Die Psychologie der Realitätswahrnehmung

Haben Sie gewusst, dass der Mensch die Realität gar nicht vollständig erfassen kann? Unsere Sinne wären schlichtweg überfordert, weshalb wir oft Abkürzungen nehmen. Unsere Wahrnehmung ist unsere Realität.

Was wir Realität nennen, ist nichts anderes als eine sinnliche Halluzination - eine Hypothese der Grosshirnrinde darüber, was die Welt uns mitteilen könnte. Unsere Augen gleichen trüben Fenstern, durch die wir einen flüchtigen Blick auf die Bühne des Seins zu erhaschen hoffen. Erst das Gehirn vermag es, den neuronalen Strom aus der Netzhaut zu interpretieren und ihn als visuelle Empfindung ins Bewusstsein zu projizieren.

Wie unser Gehirn Informationen verarbeitet

Wie verarbeitet unser Gehirn Informationen? Bei der Wahrnehmung verlassen wir uns nicht nur auf unsere Sinne, sondern auch auf bestehende Informationen wie Überzeugungen, Erfahrungen und Erwartungen.

Sinnestäuschungen: Wenn die Sinne uns einen Streich spielen

Von derartigen Phänomenen sind all unsere Sinne betroffen. Man sitzt im Zug und wartet auf die Abfahrt. Ein Blick aus dem Fenster, und schon setzt sich der Zug in Bewegung. Doch es ist gar nicht der eigene Zug, sondern jener auf dem Nebengleis, der losgefahren ist. Das Gehirn bringt zwei widersprüchliche Informationen durcheinander: Die Augen melden «wir fahren», und der Gleichgewichtssinn sagt «wir stehen».

Hält man beispielsweise eine grosse Muschel ans Ohr, glaubt man, eine Meeresbrandung zu hören. Dabei nimmt man bloss das Rauschen des eigenen Blutes wahr. Oder wenn einem beim Essen ein winziges Stück Zahn abbricht, ertastet die Zunge ein riesiges Loch - als ob der halbe Zahn weggebrochen wäre.

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«Bei all diesen Fehlwahrnehmungen interpretieren wir die Reize, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, schlicht falsch», erklärt Georg Felser. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie der Hochschule Harz in Wernigerode (D) und Spezialist für Werbe- und Konsumpsychologie. Es komme deshalb immer wieder zu trügerischen Farb- und Formeindrücken, zu Fehlschlüssen bei Grössenverhältnissen oder verwirrenden räumlichen Zuordnungen. So stimmt die Aussage «Schwarz macht schlank» nur deshalb, weil Schwarz Licht weniger reflektiert als helle Farben.

Die Rolle des Gehirns beim Ergänzen von Informationen

Dass die Welt durch unsere Wahrnehmung interpretiert wird, belegen sogenannte Kippbilder, auf denen man verschiedene Formen wahrnehmen kann, etwa ein Kaninchen und eine Ente im gleichen Bild. Was auf unserer Netzhaut ankommt, ist immer dasselbe. Es ist unser Wahrnehmungsapparat, der versucht, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Unser Hirn greift dabei auf unsere Erfahrungen zurück und ergänzt Unvollständiges: Im Kreis angeordnete Striche vervollständigt es zu einem Kreis. In ungeordneten Flecken versuchen wir Figuren zu erkennen.

Bereits der griechische Philosoph Aristoteles hat sich mit der Wahrnehmung beschäftigt und hat beschrieben, wie einen der Tastsinn täuschen kann: Tippt man sich mit überkreuzten Fingern an die Nasenspitze, fühlt man zwei Nasen - dies, weil bei den überkreuzten Fingern die einander abgewandten Seiten plötzlich nebeneinander liegen.

Die Haut lässt sich auch, was Temperaturen anbelangt, gern täuschen.

Hörtäuschungen und der McGurk-Effekt

Geradezu prädestiniert für Fehlwahrnehmungen ist das Gehör. Denn Lebewesen «besitzen» keine Geräusche. Ein Beispiel für Hörtäuschung ist der sogenannte McGurk-Effekt: Zeigt man Menschen ein Video mit einer Person, die ursprünglich die Laute «ga ga» ausspricht, und ersetzt diese auf der Tonspur durch die Laute «ba ba», geben Versuchspersonen an, die Laute «da da» zu hören.

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Manche Menschen nehmen üble Gerüche wahr, die gar nicht existieren, sogenannte Phantomgerüche. Oder aber Düfte lösen Rückschlüsse aus, die nicht stimmen müssen: Den Geruch eines frisch gebohnerten Parkettbodens etwa assoziiert das Hirn - aufgrund zahlreicher Erfahrungen - zwingend mit Sauberkeit, auch wenn dem nicht so ist.

