In der modernen Neurowissenschaft ist das Bewusstsein eines der grossen ungelösten Rätsel. Antonio und Hanna Damasio, beide renommierte Neurowissenschafter an der University of Southern California, haben eine faszinierende Hypothese vorgestellt: Sie verorten die Ursprünge des Bewusstseins in den körperlichen Gefühlen.
Diese Perspektive könnte unser Selbstverständnis als Menschen grundlegend verändern und bietet eine kontrastreiche Ergänzung zu etablierten Theorien, die Bewusstsein bisher vor allem im Bereich der Kognition und Wahrnehmung verankerten.
Bewusstsein: Kognitive Meisterleistung oder mehr?
In der klassischen Neurowissenschaft ist Bewusstsein häufig als Produkt kognitiver und sensorischer Verarbeitung verstanden worden. Diese Sichtweise, die häufig unter dem Begriff des Kognitivismus zusammengefasst wird, betrachtet das Bewusstsein als Ergebnis der komplexen Verarbeitung von Informationen und Reizen durch das Gehirn. Bewusstsein ist demnach die Fähigkeit, sensorische Eindrücke aus der Aussenwelt zu integrieren und sie in ein kohärentes Bild zu formen, das uns als «Ich» erscheint.
In dieser Sichtweise ist Bewusstsein somit eine Art Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten höherer Säugetiere und insbesondere des Menschen. Höhere Gehirnareale wie der präfrontale Kortex, der für komplexe Entscheidungsprozesse und Reflexion zuständig ist, spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, also die Vorstellung von einem «Selbst» als getrennter Entität, wird hier als eine Art Nebenprodukt des kognitiven Fortschritts betrachtet.
Eine weitere prominente Theorie, die sogenannte Global Workspace Theory (GWT), schlägt vor, dass Bewusstsein entsteht, wenn Informationen aus verschiedenen sensorischen und kognitiven Systemen im Gehirn in einem gemeinsamen «Arbeitsraum» zusammenlaufen. Dieser Mechanismus ermöglicht es, dass Informationen aus verschiedenen Gehirnbereichen miteinander interagieren und eine bewusste Wahrnehmung erzeugen. Bewusstsein ist hier also die Fähigkeit des Gehirns, verschiedene Informationen zu einem kohärenten Ganzen zu integrieren und als eine Einheit zu präsentieren.
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Im Gegensatz zu diesen kognitiv orientierten Theorien verlagern Antonio und Hanna Damasio den Ursprung des Bewusstseins in den Bereich der Empfindung und des Gefühls. Sie argumentieren, dass nicht nur die Verarbeitung äusserer Reize oder die kognitive Integration von Informationen Bewusstsein erzeugen, sondern vielmehr auch die Wahrnehmung innerer Körperzustände.
Ihre Hypothese stellt das Konzept der «homöostatischen Gefühle» ins Zentrum: Diese Gefühle, die tief im Körper wurzeln und uns über unseren physischen Zustand informieren - Hunger, Durst, Schmerz, Kälte oder Wohlbefinden -, seien die Grundlage des bewussten Erlebens. Die entscheidenden Bausteine des Bewusstseins liegen in dieser Sicht in den Empfindungen, die wir über unseren Körper wahrnehmen - und weniger in den kognitiven Prozessen, die wir bislang oft als grundlegend betrachteten.
Bewusstsein als Überlebensinstrument
Die Damasios bieten darüber hinaus eine evolutionäre Erklärung für ihre Theorie: Die Entwicklung des Bewusstseins wuchs nicht mit der Fähigkeit, komplexe Gedanken zu fassen, sondern mit der Notwendigkeit, grundlegende Körperzustände zu regulieren und zu überleben. Homöostatische Gefühle - das Wahrnehmen von Hunger, Schmerz oder Temperatur - bieten demnach nicht nur eine Überlebensgrundlage, sondern bilden auch den Ausgangspunkt für das subjektive Erleben. Bewusstsein, so die Damasios, sei keine kognitive Meisterleistung, sondern ein evolutionäres Werkzeug, das es Lebewesen ermöglicht, ihr eigenes Wohlbefinden zu maximieren und Risiken aktiv zu vermeiden.
