Depression und Verhaltensauffälligkeiten: Ein umfassender Überblick

Laut einer aktuellen Lehrerbefragung in Zürich und Winterthur sind über 20 Prozent der Schüler verhaltensauffällig. Mehrere internationale wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen diesen Befund: Einer von fünf Schülern bringt ein problematisches Verhalten mit.

Diese Kinder und Jugendlichen sind renitent, stören den Unterricht, stellen Mitschüler und Lehrer bloss. In Extremfällen sind sie gewalttätig. Andere dagegen, auch das gilt als Verhaltensauffälligkeit, ziehen sich zurück, versinken in Schweigen und Depression.

Die Debatte um den Begriff "Verhaltensauffälligkeit"

Wissenschaftler debattieren bereits darüber, ob der Begriff «Verhaltensauffälligkeit» dem Problem überhaupt gerecht wird - oder es eher verharmlose. Einige ziehen es vor, von «Verhaltensstörung» zu sprechen.

Indikatoren legen nahe, dass die Zahl der Problemkinder steigt. Im Kanton Zürich nahmen Sonderschüler zwischen 2010 und 2017 um 40 Prozent zu. Dazu zählen Kinder mit Behinderungen, Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Viele werden in den normalen Regelklassen unterrichtet. Ähnlich ist der Trend in anderen Kantonen.

Inklusion und sonderpädagogischer Förderbedarf

Die Bildungspolitik hat unter dem Stichwort «Inklusion» ein umfassendes Versprechen abgelegt: Alle Kinder sollen ihren Platz in einer Schweizer Regelschule finden - unabhängig von einer Behinderung, einer Lernschwäche oder einer Verhaltensstörung. Die Schule soll allen gerecht werden.

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Seither ringen die Schulen in der Schweiz damit, diesen Anspruch in die Wirklichkeit zu überführen. Zehntausende Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf müssen integriert werden - die wenigsten von ihnen sitzen im Rollstuhl. Die meisten haben eine Lernbehinderung oder die Diagnose: Störung der «emotionalen und sozialen» Entwicklung - eine andere Bezeichnung für Verhaltensauffälligkeit.

Wie viele Schüler, die den Unterricht nicht aus eigener Kraft bewältigen können, landesweit in den Regelklassen sitzen, ist unklar. Entsprechende statistische Erhebungen haben die Kantone längst angekündigt - sie liegen bis heute nicht vor.

Kinder von depressiven Eltern

Für Kinder, deren Eltern an einer psychischen Störung leiden, kann das sehr belastend sein. Das Schlimme: Da sich die meisten Kinder schämen und sich auch nicht getrauen über ihre Probleme zu reden, gehen sie oft unter oder gar vergessen. «Umso wichtiger ist es, dass wir uns um sie kümmern», sagt Kurt Albermann, Chefarzt Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ und Stv. Direktor Departement Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur. Albermann geht von schweizweit 300'000 betroffenen Kindern und Jugendlichen aus.

Das Risiko, an Depressionen zu erkranken, ist bei Kindern von Eltern mit einer depressiven Erkrankung um das 2- bis 6-Fache erhöht. Bis zu 60% der Kinder von Eltern mit einer Depression entwickeln im Verlauf der Kindheit und Jugend selbst eine psychische Störung. Insbesondere Kinder von Müttern mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden unter den Auswirkungen. Sie zeigen besonders häufig Verhaltensauffälligkeiten und -störungen im sozialen und emotionalen Bereich.

Albermann: «Wir wissen aus Untersuchungen, dass die meisten Fachpersonen zwar sagen können, ob ihre Patient*innen minderjährige Kinder haben, doch mehr als die Hälfte wusste nicht wie es diesen geht», sagt Albermann.

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Fatal ist, dass Kinder sich gerne die Schuld für die Probleme ihrer Eltern geben. Sie glauben, dass Mami weinen muss, weil sie das Zimmer nicht aufgeräumt oder das Gemüse nicht aufgegessen oder mit dem Geschwisterkind gestritten haben. Es ist daher entscheidend, dass Betroffene ihre Kleinen von der Schuld freisprechen und sie altersentsprechend über ihre Erkrankung informieren.

