Der Ausdruck „Sorry-Syndrom“ ist ein diagnostischer Begriff, der den konstanten und irgendwann pathologisch werdenden Zwang beschreibt, sich für das eigene Verhalten zu entschuldigen. Diese Gewohnheit muss nicht immer ins Krankhafte gehen, doch kann sie im Job zu meist schleichend auftretenden, aber erheblichen Nachteilen führen.
Ursachen und Hintergründe
Oft sind Frauen vom Rechtfertigungszwang betroffen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie in Unternehmen mit einem hohen Anteil männlicher Mitarbeiter arbeiten. Ein weiterer Grund liegt aber auch in der weiblichen Sozialisation: Nachgewiesenermassen sind Frauen innerhalb von Systemen für die Wahrung der Harmonie verantwortlich und deshalb eher bereit, Schuld auf sich zu nehmen und um Verzeihung zu bitten.
Diese Angewohnheit kann bei Teammitgliedern, Vorgesetzten, Kunden und Geschäftspartnern den Eindruck von Schwäche, Unsicherheit, Fragilität, mangelhafter Belastbarkeit, Unentschlossenheit und - paradoxerweise - unterentwickelter Sozialkompetenz erwecken, und zwar ganz unabhängig von der sonstigen Arbeitsperformance oder anderen geschätzten persönlichen Eigenschaften. Durch die konstante Wiederholung nimmt die Wirkung der Entschuldigung zudem ab und wird lediglich als repetitives Verhalten und nicht als authentische emotionale Äusserung registriert.
Weitere Ursachen toxischer Muster
Toxische Beziehungsmuster entstehen selten zufällig. Häufig liegt ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zugrunde, das schädliche Dynamiken begünstigt oder aufrechterhält. Ein besseres Verständnis dieser Hintergründe kann helfen, Verhaltensweisen nicht nur zu erkennen, sondern auch gezielt zu hinterfragen und langfristig zu verändern.
Zu den häufigsten Auslösern zählen:
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- Unverarbeitete Kindheitserfahrungen: Frühkindliche Erfahrungen prägen unsere Vorstellung von Beziehungen. Wer als Kind emotionale Vernachlässigung, instabile Bindungen oder Missbrauch erlebt hat, kann im Erwachsenenalter Schwierigkeiten haben, gesunde Beziehungsstrukturen aufzubauen oder Grenzen zu setzen.
 - Unsicherheit und geringes Selbstwertgefühl: Ein mangelndes Selbstwertgefühl kann dazu führen, dass Menschen sich mit weniger zufriedengeben, als sie verdienen. Sie zweifeln an ihrem Wert und tolerieren respektloses Verhalten, aus Angst, nicht liebenswert oder ersetzbar zu sein.
 - Fehlende emotionale und persönliche Grenzen: Viele toxische Muster entstehen, wenn persönliche Grenzen nicht klar kommuniziert oder respektiert werden. Grenzen schützen unser emotionales Gleichgewicht und definieren, was akzeptabel ist - und was nicht.
 - Schlechte Kommunikationsgewohnheiten: Kommunikationsmuster wie Vorwürfe, Abwertungen, Vermeidung oder ständige verbale Eskalationen tragen erheblich dazu bei, dass Missverständnisse und Verletzungen entstehen.
 - Psychische Belastungen und Persönlichkeitsstörungen: Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen oder traumatische Belastungen können Beziehungsmuster erheblich beeinflussen.
 - Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Normen: In manchen sozialen oder kulturellen Umfeldern werden bestimmte toxische Verhaltensweisen - etwa Dominanz, Unterordnung oder emotionale Kälte - als normal oder akzeptabel dargestellt.
 - Angst vor Verlust und Einsamkeit: Die tiefsitzende Angst, verlassen oder einsam zu bleiben, hält viele Menschen in ungesunden Beziehungen.