Manche Forscher mögen befürchten, dass das Modell der Damasios dazu führen könnte, kognitive Prozesse bei der Erklärung des Bewusstseins zu vernachlässigen. Das Bewusstsein des Menschen ist schliesslich nicht nur das Empfinden innerer Zustände, sondern umfasst auch das komplexe Nachdenken über sich selbst und die Welt. Die Damasios selbst argumentieren, dass kognitive Prozesse durchaus eine wichtige Rolle spielten, aber dass diese ohne das Fundament der Gefühle gar nicht entstehen könnten. Die Fähigkeit zu fühlen sei die Voraussetzung, aus der später kognitive Reflexion wachsen könne.
Der Ansatz der Damasios könnte auch für die Therapie und Behandlung psychischer Erkrankungen eine Rolle spielen. Wenn wir das Bewusstsein und das Selbstverständnis des Menschen als tief im Körper verwurzelt betrachten, könnten Therapiemethoden, die auf Körperwahrnehmung und Empfindung abzielen, eine neue Bedeutung gewinnen. Achtsamkeitsbasierte Therapieformen oder körperorientierte Verfahren könnten einen direkten Zugang zum Bewusstsein bieten, indem sie die Patienten lehren, ihre inneren Körperempfindungen wahrzunehmen und zu interpretieren. Dies könnte bei der Behandlung von Angstzuständen oder Depressionen hilfreich sein, da Patienten durch den Fokus auf ihren Körper lernen, ihre Emotionen und Bedürfnisse besser zu verstehen und zu regulieren.
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Die Theorie der Damasios rückt also den Menschen als fühlendes, empfindsames Wesen ins Zentrum und könnte dazu beitragen, die Therapie von einer rein kognitiven auf eine ganzheitlichere Ebene zu heben. In einer Zeit, in der das Selbst oft mit Denkleistung gleichgesetzt wird, erinnert uns diese Sichtweise daran, dass Bewusstsein mehr ist als nur ein komplexes Rechenmodell. Das Menschsein beginnt in den tiefsten Schichten des Körperempfindens - und genau dort könnte die Heilung ansetzen.
In einer zunehmend kognitiv orientierten Welt könnte diese Rückbesinnung auf das Fühlen nicht nur die Neurowissenschaft bereichern, sondern auch unser Verständnis für uns selbst als fühlende, lebendige Wesen vertiefen.
Das Baader-Meinhof-Phänomen: Wenn die Wahrnehmung täuscht
Das Baader-Meinhof-Phänomen, auch bekannt als Frequenzillusion, bezeichnet eine kognitive Verzerrung, bei der etwas nach erstmaliger bewusster Wahrnehmung plötzlich häufiger aufzutreten scheint. Dieses Phänomen tritt auf, wenn nach dem Lernen oder Bemerken eines neuen Elements der Eindruck entsteht, dass dieses überall auftaucht, obwohl es nicht häufiger vorkommt als zuvor.
Hierbei handelt es sich um eine subjektive Wahrnehmung, bei der das Gehirn selektiv Informationen beachtet, die kürzlich als relevant eingestuft wurden.
Psychologische Mechanismen hinter dem Baader-Meinhof-Phänomen
Das Baader-Meinhof-Phänomen zeigt, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und interpretiert, was zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen kann.
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- Selektive Aufmerksamkeit: Nach der Wahrnehmung von Neuem oder Ungewöhnlichem richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt darauf. Dadurch wird dieses Element häufiger wahrgenommen und besser erinnert, was den Eindruck erhöhter Häufigkeit erzeugt.
 - Bestätigungsverzerrung (Confirmation Bias): Es wird aktiv nach Informationen gesucht, die jüngste Erfahrungen oder neue Kenntnisse bestätigen, was den Eindruck der Häufigkeit verstärkt.
 - Verfügbarkeitsheuristik: Neue Konzepte oder Informationen sind kognitiv leichter verfügbar. Dies führt zur Überschätzung ihrer tatsächlichen Häufigkeit, da sie schneller in den Sinn kommen.
 - Gedächtnisverzerrungen: Das Gedächtnis erinnert sich besonders gut an emotional aufgeladene, persönlich relevante oder neuartige Informationen, was den Eindruck der Häufigkeit verstärkt.
 - Priming: Aktives Nachdenken oder Diskutieren über ein Thema führt dazu, dass das Gehirn die Information als relevant einstuft und nicht herausfiltert.
 - Musterbildung im Gehirn: Das Gehirn neigt dazu, neuronale Muster zu erzeugen, um Informationen zu speichern und zu ordnen. Die wiederholte Wahrnehmung eines Elements verstärkt solche Muster.
