ursachen für die Störung verantwortlich gemacht werden, werden doch auch Umweltfaktoren, psychosoziale Einflüsse und verschiedene biologische Risikofaktoren genannt, die auf Genese und Ausprägung der Störung Einfluss nehmen. Es handelt sich somit um ein Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren.

ASS gehören unter den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diagnosen zu jenen Störungen mit dem stärksten genetischen Einfluss. So wurde in Zwillingsstudien nachgewiesen, dass bei eineiigen Zwillingen ein gemeinsames Auftreten von Autismus-Spektrum-Störungen häufiger vorkommt als bei zweieiigen Zwillingen. Auch zeigen Familienstudien, dass Verwandte ersten Grades ein deutlich erhöhtes Risiko für Autismus in sich tragen.

Studien konnten nachweisen, dass auch das Alter der Eltern bei der Zeugung einen Einfluss auf die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung beim Kind haben könnte. Je älter die Eltern beim Zeitpunkt der Zeugung waren, desto wahrscheinlicher ist die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung beim Kind. Zu den Risikofaktoren während der Schwangerschaft gehören bestimmte Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel die Rötelninfektion, die Einnahme von Valproat in der Schwangerschaft oder Folsäuremangel zu Beginn der Schwangerschaft. Des Weiteren kann eine extreme Frühgeburt die Entwicklung einer Autismus-Spektrum-Störung begünstigen.

Keine ursächliche Rolle spielt das elterliche Erziehungsverhalten. Das elterliche Erziehungs- und Bindungsverhalten kann hingegen die postpartale Gehirnentwicklung beeinflussen, indem förderliche oder weniger günstige Lernbedingungen geschaffen werden. Als psychosoziale Risikofaktoren werden extreme Formen der Deprivation im ersten Lebensjahr angenommen. Die Annahme, Autismus entstehe durch fehlende Zuwendung der Mutter, wurde durch zahlreiche Studien eindeutig widerlegt.

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Ein weiterer Erklärungsansatz befasst sich mit der neuronalen Entwicklung. Es gibt Hinweise darauf, dass die Hirnentwicklung von Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung bereits vorgeburtlich anders verläuft als bei gesunden Kindern. Menschen mit ASS zeigen andere kortikale Netzwerke und Aktivierungsmuster als neurotypische Menschen. Auffälligkeiten zeigen sich einerseits in der Verbindung des Hirnstammes und des Kleinhirns sowie bei den Temporal- und Frontallappen des Gehirns. Diese Veränderungen in der Gehirnstruktur werden als Grundlage für die kognitiven Besonderheiten und Verhaltensauffälligkeiten angenommen.

Hormonelle Einflüsse

Der Entwicklungspsychologe vermutet, dass Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) Folge einer vermehrten Bildung von männlichen Geschlechtshormonen in der Fetalperiode sind. Vor einigen Jahren konnte er zeigen, dass Kinder, die vor der Geburt erhöhte Testosteronwerte im Fruchtwasser hatten, im Alter von zehn Jahren häufiger autistische Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen, was Baron-Cohen an einem niedrigen „Empathie-Quotienten“ und einem hohen „Systematisierungs-Quotienten“ festmachte.

Alle vier Steroidhormone (Progesteron, 17alpha-Hydroxyprogesteron, Androstenedion und Testosteron) waren bei den Kindern mit späterer Autismusdiagnose im Fruchtwasser erhöht. Sie sind Bestandteil eines Stoffwechselwegs, der zur Bildung von Testosteron führt, was die Hypothese von Baron-Cohen zu bestätigen scheint.

Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen

Die Autismus-Diagnostik ist aufwändig und komplex. Es gibt keinen spezifischen Test, mit dem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gestellt werden kann. Die Diagnose beruht auf genauen Angaben zur bisherigen Entwicklung und dem aktuellen Befinden und Verhalten der Person. Bei Kindern werden dazu in erster Linie die Eltern befragt, oft aber auch Fachpersonen, die das Kind aus Krippe, Schule oder aus der Therapie kennen. Auch bei erwachsenen Personen sollten die Eltern, wenn möglich, zur Entwicklung befragt werden.