Doch Albermann warnt: «Nur zu sagen ‹Mami muss einfach weinen, Ihr seid nicht schuld daran› hilft nur zum Teil. Viele Kinder können das nicht einordnen, fühlen sich hilflos und machen sich Sorgen. Und die Mutter ist dann je nachdem auch nur eingeschränkt in der Lage, auf deren Bedürfnisse einzugehen und Hilfe für sich selbst oder die Kinder zu holen, sollte das länger gehen oder häufiger passieren», sagt Albermann.

Es empfehle sich, frühzeitig eine Fachperson beizuziehen und als ersten Schritt beispielsweise den Haus- oder Kinderarzt darauf anzusprechen. Es sei wichtig, «sich zu trauen über eine psychische Belastung oder Erkrankung zu sprechen - wie über ein gebrochenes Bein nach einem Skiunfall».

Angststörungen und ihre Erscheinungsformen

Bei diesen Störungen stellen Manifestationen von unrealistischer bzw. übermäßig ausgeprägter Angst die Hauptsymptomatik dar. Mit Ausnahme der Trennungsangststörung ist die Angst jedoch nicht, wie bei den phobischen Störungen, auf bestimmte Objekte bzw. Situationen begrenzt. Depressive und Zwangssymptome, sogar einige Elemente phobischer Angst, können vorhanden sein, vorausgesetzt, sie sind eindeutig sekundär oder weniger ausgeprägt.

Auftreten wiederkehrender, ausgeprägter Angstattacken, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken, nicht vorhersehbar sind und deshalb zu Erwartungsangst führen können. Eine Panikattacke ist eine klar abgrenzbare Episode von intensiver Angst oder Unbehagen, bei der die nachfolgend genannten Symptome abrupt auftreten und innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreichen können:

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  • Herzklopfen
  • Schwitzen
  • Zittern
  • Mundtrockenheit
  • Erstickungsgefühl
  • Hyperventilation
  • Brustschmerz oder Beklemmungsgefühl
  • Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden
  • Schwindel
  • Entfremdungsgefühle (Derealisation oder Depersonalisation)
  • Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden
  • Angst zu sterben
  • Hitzegefühle oder Kälteschauer
  • Parästhesien

Die intensive Angst führt meist zum fluchtartigen Verlassen des Ortes. Die einzelnen Anfälle dauern meist nur wenige Minuten. Die Situation, in der eine Panikattacke auftritt, wird danach häufig vermieden. Einer Panikattacke folgt meist die ständige Furcht vor einer erneuten Attacke.

Frei flottierende, anhaltende Angst mit vielfältigen, insbesondere vegetativen Symptomen; im Kindes- und Jugendalter häufig weniger typische Beschwerden und spezifische vegetative Symptome (andere emotionale Störung des Kindesalters, Störung mit Überängstlichkeit). Symptome von Angst treten an den meisten Tagen über eine Dauer von mindestens mehreren Wochen auf: Befürchtungen (übertriebene Sorgen bezüglich alltäglicher Ereignisse und Probleme wie die Schul- oder Arbeitssituation; Sorgen über zukünftiges Unglück; Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren; Konzentrationsschwierigkeiten, Nervosität). Bei Kindern herrschen oft das Bedürfnis nach Beruhigung und somatische Beschwerden vor.

Gleichzeitiges Bestehen von Angst und Depression, ohne dass eine der beiden Störungen überwiegt. Die Symptome erfüllen weder die Kriterien einer Angst- noch einer depressiven Störung.

Angst vor der Trennung von wichtigen Bezugspersonen, die erstmals während der ersten Lebensjahre auftritt und durch außergewöhnlichen Schweregrad sowie abnorme Dauer zu einer Beeinträchtigung sozialer Funktionen führt. Extremes und wiederholtes Leiden in Erwartung, während oder unmittelbar nach der Trennung von einer Hauptbezugsperson (z.B. Unglücklichsein, Schreien, Wutausbrüche, Anklammern).