 
Neurowissenschaftliche Mechanismen des Baader-Meinhof-Phänomens
Das Baader-Meinhof-Phänomen lässt sich auf neurowissenschaftlicher Ebene durch mehrere miteinander verbundene Prozesse im Gehirn erklären.
- Aktivierung des Aufmerksamkeitsnetzwerks: Bei der Wahrnehmung von Neuem oder Interessantem wird das Aufmerksamkeitsnetzwerk aktiviert, einschliesslich präfrontalem Cortex, parietalem Cortex und anterioren cingulären Cortex. Dies erhöht die Sensibilität für ähnliche Stimuli.
 - Verstärkung neuronaler Verbindungen: Wiederholte Wahrnehmungen des Phänomens stärken die neuronalen Verbindungen durch synaptische Plastizität.
 - Selektive Filterung im Thalamus: Der Thalamus beginnt beim Baader-Meinhof-Phänomen, Informationen zu filtern, die mit dem neu gelernten Konzept verbunden sind, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass relevante Informationen bewusst wahrgenommen werden.
 - Dopamin-Ausschüttung: Die Entdeckung von Neuem oder die Bestätigung einer Erwartung kann zu einer Dopamin-Ausschüttung führen, was das Gefühl der Belohnung verstärkt und die Motivation erhöht, nach ähnlichen Erfahrungen zu suchen.
 - Aktivierung des Default Mode Network: Dieses Netzwerk, aktiv bei Inaktivität, ist an Selbstreflexion und dem Nachdenken über vergangene und zukünftige Ereignisse beteiligt. Es trägt dazu bei, häufiger über das neue Konzept nachzudenken und es in verschiedenen Kontexten wahrzunehmen.
 
Vorurteile und Wahrnehmung
Eine erste Voraussetzung für Vorurteile sind Mängel in unserem Wahrnehmungssystem. Schon Experimente zu optischen Täuschungen zeigen das. Besonders bei der Wahrnehmung anderer Menschen spielen aber auch viele psychologische Faktoren eine Rolle. Eine objektive Wahrnehmung anderer gibt es nicht.
Psychologen haben eine Reihe von Effekten erkannt: So spielt etwa der erste Eindruck eine Rolle. Ist dieser schlecht, haben wir die Person oft bereits abgeschrieben, bevor wir sie näher kennengelernt haben. Der sogenannte Haloeffekt (vom griechischen Wort «halo» für Schein) bewirkt, dass wir von einer Einzeleigenschaft auf den ganzen Menschen schliessen und ihm so natürlich nicht gerecht werden. Wer eine Unordnung im Auto hat, den halten wir gleich für einen unordentlichen oder sogar unzuverlässigen Menschen.
Wir sehen, was wir sehen wollen. Unsere Wahrnehmung ist selektiv. Wir nehmen das bevorzugt wahr, was in unser Weltbild passt und was unseren Vorurteilen entspricht. Wir schauen durch eine gefärbte Brille. Wenn dann etwas eine ganz andere Farbe hat, erzeugt dies eine Spannung. Der US-Psychologe Leon Festinger nannte das «kognitive Dissonanz». Und weil wir es schlecht ertragen, wenn Wahrnehmungen nicht zusammenpassen, biegen wir unsere Weltsicht ein wenig zurecht. Wenn unser bester Freund einen Dritten völlig ablehnt, den wir eigentlich nett fanden, korrigieren wir unsere Ansicht ins Negative, und die Unstimmigkeit ist beseitigt.
Wir haben die Tendenz, nicht nur Fakten, sondern auch Menschen zu schubladisieren: Jugendliche aus dem Balkan sind Raser, alte Leute reden immer nur über Krankheiten, Franzosen sind gute Liebhaber, Blondinen sexy und so weiter.
Die Ursache für all diese Vereinfachungen liegt wohl darin, dass es uns ein Gefühl von Sicherheit gibt, wenn wir die Welt und die Menschen in Kategorien geordnet haben. Wir halten deshalb auch so zäh an unseren Vorurteilen fest.
Das kann für andere sehr schmerzhaft sein, weil man sich nicht wirklich wahrgenommen fühlt, wem voreingenommen begegnet wird. Da Menschen so unterschiedlich sind und sich dauernd wandeln, wird man ihnen nur gerecht, wenn man sich kein starres Bild von ihnen macht. Neben natürlicher Neugier hilft uns dabei unsere angeborene Empathiefähigkeit, unser Einfühlungsvermögen. Spiegelnervenzellen in unserem Gehirn lassen uns mit Gefühlen anderer Menschen mitschwingen. So können wir erkennen, wie es ihnen geht, und spüren, wer sie sind.
