Schrumpf Psychologie Definition: Die Pathologisierung der Gesellschaft

Psychische Belastungen nehmen zu, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Frauen. Doch viel zu oft wird eine ernste Diagnose gestellt. Das kann Karrieren zerstören und die Selbstheilungskräfte beschädigen, wie der Psychotherapeut Martin Rufer sagt.

Ursachen der zunehmenden psychischen Belastung

Die psychische Belastung hat zugenommen. Jugendliche, insbesondere Mädchen und junge Frauen, sind besonders betroffen. Sie ziehen sich mehr und mehr zurück. Dazu tragen bei:

  • Die unsichere geopolitische Lage
  • Stress in der Schule und in der Familie
  • Einschränkungen während der Corona-Pandemie
  • Cybermobbing
  • Der steigende Medienkonsum, der die Kommunikations- und Sozialkompetenz hemmt

Aber auch Erwachsene melden sich zunehmend mit Beziehungs- und Befindlichkeitsstörungen beim Psychotherapeuten.

Offener Umgang mit psychischen Krankheiten

Psychische Erkrankungen sind sicherlich weniger stigmatisiert als noch vor zehn oder dreissig Jahren. Aber ob die Gesellschaft sensibilisierter geworden ist oder ob psychische Erkrankungen in den letzten Jahren zugenommen haben: Das ist schwer zu sagen. Die Studien dazu kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Die Rolle der Therapeuten

Ich beobachte, dass Kinder und Jugendliche sensibler auf Probleme reagieren. Oft sind sie überfordert, weil auch die Eltern oder Lehrpersonen überfordert sind. Und so fühlen sich die Kinder und Jugendlichen nicht mehr getragen. Das ist häufig die Ursache für Angst, Depression sowie Sucht- oder Essstörungen.

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Soziale Netze

Ja, insbesondere Paar- und Familiensysteme kommen immer stärker an ihre Grenzen. Wenn Eltern überlastet sind und dies nicht ausreichend kommunizieren, wissen auch Kinder und Jugendliche nicht, wie sie mit Stress umgehen sollen.

Das Anordnungsmodell und seine Folgen

Das Anordnungsmodell hat den positiven Effekt, dass mehr Menschen Zugang zur Therapie haben. Das Problem ist nicht das Anordnungsmodell selbst, sondern dass Menschen, die psychotherapeutische Unterstützung beanspruchen, im Rahmen des Krankenversicherungsgesetzes gewissermassen pathologisiert werden müssen. Denn damit die Krankenkasse in der Grundversicherung die Kosten für Psychotherapie übernimmt, muss eine krankheitswertige Störung vorliegen. Und eine Diagnose lässt sich bei Bedarf quasi für jede psychische Belastung finden. Deshalb werden Menschen unnötigerweise zu psychisch Kranken gestempelt.

Nebenwirkungen der Pathologisierung

Dass die Patienten durch das Nadelöhr der Pathologisierung gehen müssen, hat kurz- und mittelfristige Nebenwirkungen, die nicht zu unterschätzen sind:

  1. Jeder psychologische Psychotherapeut oder Psychiater arbeitet und verrechnet mit diesem Etikett. Er sieht den Klienten durch die klinische Linse - und nicht so, wie dieser dem Therapeuten tatsächlich in diesem Moment gegenübersitzt. Oft kennt der Therapeut bei der Überweisung bereits die Vorgeschichte, und eine psychische Belastung wird als krankheitswertige Störung gesehen. Das ist insbesondere problematisch bei Diagnosen, die einige Zeit zurückliegen.
  2. Eine psychiatrische Diagnose kann zwar Erleichterung und Sicherheit für Betroffene bringen, sie kann aber auch zu einer Selbststigmatisierung führen. Eine solche lässt das Potenzial, sich selbst zu heilen, wie auch familiäre Ressourcen verkümmern. Oft ist den Betroffenen diese Etikettierung selbst nicht einmal bewusst.
  3. Sie könnten später Probleme bekommen, wenn sie eine Krankenzusatzversicherung oder eine Lebensversicherung abschliessen wollen. Denn die Versicherer können Kunden mit dem Stempel «psychisch krank» ablehnen. Im schlimmsten Fall kann ein solches Etikett sogar eine Karriere gefährden, falls der Arbeitgeber davon erfährt.

Ein Systemproblem

Es ist ein Systemproblem, das auf beiden Seiten falsche Anreize schafft! Es gibt auch immer weniger Zusatzversicherungen, die psychotherapeutische Leistungen kulant weiterhin bezahlen. Die Frage aber bleibt: Wie bekomme ich Hilfe, wenn ich oder mein Kind in Not sind und die Krisendienste ausgelastet sind?