Der Einfluss von Farbe und Umgebung auf die Wahrnehmung

Unsere Sinne beeinflussen sich auch gegenseitig. So spielt der Geruch beim Essen eine zentrale Rolle. «Selbst die Umgebung beeinflusst die Wahrnehmung. Wenn man in den Ferien einen wunderbaren Wein trinkt und davon ein paar Flaschen nach Hause nimmt, stellt man meist fest, dass der Wein nicht mehr gleich gut schmeckt», sagt Georg Felser.

Bei der Sinneswahrnehmung dürfe man ausserdem das Vorwissen nicht unterschätzen: In einem Versuch versetzten Wissenschaftler Bier mit Essig. Die eine Hälfte der Probanden wusste dies vor der Verkostung, die andere erfuhr es erst danach, aber noch vor der Bewertung. Nur die Gruppe, die von Anfang an informiert war, bewertete das Bier negativ.

Synästhesie: Eine besondere Form der Wahrnehmung

Synästhesie ist ein Wahrnehmungsphänomen, bei dem die Sinneswahrnehmungen in ungewöhnlicher Weise miteinander verknüpft werden. So können manche Leute mit Synästhesie Farben sehen, wenn sie bestimmte Töne hören (Ton-Farb-Synästhesie). Die häufigste Form ist allerdings die Graphem-Farb-Synästhesie. Diese Synästheten sehen Buchstaben farbig.

Synästhesie ist eine seltene Fähigkeit, die bei etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung auftritt. Es handelt sich um eine subjektive Erfahrung, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

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Menschen mit Synästhesie haben ein anderes Gehirn? Ihr Gehirn ist viel stärker vernetzt. Die Gehirnregionen verfügen über mehr und effizientere Verbindungen. Dadurch können die verschiedenen Bereiche miteinander kommunizieren. Durch die Synästhesie-Forschung können wir lernen, wie diese Verbindungen mit besonderen Fähigkeiten verbunden sind.

Dieses Wissen kann genutzt werden, um zu untersuchen, wie man sich selbst trainieren kann, um neue Fähigkeiten zu erwerben und das Gehirn neu zu verdrahten. Letztlich ging es in meiner Forschung darum, die Plastizität des Gehirns zu verstehen. Also die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Erlernen und Erleben neu zu strukturieren.

Die Formbarkeit der Realität

Durch meine Erfahrung mit Drogen hat sich bei mir die Erkenntnis verfestigt, dass Realität eben nicht in Stein gemeisselt ist. Zwar gibt es auf der physikalischen Ebene eine messbare Realität, aber auf individueller Wahrnehmungsebene gibt es immer nur eine Annäherung, eben einen Konsens. Wirklichkeit ist ein Konsens aus der kleinsten gemeinsamen Schnittmenge unserer Wahrnehmung. Verlassen wir diesen Konsens, wirken wir anormal.

Dazu kommt, dass wir unsere Realität unmittelbar nach dem Erfahren redigieren. Glauben Sie nicht? Versuchen Sie’s mal mit ihren Kindheitserinnerungen.

Realität ist in der Erinnerung formbar. Aber auch das, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, ist nicht von Mensch zu Mensch gleich. Je nach unserer Bias, nach unserer Lebensgeschichte, nach unserer Stimmung nehmen wir andere Dinge bewusst wahr oder blenden sie aus. Sie sehen, Realität ist keine gegossene Form, Wirklichkeit keine feste Grösse.

Denkverzerrungen und ihre Auswirkungen

Unsere Urteile und Entscheidungen sind oft weniger objektiv, als wir annehmen. Beispiele wie der Bestätigungsfehler (wir suchen bevorzugte Informationen, die unsere Meinung bestätigen) oder der „Better-than-Average-Effekt“ (wir überschätzen oft unsere Fähigkeiten im Vergleich zu anderen) zeigen, wie unser Denken uns täuschen kann.

Während Denkverzerrungen alltäglich sind, bleiben Wahnvorstellungen unbeweglich gegenüber neuen Fakten - selbst wenn alle Beweise dagegen sprechen. Irrationale Überzeugungen gehören zum Menschsein dazu.

Unsere Neigung zu Denkfehlern ist keine Schwäche, sondern ein evolutionäres Überbleibsel, das schnelle Entscheidungen ermöglicht.

Die Macht der Wahrnehmung in verschiedenen Kontexten

«Es braucht die giftige Substanz gar nicht. Der Glaube daran reicht. Der Körper reagiert dann tatsächlich mit Vergiftungssymptomen.»

Wie mächtig eine Person ist, hängt weniger davon ab, wie gross ihre Macht effektiv ist. Sondern davon, als wie mächtig sie eingeschätzt wird.

Perception ist reality, besagt ein angelsächsisches Sprichwort - die Wahrnehmung ist die Realität.

Unser Unterbewusstsein ist stärker, als wir meinen. Unser Leben ist viel weniger steuerbar, als wir meinen. Wir kennen uns selber und unsere Reaktionen weniger gut, als wir meinen.

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