Die Autismus-Spektrum-Störung (im Folgenden abgekürzt Autismus) ist eine schwerwiegende, früh beginnende, lebenslange und kostenintensive neuronale Entwicklungsstörung, die durch ausgeprägte Beeinträchtigungen in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie durch stereotype und repetitive Verhaltensweisen und Interessen gekennzeichnet ist.
Merkmale des Autismus sind anhaltende, in allen Situationen auftretende, ausgeprägte Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation in Kombination mit den Alltag beeinträchtigenden stereotypen und repetitiven Verhaltensweisen, die bereits seit der frühen Kindheit vorliegen.
Wesentliche Diagnosekriterien sind:
- Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg (3 von 3 der folgenden Merkmale müssen erfüllt sein): 
- Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit (z. B. fehlende wechselseitige Kommunikation oder kaum gemeinsame Freude an der Interaktion).
 - Defizite im nonverbalen sozialen Kommunikationsverhalten (z. B. Fehlen von Gestik, Mimik, Blickkontakt und deren Integration während einer sozialen Annäherung).
 - Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen (z. B.
 
 - Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich störend auf andere Aktivitäten/den Alltag auswirken (mindestens 2 von 4 der folgenden Merkmale müssen erfüllt sein). 
- Stereotype/repetitive Bewegungen, stereotyper/ repetitiver Gebrauch von Objekten (z. B. Aufreihen) oder der Sprache (z. B.
 
 
Die Kombination von Symptomen aus den beiden Kernbereichen ist eine notwendige Voraussetzung für die Diagnose Autismus.
Die aktuell gültigen Diagnosekriterien sind im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) und in der International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11) unter den «Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung» festgelegt.
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Dabei werden die früher getrennten Diagnosen «Frühkindlicher Autismus», «Asperger-Syndrom» und «atypischer Autismus» mittlerweile unter der Kategorie «Autismus-Spektrum-Störung» subsummiert.
Die Prävalenz von Autismus liegt bei zirka 1%, jedoch ist die Anzahl an diagnostischen Untersuchungen bei Verdacht auf Autismus in den letzten Jahren stark gestiegen.
Die Diagnosekriterien für Autismus wurden im Lauf der Zeit mehrfach revidiert und angepasst, um die Vielfalt und Komplexität der Störung besser abzubilden.
Wesentlich ist, dass diese Symptomatik situationsübergreifend, anhaltend und von klinisch relevanter Intensität vorliegt.
Die ersten Anzeichen von Autismus können bereits im ersten Lebensjahr auftreten, wie z. B. ein Mangel an Blickkontakt, Lächeln, sozialer Reziprozität und gemeinsamer Aufmerksamkeit.
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Die Diagnostik von Autismus vor dem 18. Lebensmonat gestaltet sich jedoch schwierig, da die Symptome unspezifisch sind und sich mit anderen Entwicklungsstörungen überlappen können.
Die Diagnosestellung erfolgt dennoch oft erst verzögert im Alter von durchschnittlich 6 bis 7 Jahren.
Belegt ist jedoch, dass ein früher Beginn mit in ihrer Evidenz nachgewiesenen Interventionen bei jungen Kindern mit einem besseren Outcome verbunden ist.
Die Diagnose ASS beruht auf der Beobachtung von Verhaltenssymptomen, die während den ersten zwei Lebensjahren auftreten.
Neuere Studien zeigen, dass bei der Mehrzahl der Kinder die Diagnose ASS ab Ende zweites Lebensjahr (1) (zwischen 18 und 24 Monaten11)) sicher gestellt werden kann.
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Anzeichen, die auf eine Entwicklungsstörung im Zusammenhang mit einer ASS hinweisen, bestehen jedoch häufig schon vor dem Alter von zwei Jahren.
Um das Auftreten von Symptomen einer ASS untersuchen zu können, bevor alle entsprechenden Kriterien erfüllt sind, wurden verschiedene Methoden zur Beobachtung des Verhaltens von Kleinkindern (0-3 Jahre) verwendet.