 - Normalisierung von toxischem Verhalten: Wenn schädliche Dynamiken über längere Zeit hinweg den Alltag bestimmen, entsteht eine gefährliche Gewöhnung. Kritik, Kontrolle oder Missachtung werden als „normal“ empfunden, und der Blick auf gesunde Beziehungsmodelle geht verloren.
 
Auswirkungen auf den Einzelnen und die Familie
Toxische Beziehungen treffen nicht nur die direkt Betroffenen, sondern entfalten oft weitreichende Folgen: Sie untergraben das Selbstwertgefühl, schädigen psychische und körperliche Gesundheit, belasten familiäre Bindungen und mindern die Lebensqualität im gesamten sozialen Umfeld.
- Verlust des Selbstwertgefühls: Ständige Kritik, Manipulation oder emotionale Vernachlässigung können das Vertrauen in sich selbst untergraben und ein anhaltendes Gefühl von Unzulänglichkeit hervorrufen.
 - Emotionale Belastung: Dauerhafte Anspannung führt oft zu innerer Unruhe, Gereiztheit, Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit - und kann in Angststörungen oder Depressionen münden.
 - Körperliche Beschwerden: Chronischer Stress kann sich körperlich äussern, etwa in Schlafstörungen, häufigen Kopfschmerzen, Magenbeschwerden oder einem geschwächten Immunsystem.
 - Isolation: In toxischen Beziehungen ziehen sich Betroffene häufig von Freunden, Familie und sozialen Kontakten zurück - manchmal schleichend, manchmal abrupt - und erleben zunehmend Einsamkeit.
 - Verlust der eigenen Identität: Mit der Zeit geraten persönliche Interessen, Leidenschaften und Ziele in den Hintergrund, während der Alltag zunehmend von der Vermeidung von Konflikten geprägt ist. Das Gefühl für das eigene Selbst kann dabei verloren gehen.
 
Wie man sich das ständige Entschuldigen abgewöhnt
Es gibt also viele gute Gründe, sich das konstante Entschuldigen abzugewöhnen. Allerdings ist eine derartige Dekonditionierung nicht einfach. Dies gilt vor allem, wenn das Rechtfertigen fest in Ihrer Biographie verankert ist und das „Um-Verzeihung-bitten“ zu einem Baustein Ihres persönlichen Wohlbefindens und Ihres gewohnheitsmässigen Verhaltens geworden ist.
Hier finden Sie sechs Tipps, wie Sie sich das reflexartige „Es tut mir leid“ dennoch dauerhaft abgewöhnen können:
- Führen Sie über 14 Tage hinweg eine Checkliste. Notieren Sie sich sorgfältig, wann und zu welchem Anlass Sie sich wem gegenüber, über welche Kommunikationsmittel und wie oft am Tag entschuldigt haben. Kommen Sie auf mehr als fünfmal „Sorry“ täglich oder auf 100 Entschuldigungen in der Woche? Dann ist es höchste Zeit, zu handeln!
 - Gehen Sie Ihre Liste auf wiederkehrende Muster durch - zunächst rein statistisch, ohne Wertung. Eher gegenüber Vorgesetzten und Kunden oder schlichtweg zu jeder/m? Geht es dabei um objektive Versäumnisse wie Verspätungen oder versäumte Aufgaben oder um rein subjektiv wahrnehmbare Anlässe wie etwa eine nicht unausgewogene Work-Life-Balance und Ihr damit verknüpftes schlechtes Gewissen? Horchen Sie in sich hinein, warum das Bedürfnis, sich zu entschuldigen gegenüber bestimmten Personen oder in gewissen Situationen besonders ausgeprägt ist und gehen Sie diese beim nächsten Mal ganz bewusst mit der inneren Entschlossenheit an, nicht in den Rechtfertigungsmodus zu schalten.
