Das figurative Schaffen von Thomas Schütte, und damit verbunden die menschliche Gestalt und ihre verschiedenen Ausdrucksformen, stehen im Zentrum der Ausstellung. Sie zeigt Skulpturen der letzten dreissig Jahre im Innenraum und im Park des Museums, bekannte Werke ebenso wie selten gezeigte und ganz neue Arbeiten. Ausdrucksstarke Frauenfiguren aus Stahl und Aluminium, grosse Geister aus Bronze, puppenartige Miniaturfiguren aus Knetmasse, überlebensgrosse Köpfe und Figuren aus Keramik, Holz und Glas, zarte Aquarellporträts und kontrastreiche Fotografien - Schüttes Werk zeugt von einer radikalen Experimentierlust und lässt sich kaum einordnen. Das macht ihn zu einem der faszinierendsten und innovativsten Künstler der heutigen Zeit.
Es gibt gute Anknüpfungspunkte zwischen dem Werk von Thomas Schütte und der Fondation Beyeler, dem Haus, in dessen Sammlung das Menschenbild der Moderne mit Künstlern wie Paul Cézanne, Henri Matisse, Pablo Picasso, Alberto Giacometti oder Francis Bacon so eindrucksvoll zur Anschauung kommt.
Biografische Informationen zu Thomas Schütte
Thomas Schütte (*1954 in Oldenburg) studierte von 1973 bis 1981 an der Kunstakademie Düsseldorf zuerst in der Klasse von Fritz Schwegler, dann bei Gerhard Richter. Bereits 1981 konnte er an der „Westkunst“-Ausstellung in Köln teilnehmen und in der Galerie Konrad Fischer eine Einzelausstellung einrichten. Es war der Anfang einer kontinuierlich sich entwickelnden und erfolgreichen internationalen Karriere. Wichtige Museumsausstellungen der letzten Jahre waren im Haus der Kunst in München (2009), in der Reina Sofia in Madrid (2010) und im Castello die Rivoli in Turin (2012) zu sehen.
Wiederkehrende Figuren im Werk von Schütte
Es gibt Figuren in Thomas Schüttes bildhauerischem Werk, die den Künstler schon seit mehreren Jahrzehnten begleiten. Die Rede ist von Skulpturen wie United Enemies, Vater Staat und Mann im Matsch. Mit Letzterem begann Schüttes bildhauerisches Schaffen; der Mann im Matsch von 1982 ist die erste Figur, die der Künstler fertigte. Da das Männchen umzukippen drohte, goss Schütte es kurzerhand in Wachs ein. Im Matsch stecken zu bleiben bringt in diesem Fall überraschenderweise eine gewisse, vielleicht notwendige Standfestigkeit mit sich.
Seitdem sind sowohl kleine als auch grosse Versionen von Mann im Matsch entstanden. Auch die United Enemies, die Sie hier im Foyer sehen, sind solche langjährigen Begleiter des Künstlers, die er in verschiedenen Materialien und Grössen geformt hat. Wenn sie klein und modellhaft sind, wird der Betrachter zum Giganten. Sind die Skulpturen selbst überlebensgross, wird der Betrachter wiederum zur Miniaturfigur. Mit den United Enemies künden sich gleich zu Beginn der Ausstellung die ungewöhnlichen Massstabsverhältnisse und Perspektivenwechsel an, die Schüttes figürliches Schaffen charakterisieren. Zum ersten Mal wird dieses Ensemble hier in einem Innenraum präsentiert.
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Die Fremden
Eine kleine Gruppe bunt glasierter, lebensgrosser Keramikfiguren harrt regungslos auf dem Dach der Fondation Beyeler. Stumm, mit würdevoll gesenktem Kopf, geschlossenen Augen, einem in sich gekehrten Blick und herabhängenden Armen warten die Gestalten inmitten ihrer Habe: Kisten, Säcke, Urnen, Kübel und Koffer sind um sie herum verteilt. Die »Fremden« stehen an der Kante, am Scheideweg, am Abgrund oder vor dem Nichts? Gehen oder kommen sie? Es entfaltet sich eine wortlose Erzählung von Heimatlosigkeit, Vertreibung, Flucht, Ausgestossensein und Unerwünschtheit.