Die betroffene Person muss selbst ausführlich über ihr früheres und aktuelles Leben Auskunft geben. Falls vorhanden, können enge Freunde oder Lebenspartner/-innen befragt werden. In die Diagnostik einbezogen werden die Ergebnisse einer Reihe von psychometrischen Fragebögen sowie die Ergebnisse neuropsychologischer Zusatzuntersuchungen. Bei Kindern ergänzen strukturierte Spielbeobachtungen die Untersuchung. Dabei ist es oft hilfreich, das Kind in einer Gruppensituation zu erleben.

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Bei Jugendlichen und Erwachsenen werden neben den inhaltlichen Aussagen vor allem Aspekte der nonverbalen Kommunikation, der Gegenseitigkeit im Gespräch und des sozialen Verständnisses beurteilt. Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus kann die Diagnose in der Regel im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren gestellt werden. Bei Kindern mit Asperger-Syndrom werden die Probleme meist erst im Kindergarten- oder Schulalter deutlich. Bei Erwachsenen sind die autistischen Symptome manchmal durch Depressionen, Ängste oder Zwänge überlagert, was die Diagnose erschwert.

Früherkennung und Intervention

Die Früherkennung von ASS ist von grösster Bedeutung, damit so rasch wie möglich eine geeignete Behandlung eingeleitet werden kann. In den ersten Lebensjahren weist das Gehirn die höchstmögliche Plastizität auf und ist für entsprechende Interventionen besonders empfänglich.

Eye-Tracking-Studien haben gezeigt, dass sich die Art und Weise, Gesichter wahrzunehmen, bei Kindern, die später ASS entwickelten, bereits im Alter von zwei bis sechs Monaten deutlich veränderte. Während beide Kindergruppen im Alter von zwei Monaten die Augen in vergleichbarer Weise betrachteten, verloren diejenigen, bei denen später ASS diagnostiziert wurde, allmählich das Interesse und verlagerten ihren Fokus auf den Mund­bereich. Im selben Zeitraum nahm das Interesse von neurotypisch entwickelten Kindern an der Augen­partie hingegen zu.

Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen effektiv, dass das Gehirn von Kindern mit Autismus soziale Informationen auf atypische Weise verarbeitet. So zeigte eine neuere Studie, dass es bereits ab dem Alter von sechs Monaten möglich ist, mit einer Genauigkeit von mehr als 50 Prozent vorauszusagen, ob ein Kind aufgrund seiner Kortexentwicklung in den nächsten beiden Jahren Autismus entwickeln wird.

Insgesamt zeigen sowohl die Studien mit bildgebenden Verfahren als auch die Eye-Tracking-Studien, dass die Entwicklung der betroffenen Kinder sehr früh einen abweichenden Verlauf nimmt. Dies lässt den Schluss zu, dass eine möglichst frühe Intervention wichtig ist, um mindestens teilweise korrigierend einwirken zu können.

Unterstützung und Therapie

Menschen mit Autismus profitieren von einer breiten Palette von unterstützenden Interventionen und Therapien. Diese können Verhaltenstherapie, Sprachtherapie, Ergotherapie und andere individuell angepasste Ansätze umfassen. Die Stiftung Kind und Autismus geht sogar von einer höheren Häufigkeit aus, basierend auf Daten der «Autism Society» und einem Bericht der «Centers for Disease Control and Prevention (CDC)», die eine Häufigkeit von 1 zu 36 (2.77 %) aufzeigen.

Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen
Quelle Häufigkeit
World Health Organization (WHO) Mindestens 1% der Bevölkerung
Autism Society / Centers for Disease Control and Prevention (CDC) 1 zu 36 (2.77%)

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