Paradoxe Placebos: Scheinmedikamente wirken stärker, wenn man verrät, dass sie eigentlich nicht wirken

Placebos wirken, weil dem Patienten vorgemacht wird, er bekäme ein echtes Medikament. Dass sie auch ohne solche Täuschungsmanöver funktionieren, ermöglicht Ärzten endlich, sie in der Praxis einzusetzen.

Die Pille enthält keinen Wirkstoff und besteht nur aus Glukosesirup und Stärke - und doch: Die laufende Nase beruhigt sich, ebenso die juckenden Augen, der Heuschnupfen klingt insgesamt merklich ab. Dass Scheinmedikamente wirken, ist bekannt. Damit hört es aber nicht auf.

In jüngerer Zeit haben Studien nachgewiesen, dass der Placeboeffekt selbst dann funktioniert, wenn die Patientinnen offen darüber informiert werden, dass die verschriebenen Tabletten keinen Wirkstoff enthalten. Die Erkenntnis stellt die bis anhin akzeptierte Erklärung in Frage, wie Placebos wirken. Diese stellt die Täuschung in den Mittelpunkt: Der Patient nimmt etwas ein, von dem er glaubt, es enthalte einen pharmakologisch aktiven Wirkstoff.

Und obwohl das gar nicht stimmt, führt seine Erwartung dazu, dass sich bestimmte Symptome verbessern. Die Studien mit offenen Placebos zeigen nun: Die Täuschung braucht es gar nicht zwingend. «Vielmehr ist der Kontext der Behandlung an sich ausschlaggebend», sagt der klinische Psychologe Jens Gaab von der Universität Basel.

«Wenn Sie dem Arzt vertrauen und spüren, dass sich jemand um Sie kümmert, dann löst das sehr viel aus», so Gaab. Gaab hat 2017 mit einem internationalen Team unter Leitung seiner Kollegin Cosima Locher erstmals direkt die verdeckte und die offene Abgabe von Placebos verglichen - in diesem Fall eine Salbe ohne Wirkstoff. Dabei fügten sich die 160 Teilnehmenden mit Hitze selbst Schmerzen am Unterarm zu.

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Doch die Basler Forschenden sind noch einen Schritt weiter gegangen. Ein Team um Gaab und Dilan Sezer hat über 170 Studierende, die an Prüfungsangst leiden, zufällig in drei Gruppen eingeteilt: Eine nahm drei Wochen lang täglich zweimal ein offenes Placebo, eine erhielt keine Behandlung. Die letzte Gruppe stellte sich bloss noch vor, ein Medikament gegen Prüfungsangst zu schlucken. «Imaginary pills» - imaginäre Pillen - nennen die Forschenden diesen Ansatz.

Bisher war es verpönt, Placebos in der medizinischen Praxis einzusetzen. Stefan Schmidt, klinischer Psychologe an der Universität Freiburg im Breisgau, erklärt: «Echte, das heisst verdeckte Placebos täuschen den Patienten. Sie verletzen deshalb den Grundsatz der informierten Einwilligung.» Dank Forschungsarbeiten, wie sie in Basel durchgeführt werden, könnte sich dies ändern. «Offene Placebos sind ethisch unbedenklich.

Tatsächlich werden Placebos bisher fast ausschliesslich im Rahmen von klinischen Studien genutzt, als Vergleichsgrösse zu einer getesteten Substanz. Erzielt sie einen grösseren Effekt als das Scheinmedikament, gilt sie als wirksam. In einer im März 2023 veröffentlichten systematischen Übersichtsstudie hat er untersucht, was über deren Wirkmechanismen bekannt ist.

«Bei den verdeckten Placebos wissen wir, dass sie nebst den selbst wahrgenommenen Symptomen auch objektiv messbare biochemische Prozesse auslösen können», sagt er. «Für offene Placebos haben wir solche Hinweise bisher nicht gefunden.» Allerdings weist er darauf hin, dass die Studienlage noch dünn sei. Die aktuelle Analyse berücksichtigt siebzehn Arbeiten.

Die möglichen Anwendungen für offene Placebos seien weitgehend klar: «Der Fokus richtet sich auf Krankheiten, bei denen physische und psychische Faktoren in starker Wechselwirkung stehen», so Schmidt. Jens Gaab von der Universität Basel ist sogar überzeugt, dass hier offene Placebos und imaginäre Pillen aktuelle pharmakologische Therapien ersetzen könnten.