Die Fremden nennt Schütte diese Figurengruppe und spielt gezielt mit der Unbestimmtheit des Ausdrucks, dem Fehlen von Klarheit. Fremd ist, was uns unbekannt und unvertraut erscheint, etwas, dem wir mit Neugier oder aber mit Ängsten begegnen. Die Flüchtlingskonvois des Ersten Golfkrieges (1991) und die brennenden Asylunterkünfte in Deutschland bildeten damals den aktuellen politischen Hintergrund für diese Keramikfiguren, die im Rahmen der DOCUMENTA IX (1992) für Aufsehen sorgten. Auch heute ist weiterhin ganz selbstverständlich von »Fremdheit« die Rede. Das Miteinander unterschiedlicher Kulturen ist nur bedingt Normalität, erzwungene Migration hingegen alltäglich.
Walser’s Wife
Der Titel Walser’s Wife bezieht sich auf die mehrteilige Ausstellung In the Spirit of Robert Walser, die 2011/12 in der Donald Young Gallery in Chicago präsentiert wurde. Stumm erzählt Walser’s Wife von innerem Rückzug. Robert Walser (1878-1956) ist einer der berühmtesten Schweizer Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Autor von Romanen, Gedicht- und Erzählbänden, der auch zahlreiche Beiträge in Tageszeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, lebte und arbeitete in grosser Armut. Schütte sieht in diesen Lebensumständen Parallelen zur heutigen Blogger-Szene, die eine unüberschaubare Masse an Texten im Internet produziert, sich aber meist anderweitig finanziert.
Anstalt zurück, wo er abgeschieden vom Weltgeschehen lebte. Verheiratet war er nie. Geistes- und Gefühlszustände wie Sehnsucht, Einsamkeit und Inspiration sind in diesem fiktiven Porträt vereint und bilden eine Art Gegenentwurf zur erbarmungslosen Beschleunigung der modernen Welt.
Blumen für Konrad
Nach dem Tod des Malers und Galeristen Konrad Fischer, mit dem er eng befreundet war, zeichnete und aquarellierte Thomas Schütte eine Reihe von Blumenbildern, die durch ihre Schönheit, ihre Verletzlichkeit und Zartheit beeindrucken. Bereits ein Jahr zuvor hatte er eine Serie mit Blumenmotiven gemalt, Aquarelle, die mit kräftigen nassen Farben schnell ausgeführt und mit Bildtiteln wie Fucking Flowers, Love Song, Lonely, Hot oder Flirt versehen worden waren. Bei den Blumen für Konrad (insgesamt 12 Blätter) fehlen diese Beschriftungen oder Verweise, die Aquarelle sind keine »Flirts« mehr.
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Die Blumen werden nun genau betrachtet und wie im Zeichenunterricht behutsam abgemalt. Oft werden die Rosen oder Lilienblüten mit Schwarz, Gelb oder Blau hinterlegt beziehungsweise eingefasst. Auf anderen Blättern werden die Blumenteile einfach auf dem weissen Papier arrangiert. Jede Krümmung, jeder Schwung wird mit dem Pinsel sorgfältig beschrieben. Sehr leicht, ja geradezu schwerelos präsentieren sich diese Aquarelle. Kaum zu glauben, dass hier ein Bildhauer am Werk ist, der »normalerweise« riesige Bronze- und Stahlskulpturen herstellt. Die Blumenbilder sind - so versichert uns der Künstler - erst in den Abendstunden gemalt worden, ganz nebenher.
Stahlfrau Nr. 16
Wie eine liegende Venus in Rohform präsentiert sich Thomas Schüttes Stahlfrau Nr. 16. Auf den ersten Blick scheint sie aus weichem Material geknetet. Rumpf, Glieder und Kopf sind nur rudimentär ausgebildet. Sie liegt auf der Seite und hält sich mit dem linken Arm in Position, den ovalen Kopf aufmerksam erhoben. Zwei Ringe deuten ihre Brüste an. Die weich geschwungene Körperform zeugt noch von den gestaltenden Händen des Künstlers und erinnert zugleich an liegende Frauenfiguren von Picasso. Schüttes Skulptur ist jedoch aus hartem Stahl gegossen und auf einer kniehohen Werkbank arrangiert.