 - Welche unmittelbare, vermutlich innere Reaktion haben Sie beim Begutachten Ihrer Liste bei sich festgestellt? Wahrscheinlich abermals das Bedürfnis, sich zu entschuldigen - vor sich selbst! Meist entspringt das „Sorry-Syndrom“ einem tief verankerten Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, die meistens in keinem realen Zusammenhang zu Ihrer wirklichen Kompetenz stehen. Statistische Tatsache ist sogar, dass Menschen mit einem ausgeprägten Legitimationsbedürfnis meist überdurchschnittlich gut ausgebildet sind und auf Ihrem Gebiet exzellente Leistungen zeigen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Nicht an Ihrem Verhalten, für das Sie sich meist völlig unnötig ständig entschuldigen, müssen Sie etwas ändern, sondern an Ihrer Selbstwahrnehmung. Beginnen Sie deshalb den Tag mit einer bewussten Affirmation vor dem Spiegel und praktizieren Sie diese täglich für sich so oft, wie es sich gut für Sie anfühlt. Im Internet finden Sie eine Vielzahl an entsprechenden Anleitungen. Übrigens: Auch Stress vermindert das Selbstbewusstsein infolge hormoneller Unterdrückung von Botenstoffen. Eignen Sie sich Ihre ganz eigene Antistresstherapie an - und wenn es ein paar Wellnessstunden im eigenen Zuhause sind.
 - Unser Unterbewusstsein nimmt jeden unserer inneren Befehle entgegen und führt sie aus , auch die selbstzerstörerischen! Dieser Mechanismus liegt dem Ausdruck der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ zugrunde. Jede verbale Entschuldigung ist zugleich eine Selbstkonditionierung, den gleichen Fehler immer und immer wieder zu wiederholen. Verändern Sie deshalb Ihre Formulierung ins Positive. Sagen Sie das nächste Mal nicht: „Ich weiss, ich bin schon wieder zu spät. Bitte entschuldigt vielmals.“ Kombinieren Sie hingegen den realen Grund mit einer optimistischen Prognose: „Die Bahn ist verspätet gekommen. Nächstes Mal nehme ich eine frühere.“ Der Effekt nach aussen ist derselbe: Ihr Umfeld nimmt wahr, dass Sie nicht die Ursache einer Verzögerung sein wollten. Für Sie selbst allerdings liegen Welten zwischen diesen Sätzen. Mit dem ersteren verurteilen Sie sich zu einem Leben konstanter Verspätung; der zweite ist der erste Schritt zu einem Neubeginn.
 - Achten Sie darauf, ob nur Sie in Ihrem Unternehmen dem „Sorry-Syndrom“ anheimgefallen sind, ob es sich durch eine bestimmte Abteilung oder ein abgegrenztes Projekt zieht oder etwa nur bei weiblichen Teammitgliedern auftritt. Dann kann es auch eine kontext-bezogene Symptomatik sein, die durch einen mangelhaften Führungsstil Ihrer Vorgesetzten, ein schleichend entstandenes Angstklima (oft nach Entlassungen und Umstrukturierungen) oder eine mangelhafte Motivationskultur entstanden ist. Haben Sie diesen Eindruck, dann sprechen Sie nach einiger Zeit der reflektierten Beobachtung einen oder zwei Ihrer Kollegen an, denen Sie vertrauen und bei denen Sie die gleiche Verhaltensweise beobachten. Gemeinsam lässt sich mehr tun.