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«Bei vielen wirkstoffbasierten Therapien hat letztlich auch der Placeboeffekt den grössten Anteil an der Wirkung», sagt er. «Doch es ist wie bei einem Eisberg: Klinische Studien fokussieren nur auf den kleinen Bereich über Wasser, um den ein pharmakologisches Medikament ein Placebo überragt.» Dabei werde der Placeboeffekt ausgeblendet, weil er bei beiden Verfahren vorhanden sei.

«Wir brauchen klinische Studien, die darauf ausgelegt sind, den Anteil des Placeboeffekts am gesamten Therapieerfolg zu messen», so Gaab. Es gehe dann nicht darum, wie viel besser ein Wirkstoff sei, sondern ob das Scheinmedikament akzeptabel schlechter sei. «Ist der Unterschied klein, sind offene Placebos allenfalls die bessere Option.

Allerdings bergen auch Placebos Gefahren. Zum Beispiel wenn die Selbsteinschätzung tatsächlich ablaufende physiologische Prozesse übertönt. So haben Forschende der Harvard Medical School in Boston in einer Studie von 2011 bei Asthmapatientinnen ein Asthmaspray mit einem identisch aussehenden, verdeckt gegebenen Placebospray sowie mit gar keiner Intervention verglichen.

Von den fast 50 Teilnehmenden berichteten alle jene, die eine Behandlung erhielten oder zu erhalten glaubten, von einer fast gleich guten Verbesserung der Atmung. Die objektive Messmethode ergab hingegen, dass sich mit dem richtigen Asthmaspray das Atemvolumen sehr viel stärker erhöhte als mit dem Placebo, dessen Effekt gering war.

«Auch für Placebotherapien braucht es deshalb genau definierte Zulassungsbedingungen», sagt Gaab. Dass der Placeboeffekt eine veränderbare Grösse ist, bestätigte 2015 eine systematische Analyse von klinischen Studien zu Nervenschmerzen in den USA.

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Ausgehend von der Beobachtung, dass dieselben Schmerzmittel über mehrere Jahre immer weniger effektiv schienen, suchten darauf Forschende der McGill-Universität Montreal nach den Ursachen. Sie fanden, dass nicht die Wirkung der Schmerzmittel geringer geworden war, sondern die Probanden immer stärker auf die als Vergleich gegebenen Placebos reagierten.

Für Gaab ist klar: «Die Placeboeffekte steigen in den letzten Jahrzehnten generell an. Diese Einschätzung teilt Stefan Schmidt. Und er sagt: «Es hilft der Sache auch, dass sich der Placeboeffekt selbst ungefähr seit der Jahrtausendwende zu einem sehr bekannten Phänomen entwickelt hat.

Das ist sozusagen der Placeboeffekt des Placeboeffekts: Wenn die Menschen darauf vertrauen, dass Placebos etwas bewirken, dann tun sie es auch, wenn man sie offen gibt.» Natürlich könne das auch wieder in eine andere Richtung gehen. So sei es etwa vorstellbar, dass irgendwann eine Sättigung oder ein Überdruss eintritt, wenn der Einsatz offener Placebos sehr verbreitet würde.

Placebos können sie Krankheitssymptome bessern, wenn man sie im richtigen Kontext anwendet. Sie sollten mehr in die medizinische Behandlung eingebunden werden. Als der amerikanische Orthopäde Bruce Moseley 2002 seine Studie zur Knieausschabung im «New England Journal of Medicine» publizierte, staunte die Fachwelt.

Moseley hatte Patienten mit einer Kniearthrose in drei Gruppen eingeteilt: Ein Drittel der Teilnehmer erhielt eine Glättung des Knorpels, ein Drittel eine Spülung des Kniegelenks und beim letzten Drittel wurde nur ein Schnitt gesetzt - die Placebogruppe. Das erstaunliche Ergebnis: In allen Gruppen ging es den Teilnehmern nachher besser.

Doch Placebos fristen in der Medizin noch immer ein Nischendasein. «Bisher wird Placebo immer als Kontrollbedingung in klinischen Studien eingesetzt», sagt der Psychologe und Achtsamkeitsforscher Stefan Schmidt vom Universitätsklinikum Freiburg, der sich seit Jahren mit der Bedeutung von Placebo auseinandersetzt. «Dadurch haftet ihm ein negatives Image an.»

Laut Definition ist ein Placebo ein Scheinmedikament oder eine Behandlung ohne Wirkstoff. Der Placeboeffekt ist die Veränderung, die sich nach dessen Einnahme einstellt. «Reine Zuckertabletten, die als angebliches Schmerzmittel eingenommen werden, sorgen beispielsweise dafür, dass Kopfschmerzen nachlassen», so Stefan Schmidt.

