Zu Grunde liegt die Kant’sche These, dass wir nichts aussagen können über das ‘Ding an sich’, sondern immer nur etwas über die Art und Weise, wie uns ein Ding ‘erscheint’. Unsere Vorstellungen vom Seienden sind somit immer schon ‘Bilder’ realen Seins. Nun ist aber dieses Bild durchaus nicht nur evoziert durch Affektion der Sinnesorgane: Es ist mindestens ebenso sehr ein Produkt des Denkens, denn ich registriere die Sinnesdaten nicht einfach additiv - wie sich etwa zum Mosaik die Steinchen fügen -, sondern setze sie miteinander in bedeutungsträchtiger Weise in Beziehung. Dadurch wird das Bild, das ich mir vom Menschen mache, in noch erheblicherem Masse von meinem Bewusstsein abhängig.
Diese Definition könnte allerdings den Eindruck erwecken, es liessen sich Rezeption und Deutung trennen. Daraus erhellt bereits, weshalb verschiedene Menschen zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen ‘Menschenbildern’ kommen müssen: Ihre Vorstellungen über ‘den Menschen’ beruhen nicht nur auf unterschiedlichen Sinnesdaten, sondern - was viel wichtiger ist - sie setzen sie anders zueinander in Beziehung, sie deuten sie anders. Der Grund liegt in der (hier nicht zu untersuchenden oder zu beweisenden, sondern lediglich festzustellenden) Verschiedenheit menschlichen Bewusstseins überhaupt.
Diese Verschiedenheit stellt sich auf der einen Seite dar als Divergenz von Inhalten (jeder Mensch hat anderes erfahren, gefühlt, gedacht, erlebt), auf der andern aber auch als divergierende Denkform. Unter ‘Denkform’ soll die Art und Weise verstanden werden, wie jemand das Chaos des Seienden strukturiert: additiv oder hierarchisch, statisch oder dynamisch, polar oder reduktiv-monistisch usf. Nun kann aber die empirische Tatsache sehr unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Menschenbilder logisch nicht allein aus der Divergenz der einzelnen Wahrnehmungsprozesse (mit dem jeweils koinzidierenden Bewusstsein) abgeleitet werden.
Diese Unterschiede gründen ebenso sehr im ‘Objekt’ (der Mensch). Wäre dem nicht so, so müssten - um bei unserem Falle zu bleiben - die sich durch ihr Menschenbild so sehr unterscheidenden Psychologen Jung und Adler ebenso divergierende Vorstellungen von einem Stein, einem Apfel und einem Hasen haben. Wir dürfen aber begründet annehmen, dass sie sich über diese Dinge nicht in die Haare geraten wären. Der Grund ist im Komplexheitsgrad des Objekts zu suchen: der Begriff ‘Apfel’ ist (selbstverständlich immer aus der subjektiven Sicht der beiden Antagonisten - wären sie Biologen, läge der Fall wieder anders) sehr einfach, der Begriff ‘Mensch’ aber äusserst komplex, denn er beinhaltet (wie etwas vereinfacht gesehen beim ‘Apfel’) nicht nur physisch Existierendes, sondern auch eine Idee, in der Fragen nach dem Woher, dem Wohin, dem Sinn und Ziel, dem Wesen mitenthalten sind.
Es ist selbstverständlich, dass die beiden Psychologen menschliches Sein unter psychologischem Aspekt apperzipieren. Ihre implizite Anthropologie ist daher psychologische Anthropologie, und ein Vergleich der beiden Menschenbilder läuft notgedrungen auf einen Vergleich der beiden psychologischen Systeme heraus. Die Methode des Vergleichs birgt grosse Vorteile in sich: durch die Gegenüberstellung vergleichbarer Elemente können diese schärfer akzentuiert werden. Andererseits aber bleiben dadurch notgedrungen all jene Aussagen eines Autors eher im Hintergrund, für die beim andern sich kein Gegenstück finden lässt. Überdies tritt das Unterscheidende zwangsläufig mehr in Erscheinung als das Verbindende.