Das Dilemma der Diagnosestellung

In der Psychotherapie arbeiten wir nicht mit Biomarkern und Laborwerten wie in der somatischen Medizin. Es gibt keine eindeutigen Indikationen, um Dinge zu kategorisieren und zu diagnostizieren. Eine klinisch-psychiatrische Diagnose ist viel fluider. Psychotherapie - die ärztliche wie die ärztlich angeordnete psychologische - ist letztlich ein medizinisches Angebot, das auf klinischen Diagnosen basieren muss. Die zunehmende «Medizinalisierung» spüren insbesondere die Psychologen, die in stationären Einrichtungen wie psychiatrischen Kliniken arbeiten und die fehlenden Ärzte ersetzen müssen.

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Die Grenze zwischen Krankheit und Krise

Über eine krankheitswertige Diagnose in Abgrenzung zu Befindlichkeitsstörungen, Paarkrisen und Ähnlichem. Aber die meisten Problemlagen können nicht so klar und eindeutig diagnostiziert werden - nicht zuletzt auch wegen des Zeitdrucks in den ärztlichen und psychologischen Praxen.

Die Wahl der Patienten

Die Nachfrage ist weiterhin sehr gross, so dass zum Beispiel süchtige Patienten oder solche mit schweren und chronifizierten Persönlichkeitsstörungen grosse Schwierigkeiten haben, einen Therapieplatz zu finden.

Yavis-Patienten

Stattdessen werden nicht selten sogenannte Yavis-Patienten bevorzugt. Die Abkürzung steht für young, attractive, verbal, intelligent, successful. Es sind also Menschen, die jung, attraktiv, wortgewandt, intelligent und erfolgreich sind.

Warum sind diese Patienten attraktiv?

Sie haben oft schon eine Therapiemotivation und eine gewisse Fähigkeit zur Introspektion. Sie zeigen sich normalerweise kooperativ, sind noch nicht aus dem Arbeitsprozess herausgefallen oder befinden sich noch nicht in einer desolaten psychischen Situation.

Einfachere Behandlung

Was die Therapiedauer und -frequenz betrifft, ja.

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Lösungsansätze

Eine Möglichkeit wäre, dass jeder Therapeut einen gewissen Anteil bestimmter Klienten, auch schwerere Fälle sowie solche in Akutkrisen, übernimmt. Oder man könnte höhere Tarife für diese Klientel sowie für Soforthilfen gewähren. Letztere sind oft sehr wirksam und machen eine längere, traditionelle Psychotherapie nicht zwingend nötig.

Psychotherapeutische Unterstützung in Krisensituationen

Die psychische Belastung bei ihnen lässt sich nicht wegreden. Aber müssen sie zwingend auf die psychiatrische Schiene geraten? Das birgt die Gefahr, dass gewissermassen die «Pipeline» in der Grundversicherung für jene verstopft wird, die die Therapie viel nötiger hätten.

Prävention statt Pathologisierung

Denkbar wären Angebote in Zusatzversicherungen, die mehr auf die Prävention von psychischen Belastungen ausgerichtet sind. Auf diese Weise würden psychische Belastungen nicht mehr als krankheitswertig abgestempelt, und die Psychotherapie würde von ihrem medizinischen Etikett befreit.

Frühzeitige Therapie

Ja. Manchmal gibt es frühe Anzeichen für belastende Situationen. Ein Beispiel ist der problematische Gebrauch von Suchtmitteln. Ich habe lange in der stationären und der ambulanten Drogentherapie gearbeitet und weiss, dass es nicht zu einer chronischen Drogenabhängigkeit kommen muss, wenn man ein Problem frühzeitig erkennt und Kriseninterventionen oder Therapien beginnt, auch unter aktivem Einbezug von Angehörigen. Allgemein fängt oft bereits der professionelle Kontakt mit einem Therapeuten einen erheblichen Teil des Drucks auf, der durch interne oder externe Spannungssituationen in der Familie, der Partnerschaft, in der Schule oder bei der Arbeit entstanden ist. Bis jetzt ist die Prävention aber leider im Krankenversicherungsgesetz von untergeordneter Bedeutung.

Der Trend zur «Wellnesstherapie»

Eine solche Form von «Wellnesstherapie» sollte nicht der Weg sein, den wir gehen. Dies blockiert eigene Ressourcen und Selbstheilungskräfte und belastet unnötig die Grundversorgung.

Effizienzsteigerung in der Psychotherapie

Gewiss, denn die Psychotherapie und ihre Reglementierung stehen auf dem Prüfstand. Es gibt geführte Onlinetherapien und Apps, die viel weniger Stunden erfordern, da der Therapeut nicht vor Ort sein muss. Das senkt die Kosten. Auch das liesse sich ausbauen, denn es braucht nicht immer die traditionelle, oft wöchentliche Therapiesitzung von 50 bis 60 Minuten. Zudem gibt es inzwischen gute internetbasierte Therapieprozessevaluation, in der Therapeuten gemeinsam mit ihren Klienten den Therapieverlauf nachverfolgen, anpassen und gegebenenfalls neu ausrichten können.