Diese Wirkung lässt sich sogar als biochemischer Prozess im Gehirn nachweisen. Denn Placebos können auf Opioidrezeptoren einwirken und so Schmerzen lindern. Placebo bedeutet auf Latein «ich werde gefallen». Bereits der griechische Philosoph Platon (427-347 v. Chr.) beschrieb das Phänomen in seinen philosophischen Dialogen: «Dieses Blatt muss mit einem Zauber verbunden verabreicht werden.

Wiederholt der Patient den Zauber bei der Einnahme, wird er geheilt. Ohne Zauberspruch hat die Medizin keine Wirkung.» Placebos wirken laut dem US-Anthropologen und Ethnobotaniker Daniel Moerman aber auch, weil sie in einem medizinischen Kontext verabreicht werden, das heisst: mit der Information, die ein Arzt abgibt, der Interaktion, wie beispielsweise die Tablette gegeben wird, und dem Aussehen der Tablette.

«Damit ist Placebo keine Störgrösse mehr, sondern ein wirkungsvolles Instrument», hält Stefan Schmidt fest. In einer Studie bei Patienten mit Kopfschmerzen war sowohl die Wirkung von Aspirin als auch jene der Zuckertabletten deutlich stärker, wenn sie aus einer Schachtel mit dem Markennamen entnommen wurden.

«Dies unterstreicht die grosse Bedeutung von Vorstellungen, die wir über die eingenommenen Medikamente haben.» Insignien wie das Schild an der Praxistür oder der weisse Kittel signalisieren, dass man in guten Händen ist und gesund werden kann. Laut Stefan Schmidt beruht ein Grossteil der Heilung, die wir bei Behandlungen erfahren, auf diesem Placeboeffekt: «Insignien, wie das Schild an der Praxistür, der weisse Kittel oder das Stethoskop signalisieren, dass Menschen in sicheren Händen sind und gesund werden können.»

Mediziner sollten demnach Placebos öfters einsetzen. Bis heute sind solche Behandlungen aber ethisch umstritten. «Die Placebowirkung kommt erst langsam aus der Schmuddelecke heraus», sagt Schmidt. Hohe Hürde für Zulassung: Auch Krankheitskonzepte und -erwartungen von Patienten sind in der Therapie von grosser Bedeutung, sagt Michael Linden von der Charité Universitätsmedizin in Berlin.

So sei es unabdingbar, zu verstehen, was der Patient fühlt. Gemeint ist damit aber kein Mitfühlen auf emotionaler Ebene, sondern «ein Sich-in-die-Welt-des-anderen-Hineinversetzen». Ein Zuschauer im Zirkus, sieht er einen Artisten auf dem Hochseil, denkt, dass dieser Akt sehr gefährlich sei, und verspürt vielleicht Angst. «Würde sich der Zuschauer hingegen in den Artisten versetzen, würde er statt Angst vielleicht Langeweile oder die Lust am Hochseilakt verspüren», sagt Linden.

Das wünscht sich der Psychologe auch im Arzt-Patientengespräch. Zudem soll das Gespräch nicht Unsicherheiten, sondern positive Erwartungen transportieren. Denn im anderen Fall tritt der Noceboeffekt ein: Die Worte des Arztes können Angst auslösen und dadurch Schaden anrichten, beispielsweise bei Aufklärungsgesprächen über Nebenwirkungen von Medikamenten oder über Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen.

Die Erwartung löst allerdings auch ein Dilemma aus: In heutigen Studien müssen Medikamente wie Schmerzmittel dem Placebo überlegen sein, sonst erhalten sie keine Zulassung. «Werden diese Schmerzmittel dann beworben, suggeriert uns das Marketing besonders deutlich, wie wirksam das Mittel sei», sagt Schmidt.

«Dadurch steigt auch die Erwartungshaltung derjenigen Person, die es einnimmt. Und dadurch wiederum fällt der Wirkungsabstand zwischen Placebo und dem Medikament immer geringer aus.» Medikamentenentwicklung ist demnach schwierig, weil oftmals doppelblinde, Placebo-kontrollierte Studien vorgeschrieben sind, bei denen weder Behandler noch Teilnehmer wissen dürfen, wer die aktive Substanz erhält.

Das heutige Wissen zeigt allerdings auch, dass Placebos gute Mittel sind, um die Wirksamkeit einer Therapie zu verbessern. Es kommt jedoch auf den Kontext an und darauf, wie Placebos in die Behandlung eingebunden werden. «Einen Tumor oder wohl auch Infektionen wird ein Placebo nicht heilen können», sagt Schmidt.