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Jungsches Verständnis des Lebens als energetischer Prozess
Nach Jung ist jedes lebendige Sein, so auch psychisches Sein, nur als Bewegung verstehbar. Diese Bewegung ereignet sich aber nicht eingleisig-linear, von einem Ausgangspunkt in ein unendlich Fernes, sondern stets im Spannungsfeld zweier Pole. Leben kann nach ihm nur verstanden werden als energetischer Prozess. „Energie aber beruht notwendigerweise auf einem vorausgehenden Gegensatz, ohne welche es gar keine Energie geben kann. Immer muss Hoch und Tief, Heiss und Kalt usw. vorhanden sein, damit der Ausgleichsprozess, welcher eben Energie ist, stattfinden kann.“ Deshalb seine Überzeugung: „Nur am Gegensatz entzündet sich das Leben.“
Das Aufeinanderbezogensein zweier gegensätzlicher Prinzipien gilt ihm als Bedingung der Möglichkeit des Lebens überhaupt. Polarität liegt daher jedem System, das auf Selbstregulierung angewiesen ist (der Natur, dem Menschen, der Psyche, der Gesellschaft, der Kultur usf.), zu Grunde. „Es gibt kein Gleichgewicht und kein System mit Selbstregulierung, ohne Gegensatz. Die Psyche aber ist ein System mit Selbstregulierung.“ Polarität ist indessen eine rein formale Bedingung dynamischen Seins, die beliebig viele inhaltliche Füllungen gestattet und keinesfalls die Beschränkung auf ein grundlegendes Gegensatzpaar erfordert, worauf alle andern zurückzuführen wären. Es ist bezeichnend für Jung, dass er dieser naheliegenden Versuchung nicht erlegen ist.
Wir treffen bei ihm die Gegensatzpaare in reicher Fülle: männlich - weiblich, bewusst - unbewusst, Individualexistenz - Sozialexistenz, Psyche - Materie, Idealismus - Materialismus bzw. Nominalismus - Realismus, innen - aussen, Gestaltung - Zerstörung, Eros - Macht usf. Es ist wesentlich, die ‘Polarität’ Jung’scher Prägung nicht mit ‘Dialektik’ im Sinne des Hegel’schen Dreitakts These-Antithese-Synthese zu verwechseln, obwohl Parallelitäten bestehen mögen. Während nämlich These und Antithese realiter zur Synthese verschmelzen und dadurch ihrer Eigenexistenz verlustig gehen, bleiben die gegensätzlichen Pole in ihrer (scheinbaren) Unvereinbarkeit und dadurch ihrer fortgesetzten Wirkkraft bestehen.
Die ‘Lösung’ der polaren Grundgegebenheit ergibt sich nicht durch Verschmelzung der These und Antithese zu einer Synthese, die - als neues Phänomen - selbst zur These wird und erneut eine Antithese evoziert, sondern im Finden des Gleichgewichts, das ob der fortgesetzten Wirksamkeit der Pole stets labil und nie unangefochten ist.
Freilich handelt es sich bei diesem polaren Verständnis des Lebens und der Welt nicht um einen originären Fund Jungs, worauf dieser auch niemals hätte Anspruch machen wollen. Jung steht vielmehr in einer uralten Denktradition, die in allen Zonen und zu allen Zeiten mit Ausnahme des aufgeklärten Europas eine Selbstverständlichkeit war bzw. ist. Im Abendland finden wir sie bereits bei Pythagoras und Heraklit. Nach Jung hat Heraklit „das wunderbarste aller psychischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze.“ Wir finden diese Überzeugung wieder in der hellenischen Klassik, in der Gnosis und allen christlichen und heidnischen gnostischen Traditionen des Okzidents (Rosenkreuzer, Theosophen, Freimaurer), und die griechischen oder germanischen Mythen (und Märchen) sind so wenig zu verstehen wie Astrologie und Alchimie (die im Abendland immerhin über Jahrhunderte eine bedeutsame Rolle gespielt haben) ohne das Prinzip der Polarität. Überflüssig zu sagen, dass sämtliche Religionen auf dem Prinzip der Polarität aufbauen. Vielleicht am klassischsten ist dieses Wissen um die Zwei-Einheit im bekannten Symbol des Taoismus dargestellt: Dunkel und Hell, Schatten und Licht, Weibliches und Männliches - kurz: Yin und Yang.