Weniger voreingenommen: So gehts
Im schlimmsten Fall führen Vorurteile zu Rassismus und Diskriminierung und richten viel Leid an. Aber auch im Alltag haben Mängel in der Personenwahrnehmung eine grosse Bedeutung. Kinder können sich nur optimal ihrem Wesen gemäss entwickeln, wenn sie von den Eltern vorurteilslos wahrgenommen werden. Auch wer fixe Vorstellungen von seinem Partner entwickelt hat, nimmt ihn nicht mehr wirklich wahr. Der oder die Betroffene wird sich zunehmend ungeliebt fühlen.
Aber man kann sich von ihnen lösen, wenn man sich an einige Vorsätze hält:
- Bewahren Sie sich einen Anfängergeist, bleiben Sie neugierig, interessieren Sie sich ganz einfach für die Welt und die Menschen.
 - Verfeinern Sie Ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen.
 - Entwickeln Sie eine Sensibilität für eigene Vorurteile: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.
 - Entwickeln Sie die Bereitschaft, Menschenbilder und Weltbilder jederzeit zu revidieren.
 - Wenn Sie Menschen mit Vorurteilen begegnen: Versuchen Sie, ihnen die Augen für die Wirklichkeit zu öffnen.
 
Phänomenologie der Wahrnehmung
René Descartes (1596 - 1650) gilt heute allgemein als Vater der modernen Philosophie und als philosophischer Begründer des modernen naturwissenschaftlichen Denkens. Eine seiner wichtigsten Anschauungen besagt, dass in der geschaffenen Welt grundsätzlich zu unterscheiden sei zwischen den erkennenden Subjekten und den räumlich ausgedehnten Objekten. Auf der Grundlage dieser Betrachtungsweise kommt der Wahrnehmung durch die Sinne die Funktion zu, dem wahrnehmenden Subjekt Kunde zu geben von der objektiv gegebenen Beschaffenheit der dinglichen Welt.
Der nachfolgend entwickelte Standpunkt wird von der als ‚Phänomenologie‘ bezeichneten philosophischen und psychologischen Richtung vertreten. Das Subjekt und das Objekt dürfen nicht als grundsätzlich getrennte Gegebenheiten verstanden werden, sondern sind vielmehr zwei Pole in einem beide umfassenden Geschehen. Man könnte sie mit den Brennpunkten einer Ellipse vergleichen: Alle Strahlen, die von F1 ausgehen, sammeln sich, indem sie durch die Peripherie der Ellipse reflektiert werden, in F2 - und umgekehrt.
Vergegenwärtigen wir uns die Konsequenzen dieser Auffassung im Hinblick auf das Subjekt: Das Subjekt (das Ich) ist demnach nichts in sich Feststehendes, gegen aussen Abgeschlossenes, das sich ohne Bezug zu irgendwelchen Objekten denken liesse, sondern gewinnt seine jeweilige Gestalt vielmehr in der Art und Weise, wie es sich in jedem Augenblick auf die Objekte - die Dingwelt - bezieht. Es gibt somit kein „leeres Bewusstsein“, das wie ein leeres Gefäss zu füllen wäre, sondern „Bewusstsein“ bedeutet immer schon „Bewusstsein von etwas“.
Die Objekte, worauf sich das Subjekt in seinem bewussten Sein bezieht - d. h. mit welchen es sich durch die Akte der Wahrnehmung verbindet - gestalten das Wesen des wahrnehmenden Subjekts wesentlich mit. Ein „leeres“ Subjekt, ohne allen Bezug zu Objekten, ist nicht denkbar. Es lässt sich daher mit vollem Recht sagen, dass ein Mensch, der sich in seinen Wahrmehmungen beispielsweise auf ein kriegerisches Ereignis bezieht, anders ist als dann, wenn er sich in seiner Wahrnehmung mit einer blühenden Wiese verbindet.