 - Fragen Sie sich ehrlich, ob eine Mehrzahl Ihrer „Sorrys“ (oder gar alle) sich auf Ihre scheinbare Unfähigkeit beziehen, das Unmögliche zu erreichen. Dieses Phänomen zeigt sich oft bei Frauen, die Mutterrolle und verantwortliche Unternehmenspositionen vereinbaren müssen und konstant versuchen, diesem Drahtseilakt zusätzlich Leichtigkeit und Mühelosigkeit zu verleihen. Hören Sie damit auf, sich dafür zu entschuldigen, dass Sie keine Superheldin sind. Sie könnten genauso gut dafür um Verzeihung bitten, kein Vogel, Biber oder Pferd zu sein. Sie sind ein Mensch. Es reicht, dass Sie die ehrliche und oft sogar erfolgreiche Anstrengung unternehmen, zwei Fulltime-Jobs in 24 Stunden gleich gut erledigen zu wollen. Hören Sie auf, einem nach menschlichen und logischen Massstäben unmöglich zu erreichenden Ideal hinterherzulaufen - dann wird auch der Drang verschwinden, sich für das „Versagen“ zu entschuldigen. Ersetzen Sie diesbezügliche Entschuldigungen durch Erklärungen. Ihr Sohn wollte sich nicht anziehen lassen? Okay, dann sind Sie eben zehn Minuten später dran. Ein Unternehmen, in dem dies nicht akzeptiert wird, ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Dafür sollte sich eigentlich die Firmenleitung bei Ihnen entschuldigen.
 
Erste Schritte auf dem Weg zur Heilung
Wahre Veränderung entsteht selten plötzlich. Sie wächst in der Stille - dort, wo Sie Ihre eigene Stimme wieder hören und achtsame Entscheidungen treffen, die Ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellen.
Hier sind erste, behutsame Schritte auf dem Weg zur Besserung:
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- Schädliche Verhaltensweisen erkennen: Achten Sie bewusst auf alles, was Ihr Wohlbefinden untergräbt - Worte, Gesten, Muster.
 - Klare persönliche Grenzen setzen: Definieren Sie, was für Sie akzeptabel ist, und was nicht. Schützen Sie Ihren Raum mit Entschlossenheit und Achtsamkeit.
 - Professionelle Unterstützung suchen: Niemand muss diesen Weg alleine gehen. Unterstützung hilft, neue Perspektiven zu gewinnen und innere Stärke zu entdecken.
 - Selbstfürsorge bewusst stärken: Schenken Sie sich Zeit, Fürsorge und Rituale, die Ihren Kraft geben.
 - Belastenden Kontakt begrenzen: Wo Begegnungen Kraft rauben oder Ihre innere Ruhe stören, dürfen Sie den Austausch auf das Wesentliche reduzieren.
 - Eigene Energie achtsam bewahren: Nicht jeder Konflikt muss ausgetragen werden.
 
Die Kunst des Verzeihens
Neben dem Abbau des ständigen Entschuldigens ist es auch wichtig, anderen und sich selbst zu verzeihen. Das Festhalten an Groll und negativen Gefühlen kann die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Verzeihen hingegen ermöglicht es, loszulassen und nach vorne zu blicken.
Die Komponenten einer aufrichtigen Entschuldigung
Forscher der Ohio State Universität haben anhand von 700 Teilnehmern und zwei unterschiedlichen Studien untersucht, was eine gute Entschuldigung ausmacht und wann wir dem Gegenüber auch wirklich verzeihen. Die Forscher um Roy Lewecki fanden heraus, dass eine gute Entschuldigung sechs Komponenten enthält:
- Entschuldigen und bedauern
 - Erklären, was genau schief lief
 - Die Verantwortung übernehmen
 - Reue bekunden
 - Wiedergutmachung anbieten
 - Um Vergebung bitten
 
Am wichtigsten sei Punkt 3. Verantwortung übernehmen. Kein Wunder, ist das doch auch das Schwierigste. Ich bin schuld. Erst muss man sich das selber eingestehen (daran scheitern wir schon oft) und dann noch vor dem anderen alles auf sich nehmen. Beschämt, das Gesicht nach unten, das Kinn fast auf der Brust stammeln wir ein «Es tut mir leid».
Am zweitwichtigsten ist gemäss Lewecki, eine Wiedergutmachung anzubieten. Auch wenn das meistens gar nicht möglich ist und das Gegenüber es auch selten verlangt, geht es hierbei wohl vor allem um die Geste. Um die Bereitschaft wenigstens danach zu fragen.
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