Dazu benutzen die Studien retrospektive und prospektive Modelle (Literaturübersicht siehe Jones et al., 201413)).
Die Methode der prospektiven Studien besteht hingegen darin, Hochrisikogruppen nachzugehen, wodurch die Probleme der retrospektiven Studien vermieden werden können.
Die bei dieser Art Studie am häufigsten untersuchte Population sind junge Geschwister von Kindern mit der Diagnose ASS.
Aus der empirischen Literatur geht hervor, dass bei Geschwistern von Kindern mit der Diagnose ASS ein erhöhtes Risiko besteht, diese Störung ebenfalls zu entwickeln, wobei die Häufigkeit der Diagnose ASS 10 bis 20% beträgt14,15).
Zusätzliche 28% zeigen einen «autistischen Phänotyp» (Broad Autism Phenotype BAP) mit subklinischen Symptomen wie Entwicklungsrückstand oder Problemen in anderen Entwicklungs- und Verhaltensbereichen (Abb.
Sehr wichtig ist, wie erwähnt, die aus den Studien an sehr jungen Risikokindern hervorgehende Beobachtung, dass die Diagnose ASS bei dieser Population im Alter von 18-24 Monaten bereits stabil ist11).
Diese Studien legen auch nahe, dass die auf ASS hinweisenden Symptome im Alter zwischen 6 und 18-24 Monaten offensichtlich werden11,30).
So können bereits im Alter von 6-12 Monaten Entwicklungsstörungen bei Kindern beobachtet werden, die in der Folge ASS-Kriterien entwickeln, wie z.B. weniger interagierendes Lächeln oder sonstige Mimik, verminderter Blickkontakt, fehlendes gegenseitiges Vokalisieren, fehlendes/vermindertes Vokalisieren und kommunikative Gestik (z.B. «auf Wiedersehen» oder Zeigegeste) oder fehlende Reaktion auf den Vornamen (aus Zwaigenbaum et al., 201912)) (2).
Im Alter von 9-12 Monaten können weitere Frühzeichen beobachtet werden, wie das Auftreten repetitiver Verhaltensweisen und Spiele (z.B. Gegenstände aneinanderreihen, stereotype Arm- und Handbewegungen), unübliches sensorisches Explorieren (z.B. Suche nach taktilen oder visuellen Empfindungen) oder atypische sensorische Reaktionen (z.B.
Zusätzlich zu diesen Zeichen, die dem bei Kindern mit ASS beobachteten Phänotyp angehören, ergaben Forschungsresultate, dass ein motorischer Entwicklungsrückstand bei Risikosäuglingen, obwohl es sich um ein weniger spezifisches Merkmal handelt, ebenfalls auf eine Störung der sozialen Kommunikation schon im Alter von 6-12 Monaten hinweisen kann21).
Bei Säuglingen mit einem ASS-Risiko ist ein motorischer Entwicklungsrückstand deshalb ein Alarmzeichen.
Ein weiteres, besonders wichtiges Element bei der Früherkennung von Symptomen einer ASS ist die Besorgnis der Eltern.
Eine Studie von Mathies et al.22) z.B. hat gezeigt, dass 76% der Eltern Hinweise auf eine ASS bei ihrem Kind vor dem Alter von 18 Monaten korrekt interpretierten (26% vor 12 Monaten, 20% vor 6 Monaten) (Abb.
Die Befürchtungen der Eltern ermöglichen es, Risikokinder von Kindern bei denen sich keine ASS entwickeln wird, schon im Alter von 6 Monaten zu unterscheiden23).
Zusammenfassend haben diese Forschungsergebnisse wichtige Auswirkungen auf die Identifizierung von ASS-Frühzeichen.