Wie weitere acht Skulpturen, die im selben Saal ausgestellt sind, gehört die Stahlfrau Nr. 16 zur insgesamt 18 Figuren umfassenden Werkreihe Frauen, die Thomas Schütte zwischen 1998 und 2006 geschaffen hat. Darin setzt er sich nicht nur mit den Themen Frau und Weiblichkeit, sondern vor allem auch mit den verschiedensten Möglichkeiten der skulpturalen Gestaltung und deren Präsentation auseinander. Wie er bei vielen Männerköpfen die Gesichter zu Grimassen verzerrt, so deformiert er den weiblichen Körper und bietet ihn zum einen als erotisches Objekt der Begierde, zum anderen als gänzlich unerotische Masse dar. Bank an Bank sind Schüttes Frauen nun im grossen Ausstellungsraum der Fondation Beyeler aufgereiht. Den überlebensgrossen Frauenskulpturen sind meistens sehr spontan geschaffene kleinformatige Tonversionen vorausgegangen, was bei der Stahlfrau Nr.
Werkreihe Luise
Die Werkreihe Luise war für Thomas Schütte ein Experiment: Erstmals arbeitete er direkt nach einem Modell. Natürlich hatte der Künstler schon früher Porträts gemalt, zum Beispiel die Selbstporträts von 1975 (vgl. Saal 5), aber für diese hatte er sich einer fotografischen Vorlage bedient. Alle anderen Porträts, die er geschaffen hat, sind keine Abbildungen, sondern Erfindungen, Typisierungen, anonyme Studien, bissige Karikaturen, wie zum Beispiel die glatzköpfigen Kriminellen (Criminali, 1992). Die Zeichnungen von 1996 hingegen entstanden nach dem lebenden Modell: Luise. Hinschauen und abzeichnen. Nichts schwerer als das.
Was soll denn mittels Zeichnung festgehalten werden? Die Konturen? Zeichnet man, was man sieht - oder was man weiss? Ein falscher Strich, und schon gerät das Porträt ausser Kontrolle. Die »Ähnlichkeit« ist nicht mehr da, und das Ganze muss nochmals von vorne begonnen werden. Nur wenige Minuten dauert die skizzenhafte »Aufzeichnung«. Über Monate hinweg hat Schütte an dieser Werkreihe gearbeitet - und setzt sie bis heute fort. Einige Blätter werden aufgehoben, andere zerstört. Manchmal scheint sich Luise in diesen rasant hingeworfenen Zeichnungen, in den einfühlsamen Kolorierungen und markanten Tuschstreifen tatsächlich zu zeigen, manchmal auch nicht.
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Vier Grosse Geister
Die Skulpturengruppe «Vier Grosse Geister» besteht aus vier überlebensgrossen Figuren aus Bronze. Sie erinnern ein wenig an Michelin-Männchen, oder an ein aus der Form geratenes Maskottchen. Man denkt an eine Allianz grosser Denker oder an unheimliche Geister, die aus der Vergangenheit auftauchen oder von einem anderen Planeten zu Besuch kommen. Die vier stehen in merkwürdiger Interaktion in einer Gruppe, gleichzeitig laden sie durch ihre Gestik Passanten ein, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Bisherige Standorte der Skulpturengruppe «Vier Grosse Geister» waren der Wiener Graben (2011), eine illustre Einkaufspassage in der Wiener Innenstadt sowie der Park der Villa Schöningen in Potsdam (2010). Mit der Präsentation der «Vier Grossen Geister» von Thomas Schütte führt die Fondation Beyeler ihre Tradition fort, Kunstwerke im öffentlichen Raum zu zeigen. Alle, Kinder und Erwachsene können auf diese Weise Kunst in der eigenen Umgebung hautnah erleben.
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