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Jung ist ein profunder Kenner all jener Geistesrichtungen (Philosophien, Religionen, Mythen, Astrologie und Alchimie, gnostische Systeme, Okkultismus) und den ihnen entsprechenden Symbolismen, die ihr Seinsverständnis an das Prinzip der Polarität gebunden haben. Mehr noch: er akzeptiert diese Religionen, Mythen, Symbole etc. Aber es muss zugleich mit äusserstem Nachdruck betont werden: er akzeptiert sie als psychische Tatsachen. Wenn Jung beispielsweise von Gott, vom Teufel, von Dämonen usf. spricht und ihnen Realität zuerkennt, so handelt es sich dabei niemals um Glaubensaussagen bezüglich transzendenter Wesenheiten, sondern immer um psychische Wirklichkeiten.
„Vom wesenhaften und vom absolut Seienden wissen wir nichts. Wir erleben aber verschiedene Wirkungen, durch die Sinne von ‘aussen’, durch die Phantasie von ‘innen’. Wie wir niemals behaupten würden, dass die grüne Farbe an und für sich existiere, so sollte es uns auch nicht einfallen, ein Phantasieerlebnis als etwas an und für sich Bestehendes und somit als etwas wörtlich zu Nehmendes zu verstehen. Es ist ein Ausdruck, ein Schein, gesetzt für etwas Unbekanntes, aber Wirkliches.“ „Wirklich aber ist, was wirkt.“
Dem Postulat eines sich in Gegensatzpaaren darstellenden Seins entspricht auf der Seite des erkennenden Individuums eine Denkweise, die die Gleichzeitigkeit, aber auch Gleichgewichtig- und Gleichwertigkeit polarer Gegensätze nachvollziehen kann. Mit andern Worten: Das Denken nach dem Modell ‘Entweder - Oder’ muss zugunsten eines Denken nach dem Modell ‘Sowohl - Als auch’ preisgegeben werden. Man könnte dieses Denken ‘komplementäres Denken’ nennen. Jung hat komplementär gedacht.
Adlers Kritik am polaren Denken
Eine völlig andere Haltung zur Problematik der Polarität nimmt Adler ein. Zwar stellt auch er das Vorhandensein polaren Denkens auf Schritt und Tritt fest, aber er hält dies für das grösste Übel, das für alle psychischen Leiden der Menschen verantwortlich ist. Im Gegensatz zu Jung, der die Polaritäten als ein dem Seienden inhärentes Phänomen auffasst, betrachtet Adler das polare Verständnis der Phänomene als Folge einer simplifizierenden und verhängnisvollen Apperzeptionsweise, weshalb vor allem der Kranke, der Neurotiker, „nach der Analogie eines Gegensatzes apperzepiert“ und „zumeist nur gegensätzliche Beziehungen kennt und gelten lässt.“ Adler bezeichnet dies als eine „primitive Orientierung in der Welt“ und stellt fest, dass sie „den antithetischen Aufstellungen Aristoteles’ sowie den pythagoräischen Gegensatztafeln“ entsprechen, „einem Gefühl der Unsicherheit“ entstammen und einen „simplen Kunstgriff der Logik“ vorstellen.
„Was ich als polare, hermaphroditische Gegensätze, Lombroso als bipolare, Bleuler als Ambivalenz beschrieben haben,“ fährt Adler fort, „führt auf diese nach dem Prinzip des Gegensatzes arbeitende Apperzeptionsweise zurück. Man darf darin nicht, wie es meist geschieht, eine Wesenheit der Dinge erblicken, sondern muss die primitive Arbeitsweise erkennen, eine Form der Anschauung, die ein Ding, eine Kraft, ein Erlebnis an deren arrangiertem Gegensatz misst.“ Nach dieser ‘primitiven Arbeitsweise’ apperzepiert auch das Kind, wenn es sich dadurch in der Welt orientiert, indem es sie in den greifbaren Gegensatzpaaren ‘oben - unten’ und ‘männlich - weiblich’ erfasst.
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Fatalerweise legt es die tatsächliche soziale Stellung der Frau schon seit 3000 Jahren dem Kinde nahe, die beiden genannten Gegensatzpaare derart zu kombinieren, dass ‘männlich’ als ‘oben’ und ‘weiblich’ als ‘unten’ empfunden wird. Die Begriffe ‘oben - unten’ aber sind - immer nach Adler - „wahrscheinlich schon an den Beginn des aufrechten Gangs der Menschheit geknüpft“, sind mit dem „Eindruck der Himmelskörper“ gekoppelt (Sonne hoch, dann warm und hell etc.) und mit den Empfindungen des Schmerzes beim Fallen, weshalb in ihnen bereits eine Wertung liegt.