Besonderheiten in der Entwicklung von Kindern bei denen eine ASS auftreten wird, können in gewissen Fällen schon im Alter von 6-18 Monaten festgestellt werden, wobei die Diagnose meist zwischen 18 und 24 Monaten gestellt werden kann16).Die meisten Störungen treten im sozial kommunikativen Bereich auf (z.B. verminderter Augenkontakt, Rückstand in der Entwicklung verbaler und nicht verbaler Kommunikation).
Bei der Population mit hohem ASS-Risiko wird eine engmaschige klinische Überwachung empfohlen, um Störungen möglichst früh zu erfassen.
Dies sollte in einer umfassenden Beurteilung von Zeichen einer ASS bestehen, aber auch in der Überwachung der motorischen Entwicklung sowie einer genauen und strukturierten Erfassung der elterlichen Befürchtungen.
Werden solche Entwicklungsauffälligkeiten festgestellt, kann eingegriffen und damit vermieden werden, dass sich die Abweichung in der Entwicklung gegenüber gleichaltrigen Kindern vergrössert.
Ein weiterer wichtiger Punkt für den klinischen Alltag ist die Berücksichtigung der Erfahrungen der Familie24).
Insbesondere wenn das Risikokind bereits ein älteres Geschwister mit einer ASS hat, ist es wichtig, die Familie zu begleiten und auf ihre Gefühle zu hören, wenn eine weitere Betreuung vorgeschlagen wird.
Es werden sehr verschiedenartige (positive und negative) Reaktionen durch Eltern von Kindern beschrieben, bei denen Entwicklungsstörungen festgestellt werden.
Parallel zu den wissenschaftlichen Fortschritten bei der Früherkennung von Anzeichen einer ASS und angesichts der Evidenz der günstigen Auswirkung einer möglichst frühzeitigen Betreuung, interessiert sich die Forschung seit kurzem für Interventionen bei Hochrisikopopulationen (auf Grund von Besorgnis bezüglich klinischer Zeichen und Entwicklung).
Die Diagnostik von Autismus ist mit Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden, die eine hohe fachliche Kompetenz und Erfahrung erfordern.
So besteht eine erhebliche Heterogenität im Phänotyp von Autismus, insbesondere bezüglich der Ausprägung der Symptomatik, der sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten sowie der begleitenden komorbiden Störungen.
Zudem besteht eine hohe Symptomüberlappung zu vielen anderen Störungsbildern.
In Ermangelung spezifischer Biomarker basiert die Diagnostik bis dato auf beobachtbarem Verhalten, auf anamnestischen Angaben der Bezugspersonen (u. a. erhobenen Testergebnissen (z. B. Setting.
Dennoch muss geprüft werden, ob die beschriebene Symptomatik nicht besser durch eine andere Störung erklärt werden kann, da die Symptomatik auch bei vielen anderen psychischen Störungen vorkommen kann.
Im diagnostischen Prozess müssen daher neben dem strukturierten Erfassen der Kernsymptomatik auch eine Abklärung der Komorbiditäten sowie eine differenzialdiagnostische Abgrenzung erfolgen.
Die Trennung zwischen Komorbidität und Differenzialdiagnose stellt hierbei eine grosse Herausforderung im diagnostischen Prozess dar (z. B. bei einer Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsverzögerung und Aufmerksamkeitsstörungen).
Bei Autismus können neben häufigen psychologischen Komorbiditäten (wie z. B. Intelligenzminderung, Aufmerksamkeitsstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen) auch genetische (z. B. Fragiles X-Syndrom), neurologische (z. B. Epilepsie) und Stoffwechselerkrankungen (z. B. Phenylketonurie) komorbid vorliegen.
Komorbiditäten können das Funktionsniveau und den Entwicklungsverlauf von Menschen mit Autismus erheblich beeinträchtigen und Interventionen behindern.
Aufgrund einer hohen Symptomüberlappung mit anderen Störungsbildern hat die differenzialdiagnostische Einschätzung eine hohe Relevanz im diagnostischen Prozess.
Grundsätzlich kommen alle anderen psychischen Störungen differenzialdiagnostisch in Frage.