Psychische Gewalt und ihre Auswirkungen

Psychische Gewalt wird definiert als vorsätzliche Anwendung von Einfluss und Macht sowie wiederholte nicht situations- oder verhaltensbezogene Verhaltensmuster einer Betreuungsperson. Das Kind kann die elterliche Reaktion nicht mit der konkreten Situation in Bezug bringen, sondern empfindet diese als direkte, persönliche Aggression auf seine Person.

Massive und regelmässige Konflikte in der Familie über eine längere Dauer hinweg bedrohen die emotionale Sicherheit der Kinder und können Niedergeschlagenheit, Depressionen, Ängstlichkeit, Unruhe oder Aggressivität auslösen. Langfristig kann ein chronischer Zustand der emotionalen Verunsicherung die psychische Gesundheit des Kindes nachhaltig beeinträchtigen und zu stressbedingten körperlichen Problemen führen.

Viele Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die sich in Unruhe oder Aggressivität, aber auch Niedergeschlagenheit oder Ängstlichkeit äussern; einige Kinder zeigen Anzeichen einer Traumatisierung. In familiären Konfliktsituationen fehlen Eltern zudem häufig die Ressourcen, um in angemessener Weise auf die Bedürfnisse der Kinder zu reagieren.

Jugenddepression erkennen und behandeln

Verhält sich das Kind wegen der Pubertät auffällig? Oder deuten seine Symptome tatsächlich auf eine Depression hin? Dies lässt sich oft nicht einfach beantworten. Die häufigste psychische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen ist die Depression. Oft zeigt sich die Krankheit in diesem Alter zum ersten Mal. Mädchen und Jungen sind bis zur Pubertät ungefähr gleich häufig betroffen, danach nehmen die Fälle bei Mädchen zu. Sie erkranken dann doppelt so häufig.

Eine Depression bei Jugendlichen und Kindern ist oft nicht auf den ersten Blick erkennbar. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die Erkrankung zeigt sich nicht bei allen Betroffenen gleich, die Symptome sind vielfältig. Häufig werden sie zudem fälschlicherweise der Pubertät statt einer Depression zugeordnet. Nicht selten treten bei Jugendlichen neben einer Depression noch weitere psychische Erkrankungen auf. Dazu gehören Angststörungen, Suchtverhalten, Essstörungen oder Zwangserkrankungen.

Eigentlich gelten für Kinder und Jugendlichen die gleichen Diagnosekriterien wie für Erwachsene. Gewisse typische Symptome zeigen sie jedoch oftmals nicht. Andere Symptome wiederum gehören zur Phase des Erwachsenwerdens dazu und sind per se nicht besorgniserregend. Deshalb muss das Alter des Kindes oder des Jugendlichen immer berücksichtigt werden. Zusätzlich ist es relevant, ob die Symptome über eine längere Zeit anhalten oder nur vorübergehend sind. Die Diagnose stellt jeweils ein Arzt oder eine Psychotherapeutin.

Wird eine Depression bei Kindern und Jugendlichen nicht behandelt, kann die Erkrankung chronisch werden. In einem ersten Schritt ist es wichtig, der oder dem Betroffenen altersgerecht zu erklären, was eine Depression ist. Danach folgt die Psychotherapie. Oft zieht die Therapeutin oder der Therapeut dabei auch die Familie oder weitere Bezugspersonen ein.

Signalisieren Sie Ihrem Kind, dass es jederzeit mit Ihnen über seine Probleme sprechen kann. Hören Sie aufmerksam zu, wenn sich Ihr Kind Ihnen anvertraut. Planen Sie verschiedene Aktivitäten oder Ausflüge. Bleiben Sie positiv. Loben Sie Ihr Kind, wenn es etwas gut gemacht hat. So stärken Sie sein Selbstbewusstsein. Wenden Sie sich sofort an eine Fachperson, wenn Ihr Kind Suizidgedanken äussert.

Psychische Störungen bei intellektueller Entwicklungsstörung

Menschen, die von einer Intellektuellen Entwicklungsstörung betroffen sind, weisen ein grösseres Risiko auf, körperlich oder psychisch zu erkranken. Schätzungen zufolge leiden 10-60% der betroffenen Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Störung. Vor allem jüngere Kinder leiden häufig zusätzlich an einer psychischen Erkrankung.