«Aber wenn es darum geht, die Selbstheilung zu unterstützen, ist es ein wirksames Instrument.» Das unterstreicht auch eine Studie des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich: Fast jeder fünfte niedergelassene Arzt in der Schweiz verschreibt mindestens einmal im Jahr homöopathische Rezepte.

Rund 50 Prozent, um Selbstheilungskräfte zu aktivieren, und rund 38 Prozent sehen in der Homöopathie eine Möglichkeit, den Placeboeffekt zu nutzen.

Es gibt eine lange Liste von Beschwerden, die Frauen kurz vor der Monatsblutung peinigen können. «Prämenstruelles Syndrom», kurz PMS, nennen Mediziner das Krankheitsbild. 40 Prozent der Frauen belasten solche Probleme. Es gibt zwar Medikamente, die helfen können, beispielsweise Antidepressiva oder Hormone.

Deshalb hat der Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie mit seinem Team einen neuen, schonenderen Ansatz ausprobiert: Er hat die Betroffenen mit einem Scheinmedikament therapiert - einem Placebo. Mehrere klinische Studien hätten bewiesen, dass solche Mittel bei PMS-Symptomen wie Schmerzen und Depression erstaunlich wirksam sein könnten, erklärt Gaab. Zudem hätten Placebos einen Vorteil: Sie hülfen auch ohne Arzneimittel-Nebenwirkungen. «Daher haben wir gesagt: Lass es uns einmal ausprobieren.»

Beim Thema Scheinmedikamente gibt es schliesslich noch wichtige Fragen zu klären. Zwar ist inzwischen bekannt, warum und auf welche Weise solche Placebos in wissenschaftlichen Studien funktionieren. Die grosse Frage bleibt aber weiterhin: Wie lässt sich dieses Wissen in die Praxis transferieren?

Denn dort stehen die Ärzte stets vor einem grossen Hindernis, wenn sie sie nutzen wollen: Sie müssen die Patienten stets darüber informieren, dass die Tablette vor ihnen keinen Wirkstoff enthält. Alles andere würde gegen ethische Regeln verstossen. Placebos wirken aber gerade dadurch, dass sie die Wirkung eines echten Mittels simulieren, von dem Kranke irrtümlich annehmen, sie hätten es bekommen. Kann ein Scheinmedikament auch helfen, wenn mit offenen Karten gespielt wird? Auch das wollte Gaab nun ausprobieren.

Untersucht hat er es im Rahmen einer sechswöchigen klinischen Studie, die Ende März 2025 im «British Medical Journal Evidence-based Medicine» veröffentlicht wurde. Die teilnehmenden 150 Frauen wurden von den Wissenschaftern auf drei Gruppen aufgeteilt. Die Mitglieder der ersten wiesen sie an, zu verfahren wie bisher. Also weiter Hausmittel oder Medikamente gegen ihre Beschwerden einzunehmen oder auf eine Therapie zu verzichten.

In den Gruppen zwei und drei wurde den Probandinnen ein Scheinpräparat in Form einer rosafarbenen Pille angeboten. Das waren die Gruppen, die die Forscher besonders interessierten. Denn den Frauen wurde nicht verschwiegen, dass sie ein Scheinmedikament bekamen. Open-Label-Placebo nennt sich dieses Verfahren im Fachjargon.

Während die Teilnehmerinnen der Gruppe zwei die Pille weitestgehend kommentarlos erhielten, wurden die Probandinnen der Gruppe drei ausführlich über die Wirkmechanismen und Heilkräfte von Placebos aufgeklärt. Das Studienpersonal wies sie sogar explizit darauf hin, dass bei ihrem Leiden Verbesserungen zu erwarten seien.

«Das Ergebnis der Untersuchung hat selbst uns überrascht», sagt Jens Gaab. Er habe zwar mit einem Effekt gerechnet, frühere Studien hätten schliesslich gezeigt, dass auch Open-Label-Placebos funktionieren könnten - beispielsweise bei Schmerzen oder einem Reizdarmsyndrom. Am ausgeprägtesten war der Effekt jedoch ausgerechnet in der dritten Gruppe. Also bei den Probandinnen, denen eigentlich am ausführlichsten erklärt worden war: Wie echte Medikamente können diese Mittel nicht wirken. Hier betrug der Rückgang sogar 80 Prozent.