Die veränderte psychoanalytische Praxis

Ohne Zweifel haben sich Techniken und Vorgehensweisen seit Freuds Tagen enorm verändert. Doch was geht in den Praxen von Psychoanalytikern wirklich vor? Wie unterscheidet sich eine Behandlung heute von einer Behandlung von vor 20, 50 oder gar 100 Jahren? Gibt es überhaupt noch die psychoanalytische Therapie?

Konvergenzen und Divergenzen

Erstaunlicherweise scheint der Austausch über die psychoanalytische Arbeit gar nicht so leicht zu sein. Juan Pablo Jiménez, Psychoanalytiker und Psychiatrieprofessor an der University of Chile, betonte die Schwierigkeiten, auf zuverlässige Weise Zugang zu dem zu gewinnen, was Psychoanalytiker in der Intimität der therapeutischen Beziehung tatsächlich tun. Der amerikanische Analytiker und Psychiater Warren Poland zeichnete ein noch kritischeres Bild der psychoanalytischen Gesprächskultur: „Als Kliniker bemühen wir uns ein Leben lang, unseren Patienten zuzuhören. Umso schockierender ist es, wie schlecht wir einander zuhören.“

Pluralität in der psychoanalytischen Praxis

Auch wenn nicht jeder Polands pessimistische Sicht teilte, an der psychoanalytischen Pluralität selbst konnte beim Chicagoer Kongress kein Zweifel bestehen. Ein Blick auf das Programm zeigt, wie aufgefächert das Feld ist. Ein Panel verglich die klinischen Ansätze von Sigmund Freud und C.G. Jung; ein anderes diskutierte die Problematik des Narzissmus im Kleinianischen Denken. Es gab Veranstaltungen zur Anwendung von Bions Ideen in der Behandlung von Patienten ebenso wie zu Lacan und Winnicott.

Grundpfeiler der psychoanalytischen Behandlung

Zwei der traditionellen Grundpfeiler der psychoanalytischen Behandlung sind unter Analytikern weitgehend unbestritten: erstens die Überzeugung von der Existenz des Unbewussten (wobei es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was das Unbewusste ist) und zweitens das Postulat einer Asymmetrie in der Beziehung zum Patienten, bei der der Analytiker die Hauptverantwortung für die Geschehnisse im Behandlungszimmer übernimmt. Doch darüber hinaus haben sich sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber entwickelt, was in einer Sitzung wichtig ist.

Vielfalt der Herangehensweisen

Angesichts einer solchen Liste unterschiedlicher Vorstellungen kann man eigentlich kaum noch von einer Einheit in der psychoanalytischen Praxis sprechen. Fast jeder Analytiker scheint seinen eigenen Stil, seine eigene Vorgehensweise und seine eigenen Ideen zu haben. In der Tat zeigten schon Studien in den 60er Jahren, dass selbst erfahrene Psychoanalytiker kaum jemals zu einer zuverlässigen Übereinstimmung bezüglich der Deutungen komplexer innerer Zustände gelangen.

Die Lebendigkeit der analytischen Situation

In seiner Bemühung, die Lebendigkeit der analytischen Situation aufrechtzuerhalten, werde der Analytiker zwangsläufig seine Technik auf individuelle Weise modifizieren, wobei er manchmal erheblich von seiner „Standardtheorie“ abweiche, also von der Technik, die er als „korrekte Analyse“ verinnerlicht habe, so Jiménez’ Argument: „In den Behandlungszimmern wird heute eine Menge praktiziert, was nicht den psychoanalytischen Regeln und Standards entspricht.“ Aus Sicht des Chilenen eine überaus positive Entwicklung.

Kulturelle und ethnische Hintergründe

Das Gespür für die Individualität des Patienten, seine Besonderheiten und Eigenarten scheint heutzutage also wichtiger als das Festhalten an einer wie auch immer gearteten offiziell anerkannten Theorie zu sein. Dazu gehört auch, den kulturellen und ethnischen Hintergrund eines Klienten zu berücksichtigen.

Die Bedeutung der Beziehung zwischen Analytiker und Klient

Die vielleicht wichtigste Veränderung ist die große Bedeutung, die heutzutage der Beziehung zwischen Analytiker und Klient eingeräumt wird. „Der Analytiker wird nicht mehr als der allwissende Therapeut betrachtet, als derjenige, der allein die Interpretationen liefert, während der Patient bei der Deutung unbeteiligt bleibt“, erläuterte Gertraud Schlesinger-Kipp, ehemalige Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und jetzt europäische Repräsentantin im IPV Board in einem Gespräch am Rande der Konferenz. „Heute versteht man die Analyse als ein gemeinsames Erkunden des Problems, als einen wechselseitigen Prozess.“ Auch Jiménez betonte, wie sehr man früher die Rolle des Patienten unterschätzt habe: „Wir sind heute gegenüber den Klienten viel zurückhaltender und bieten unsere Interpretationen eher als Vorschläge an. Das veränderte Verständnis beinhaltet auch, dass der Analytiker seine persönlichen Erfahrungen und Gefühle ganz anders einbringen muss als früher.

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