Auch die Objekte - verstanden als durch unser Bewusstsein in ihrem So-Sein erkannte Sachverhalte - dürfen nicht aufgefasst werden als an sich selbst, d. h. unabhängig vom subjektiven Bewusstsein bestehende Gegebenheiten. Die physikalischen Wirkungen, die von der Dingwelt ausgehen, sind ohne ein wahrnehmendes Subjekt (ein Wesen, das dafür empfänglich ist) noch keine Reize; sie werden es erst durch die sinnliche Empfänglichkeit des Menschen (und der übrigen Lebewesen). Darüber hinaus ist das gesamte Reiz-Angebot völlig chaotisch und muss daher - im Akt des Wahrnehmens - vom Subjekt erst strukturiert, d.h. zu bedeutungsvollen Sinnganzen (zu „Gestalten“) geordnet werden.
Insofern konstituieren sich (‚entstehen‘) die Objekte erst im Akt der Wahrnehmung und sind in mehr oder weniger starkem Grade abhängig vom wahrnehmenden Subjekt. Daher sind selbst dann, wenn identische Reize auf die Sinnesorgane verschiedener Subjekte treffen, die Wahrnehmungen verschieden. Aus all dem folgt, dass der Prozess der Wahrnehmung keinesfalls als Vorgang zu verstehen ist, in welchem das Subjekt ein passiver Empfänger von an sich schon bedeutungsvollen Reiz-Konfigurationen ist.
Gestaltpsychologie
Die Vertreter der ‚Berliner Schule‘ (Begründer: M. Wertheimer, K. Koffka, W. Köhler, K. Lewin) wenden sich gegen den ‚Elementarismus‘, der alle komplexen Sachverhalte (Bewusstsein, Erleben, Wahrnehmung etc.) letztlich als eine Zusammensetzung von einfachsten basalen (grundlegenden) Elementen betrachtet. Die Gestaltpsychologen vertreten demgegenüber den Standpunkt, dass ‚das Ganze vor den Teilen‘ sei, d.h. dass die Teile eines komplizierten Sachverhalts letztlich nur in ihrer Funktion als Elemente eines übergeordneten Ganzen sinnvoll verstanden werden können.
Immer, wenn Teile aus einer Ganzheit herausgelöst werden, geht etwas verloren, das nur im Ganzen, aber niemals in den Teilen zu finden ist.
Definition: Eine Gestalt ist die letzte, nicht mehr reduzierbare Einheit (Ganzheit) und ist übersummativ, d. h. mehr als die Summe ihrer Teile.
Beispiel: Das Erscheinungsbild des menschlichen Leibes kann als Gestalt angesprochen werden. Er ist keinesfalls eine Zusammensetzung von Rumpf, Armen, Beinen und Kopf, denn alle diese Teile können nicht isoliert bestehen (und zwar nicht nur physiologisch verstanden, sondern auch in ontologischer [seinsmässiger] Hinsicht), sondern werden zu dem, womit sie unsere Sprache bezeichnet, erst durch ihren Bezug zum Ganzen.
Was wir auch immer wahrnehmen, immer ist es an sich schon eine Gestalt, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ferner unterliegt unsere Wahrnehmung insgesamt der allgemeinen Tendenz, überall möglichst gute Gestalten zu erfassen.
Merkmale einer guten Gestalt sind: Gesetzmässigkeit, Einfachheit, Stabilität, Symmetrie, Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Ausgeglichenheit, Knappheit und - im visuellen Bereich - Orientierung nach Senkrecht-Waagrecht. Dabei müssen selbstverständlich im Einzelfall nicht alle diese Merkmale zutreffen.
Gestalten treten stets als Figur hervor und weisen den übrigen Reizen die Bedeutung des Grundes zu, von dem sie sich abheben. Die Figur ist begrenzt, der Grund unbegrenzt. Die Figur ist bestimmt, fest, geschlossen, der Grund locker, unbestimmt, offen. Die Figur tritt hervor, der Grund zurück. Das gilt nicht bloss im visuellen Bereiche, sondern auch in jedem andern.
Aus all dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das Chaos - verstanden als vollkommener Wirrwarr beziehungsloser Reize - weder wahrgenommen noch vorgestellt werden kann, weil das Wahrnehmen und das Vorstellen (als inneres Wahrnehmen) an sich schon ein ordnender, Gestalten bildender Prozess ist. Das Chaos lässt sich daher lediglich denken, ist mithin völlig abstrakt.