Die Diagnose von psychischen Störungen ist erschwert, da gewisse Symptome der Intellektuellen Entwicklungsstörung denjenigen von psychischen Störungen gleichen. Zudem berichten Betroffene einer Intellektuellen Entwicklungsstörung weniger häufig von psychischen Symptomen, auch wenn sie vorhanden sind. Es ist auch möglich, dass Symptome der Intellektuellen Entwicklungsstörung sich über die Zeit verstärken und intensivieren, was ein Zeichen für eine psychische Störung sein könnte.

Einige psychische Störungen, die häufig gemeinsam mit der Intellektuellen Entwicklungsstörung auftreten:

  • Schizophrene Psychosen
  • Affektive Störungen (Depressionen, Manien, bipolare Störungen)
  • Angststörungen
  • Posttraumatische Belastungsstörung
  • ADHS
  • Tiefgreifende Entwicklungsstörung (Autismus-Spektrum-Störung)
  • Verhaltensauffälligkeiten (aggressives Verhalten, sozialer Rückzug)
  • Chronische Schmerzen
  • Demenz

Verhaltensauffälligkeiten im schulischen Kontext

Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen sind ein zentrales Thema der Heilpädagogik. Eine Bedarfsanalyse zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in der Schule von Xenia Müller und Markus Sigrist befragte 1'529 Personen aus Regel- und Sonderschulen aus 17 Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein.

Wichtige Erkenntnisse der Studie:

  1. Verhaltensauffälligkeiten werden im schulischen Alltag oft erlebt.
  2. Am stärksten werden jene Störungen wahrgenommen, welche direkt den Unterricht betreffen (Unterbrechungen, fehlende Hausaufgaben, freche Antworten). Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten werden häufiger wahrgenommen als internalisierende Probleme (sozialer Rückzug, Ängstlichkeit, Depressivität).
  3. Verhaltensauffälligkeiten sind nicht nur häufig, sondern werden auch als belastend wahrgenommen. Laute Verhaltensprobleme, die den Unterricht stören, belasten am meisten.
  4. In den Schulen ist eine Vielzahl von Programmen und Konzepten im Einsatz. Im Durchschnitt benutzen fast 9 von 10 Personen irgendein Programm, ob präventiv oder intervenierend. Es scheint also, dass in der Praxis viel unternommen wird. Es zeigt sich zudem, dass Massnahmen des «Classroom Managements» am häufigsten eingesetzt werden.
  5. Keines der Programme ragt deutlich heraus, wenn es darum geht, wie hilfreich sie für die Lehrpersonen sind. Alle Programme liegen im mittleren Bereich. Vermutlich reichen Programme allein nicht aus, um störende Verhaltensweisen so zu verändern, dass Belastungen signifikant abnehmen. Die Unterstützung durch und die Zusammenarbeit mit Fachpersonen bzw. Kolleginnen und Kollegen ist ein sehr wichtiger Aspekt, der nicht durch ein Programm ersetzt werden kann.
  6. Die ganzheitlichen Konzepte werden als hilfreicher beurteilt als kleinere Programme. Hier steckt eine Philosophie dahinter, das ganze Schulteam zieht am gleichen Strick.
  7. Für die Unterstützung werden zu 84% das Schulteam, 83.3% die SHP, 82% andere Lehrpersonen, 79.9% die Schulpsychologie (SPD), 76.4% die Schulsozialarbeit (SSA), 74.6% päd.-therap.

Für jene Verhaltensauffälligkeiten, die am häufigsten sind und am meisten belasten, verlangen die Betroffenen auch am meisten Unterstützung: schulisches Problemverhalten, oppositionelles Trotzverhalten, Aggressionen. Die schulnahmen Personen sind besonders wichtig. Lehrpersonen aus dem Team werden dabei als ähnlich hilfreich beurteilt wie die SHP, obwohl diese ja mehr Fachwissen aufweisen sollte. Das könnte daran liegen, dass die Lehrperson im Klassenzimmer nebenan zugänglicher ist als die SHP, die vielleicht nur zwei Lektionen im Unterricht ist.

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