Durch die Verknüpfung des Paars ‘oben - unten’ mit ‘männlich - weiblich’ wird diese spezifische Wertung auf den Mann und die Frau übertragen, weshalb ‘oben sein’ als ‘Mann-Sein’ und somit als erstrebenswert, ‘unten sein’ als ‘Frau-Sein’ und somit als negativ erscheint. Adler betont denn auch, dass ein Werturteil „unmerklich in jede ‘Antithetik’ hineinfliesst, weil diese immer nach dem Bilde der Zerlegung des Hermaphroditen in eine männliche und eine weibliche Hälfte vorgenommen wird.“ Er stellt im weitern fest, dass wohl Plato dieser Idee am reinsten Ausdruck gegeben habe, und beklagt, die menschliche Anschauung habe sich „bis Kant nicht aus den Fängen ihrer selbstgeschaffenen Fiktion befreien können.“ Ja, er bezeichnet die Unterscheidung in männlich- weiblich als eine „dem Menschen als ein Denkfehler anhaftende Apperzeption“.
Es scheint nun, dass Adler in bezug auf die gesamte Tradition des polaren Weltverständnisses selbst einer einseitigen Apperzeption zum Opfer gefallen ist, indem er nicht bemerkt hat, dass das Postulieren von Gegensatzpaaren einerseits nicht notwendigerweise eine Höherbewertung des einen Pols bedeuten muss, und dass andererseits - was aus den ersten folgt - die Entscheidung im Sinne des ‘Entweder - Oder’ eben falsch ist.
Reduktiv ist Adlers Denkform, weil er „die ursprüngliche Polyphonie der menschlichen Innerlichkeit“ auf eine einzige Strebung zurückführt: auf das Geltungs- oder Machtstreben. Die Problematik der Reduktion impliziert sofort die Frage: Was heisst ‘Verstehen’ bzw. wann gilt ein Phänomen als ‘verstanden’? Die Individualpsychologie Adlers erhebt ja durchaus den Anspruch, eine ‘verstehende Psychologie’ im Sinne Diltheys zu sein. Bei der Lektüre von Adlers Werken springt sofort in die Augen, dass das gesamte menschliche Verhalten mit diesem Ansatz erfasst werden kann.
Das kann nun als Beweis oder als Bestätigung dafür gedeutet werden, dass der Ansatz eben richtig ist. Trotzdem ist aber zu überlegen, ob das restlose Aufgehen der Rechnung nicht andere Ursachen haben und ob es sich nicht vielleicht um einen methodischen Artefakt handeln könnte. Gerade der Umstand, dass mit Adlers Ansatz jegliches menschliche Verhalten erklärt werden kann, nährt den Zweifel, denn Adler postuliert ja als Alternative zur vertikalen Strebung nach Geltung und Macht das ‘Gemeinschaftsgefühl’.
Für menschliches Verhalten, das aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus entstanden ist, sollte dann aber Adlers Verstehensschlüssel nicht passen; es müsste mit einem andern Denkmodell erfasst werden. Dies ist aber nicht der Fall: Auch die uneigennützigste Tat des demütigsten Heiligen lässt sich ohne Not als im Dienste der Erhöhung des eigenen ‘Persönlichkeitsgefühls’ und als ‘Sicherung’ der eigenen Geltung interpretieren. Dadurch lässt sich tatsächlich alles mit demselben Prinzip erklären, und deshalb erklärt es eigentlich nichts, denn es fehlt das Unterscheidende. Mit der Absolutsetzung seines an sich äusserst fruchtbaren Ansatzes hat sich Adler einen schlechten Dienst erwiesen.
Wie könnte dieser methodische Artefakt entstanden sein? Mir scheint, dass die uneingeschränkte Gültigkeit des Adler’schen Prinzips auf einem logischen Zirkel beruht. Adler kennt diese Gefahr, aber bezeichnenderweise richtet sich sein kritischer Blick nicht auf seinen eigenen Ansatz, sondern auf denjenigen seines Rivalen Freud.
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