Was uns Kippfiguren und Vexierbilder lehren
Unter ‚Kippfiguren‘ verstehen wir zeichnerische Gebilde, welche bewusst so gestaltet sind, dass die optische Reizkonfiguration zwei verschiedene Deutungen zulässt. So kann man z. B. in derselben Figur entweder eine alte oder eine junge Frau sehen, ein Gefäss oder zwei gegeneinander gerichtete Gesichts-Profile, eine Maus oder einen Männerkopf usf.
Diese Bilder machen uns bewusst, dass beim Wahrnehmen nicht einfach Reize auf unserer Netzhaut abgebildet und mechanisch ins Gehirn geleitet werden, sondern dass wir gar nicht anders wahrnehmen können, ohne Gestalten zu bilden und diese zu deuten. Dieser Sachverhalt wird besonders eindrücklich dadurch belegt, dass wir im selben Augenblick stets nur eine Figur sehen können und dass, wenn die andere Figur gesehen werden soll, die Deutung schlagartig umkippt.
Derselbe erleben wir beim Betrachten von ‚Vexierbildern‘. In diesen Zeichnungen, welche früher fast zwingend auf die Unterhaltungsseite von Zeitschriften und Zeitungen gehörten, werden bewusst irgendwelche Figuren auf raffinierte Weise versteckt, so dass man oft sehr lange suchen muss, bis sich einem alle möglichen Bestandteile von Bäumen, Wolken, Gerätschaften usf. sowie die bewusst so gestalteten Zwischenräume zur gesuchten Gestalt zusammenfügen wollen. Auch hier geht es darum, in einem bewusst diffus gehaltenen Reizangebot Gestalten zu bilden.
In vielen Kippfiguren und Vexierbildern beruhen die überraschenden Effekte auf einer Umdeutung von Figur und Grund. Dieses ‚Aha-Erlebnis‘ belegt, dass Einsicht in die Problematik stattgefunden hat. Daraus ersehen wir, dass letztlich das Wahrnehmen als einsichtiges Erfassen von Gestalten identisch ist mit dem einsichtigen Lösen von Problemsituationen. In beiden Fällen geht es darum, etwas als grundsätzlich problematisch Empfundenes plötzlich richtig, d. h. als gedeutete Gestalt, zu sehen.
Einerseits sind es Bedingungen, die im Reizfeld selbst gegeben sind (objektive Bedingungen), andererseits sind es Bedingungen, die sich im wahrnehmenden Subjekt vorfinden (subjektive Bedingungen).
Die Gestaltpsychologen haben diese Bedingungen untersucht, wobei sie jenen, die im Reizfeld selbst gegeben sind und welche die Bildung identischer Gestalten durch unterschiedliche Subjekte begünstigt, ein besonderes Gewicht beigemessen haben. Diese objektiven Bedingungen wurden in den ersten fünf ‚Gestaltgesetzen‘ festgehalten. Sie sagen aus, wie die Mehrzahl der wahrnehmenden Subjekte Reizsituationen strukturiert, in welchen ganz bestimmte Bedingungen objektiv gegeben sind. Die fünf Gestaltgesetze können verstanden werden als Konkretisierungen des Prägnanzgesetzes; sie sind diesem folglich untergeordnet. Aus ihnen geht hervor, dass es Bedingungen in optischen Reizfeldern gibt, die bei der Mehrzahl der Menschen - unabhängig von individuellen Unterschieden - zu denselben Gestaltbildungen führen. In einer konkreten Situation wirken zumeist mehrere der im folgenden dargestellten Gesetze.
Gestaltgesetze
Die Gestaltgesetze beschreiben, wie Menschen visuelle Elemente gruppieren und organisieren, um kohärente Formen oder Muster zu bilden. Diese Gesetze helfen uns zu verstehen, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und interpretieren.
- Gesetz der Ähnlichkeit: Ähnliche Elemente werden als zusammengehörig wahrgenommen.
 - Gesetz der Nähe: Elemente, die nahe beieinander liegen, werden als Gruppe wahrgenommen.
 - Gesetz der Geschlossenheit: Unvollständige Formen werden vom Gehirn ergänzt, um eine geschlossene Form wahrzunehmen.
 - Gesetz der Kontinuität: Elemente, die eine durchgehende Linie oder Kurve bilden, werden als zusammengehörig wahrgenommen.
 - Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Elemente, die sich in die gleiche Richtung bewegen, werden als Gruppe wahrgenommen.
 
Diese Gesetze sind grundlegend für unser Verständnis der visuellen Wahrnehmung und spielen eine wichtige Rolle in Bereichen wie Design, Kunst und Psychologie.
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