Wie kann eine eigentlich wirkungslose Pille gerade dann besonders gut wirken, wenn man zuvor ausführlich über ihre Wirkungslosigkeit aufklärt? Gaab kann sich das selbst nicht recht erklären. Aber er hat eine Theorie, wie solche Open-Label-Placebos funktionieren: «Behandlungen sind immer ein sozialer Akt. Und beim Placeboeffekt kommt der ursprünglichste aller medizinischen Gedanken zum Tragen: Es wird Beziehung in Pillenform gegossen.»

Ein leidender Mensch, sagt der Psychologe, sehne sich nicht nur nach einem Medikament, er suche auch Ansprache und Mitgefühl. «Jeder von uns kennt das wahrscheinlich: Man geht zum Arzt, und plötzlich, wie durch Zauberhand, bessern sich die Symptome. Nur weil man im Wartezimmer sitzt und weiss: Mir wird gleich geholfen.» Der Mensch sei eben ein soziales Wesen, das mache sich auch hier bemerkbar.

Gaab glaubt, beim offenen Placeboeffekt wirkt weniger das Scheinmedikament an sich als vielmehr das Heilritual, das mit seiner Gabe verbunden ist. Und das hat wiederum dann den besten Effekt, wenn ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis vorhanden ist. Und wenn sowohl der Patient als auch der Arzt der Behandlung positiv gegenüberstehen. Diese Beziehungsfaktoren waren für die Teilnehmerinnen aus Gruppe drei offensichtlich am stärksten zu spüren.

Stefan Schmidt von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg hat für eine Metaanalyse rund 60 Studien über Open-Label-Placebos unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Beim klassischen Placeboeffekt glauben die Menschen an eine mögliche Wirkung des Präparats und erwarten deshalb, dass ihnen geholfen wird - beim offenen an die Macht des Effekts an sich. «Bei der Open-Label-Variante wirkt der Placeboeffekt des Placeboeffekts», sagt er.

Ulrike Bingel beobachtet im Magnetresonanztomografen, was ein Placebo im Gehirn bewirkt. Die Neurologin leitet das Zentrum für Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Essen. Vor allem zwei Dinge seien auf den MRT-Bildern zu erkennen, sagt sie. Erstens, dass die Erwartungshaltung «Mir wird geholfen» mehrheitlich in einer einzigen Region weit vorne im Gehirn erzeugt wird. «Und zweitens, dass dieses Areal dann andere Hirnareale anstösst, die wiederum direkt mit der Schmerzmodulation verbunden sind.» Bei diesem Vorgang bildet der Körper Opioide, die in der Lage sind, Schmerzsignale bis runter auf die Ebene des Rückenmarks zu dämpfen.

Die Wirkung der Scheinmedikamente kann durch einen weiteren Mechanismus noch verstärkt werden: die Erfahrung. Darauf weist Karin Meissner hin, die wissenschaftliche Leiterin des Zentrums «Analytics4Health» an der Hochschule Coburg. Wenn jemand immer wieder erlebe, dass eine Behandlung helfe, erklärt sie, lerne sein Körper, auf sie zu reagieren, bevor sie überhaupt beginne. Weil der oder die Betroffene erwarte, dass die Wirkung eintrete.

«Stellen Sie sich vor, jemand hat häufig Kopfschmerzen und nimmt dagegen immer dieselbe Brausetablette», sage die Medizinerin. Allein diese Erfahrung könne dazu führen, dass die Schmerzen bereits nachliessen, wenn sich die Tablette im Glas auflöse. Auch echte Medikamente haben deshalb einen Placeboeffekt. Dieser verleiht auch Mitteln eine Wirksamkeit, die zur Behandlung eines Leidens eigentlich nicht geeignet sind. Zum Beispiel solchen, die Ärzte eher aus Verlegenheit verschreiben, weil sie einen Patienten nicht mit leeren Händen aus der Praxis entlassen wollen.

Ein Open-Label-Placebo wäre in solchen Fällen nicht nur die ehrlichere, sondern auch die gesündere Alternative, finden viele Experten. Denn es hätte weniger Nebenwirkungen. Gaab plädiert deshalb für eine Art Sowohl-als-auch-Lösung: Open-Label-Placebos als Ergänzung zu Medikamenten, wenn diese an ihre Grenzen stossen.

Seine in der Studie gemachten Erfahrungen sprechen dafür, dass viele Patienten einen solchen Ansatz begrüssen würden: «Wir hatten zuerst die Sorge, dass die Frauen diese Art der Behandlung ablehnen würden», berichtet der Psychologe. Das Gegenteil war der Fall. «Sie fanden das Placebo extrem gut.» Weil sie meinten: Ich mache das ja selbst.

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