Lebensaktivitäten bestimmen den Alltag eines jeden Menschen. Er gestaltet sie nach seinen grundlegenden Lebensbedürfnissen. Verschiedene Pflegekonzepte, die in Alters- und Pflegeheimen und zum Teil auch in Institutionen für Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden, strukturieren die Aktivitäten des täglichen Lebens. Menschen mit einer Demenzerkrankung weisen zunehmend Lücken in der Fähigkeit der Selbstgestaltung dieser Aktivitäten auf. Die als Kind erworbene Alltagskompetenz geht stufenweise verloren.
In der Praxis finden insbesondere zwei Modelle Anwendung: die Gliederung von 12 Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) nach Liliane Juchli und die 13 Aktivitäten, Beziehungen und existenziellen Erfahrungen des Lebens (ABEDL) nach Monika Krohwinkel. Die beiden Modelle sind zu einem grossen Teil deckungsgleich. Als Folge davon müssen Pflege-, Betreuungs- und Begleitungsleistungen zunehmend intensiviert werden.
Diese Demenzbox beschreibt die körperbezogenen Unterstützungsfelder. Dargestellt werden dabei die Auswirkungen der Demenzerkrankung auf die jeweilige Lebensaktivität sowie mögliche Unterstützungsmassnahmen. Für vertiefende Informationen sei auf die Quellenangaben und Literaturempfehlungen innerhalb der einzelnen Kapitel sowie die vollständige Demenzbox-Literaturliste hingewiesen.
Weitere Lebensaktivitäten werden an anderer Stelle der Demenzbox aufgegriffen: z.B. «Kommunizieren», «Sich beschäftigen», «sichere und fördernde Umgebung»; «soziale Bereiche und Beziehungen sichern», «mit existenziellen Erfahrungen des täglichen Lebens umgehen».
Aktivitäten des täglichen Lebens
Essen und Trinken
Auswirkungen der Demenzerkrankung in späten Phasen:
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- Apraxie ist eine Störung der willkürlichen, zielgerichteten Bewegungen bei intakter motorischer Funktion (z.B. Umgang mit Besteck, Tassen und Gläsern).
 - Agnosie ist eine Erkenntnisstörung trotz intakter Sinnesorgane. Es werden z.B. Speisen auf dem Teller nicht mehr erkannt oder das Wissen, was mit dem Essbesteck gemacht wird, kann nicht mehr abgerufen werden.
 - Entscheidungsunfähigkeit bei mehreren Komponenten auf dem Teller.
 - Störungen beim Beissen, Kauen und Schlucken von Nahrungsmitteln und Getränken.
 - Aspirieren, d.h. Eindringen von Nahrung in die Atemwege.
 - Hunger- und Durstgefühle werden nicht mehr wahrgenommen bzw. können nicht zugeordnet werden. Dies kann zu einer Gewichtsabnahme und einer Dehydrierung führen.
 - Kachexie ist ein pathologischer Gewichtsverlust, der einhergeht mit Blutarmut, Appetitlosigkeit und Kräfteschwund.
 
Unterstützungsmöglichkeiten:
- Genügend Ruhe- und Essenszeiten gewähren und diese auf den ganzen Tag verteilen.
 - Unterstützung nach dem Grundsatz «nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich».
 - Jahreszeiten, Brauchtum, Rituale berücksichtigen.
 - Biografiebezogene Verpflegung und entsprechendes Essmilieu. Dabei gilt es unter anderem, die regionale Küche und das Essen aus der Kindheit und der Jugendzeit zu berücksichtigen.
 - Gerichte frisch vor Ort zubereiten (Frontcooking) und möglichst viele Sinne ansprechen. Dabei können wesentliche Teile des Zubereitungs- und des Kochvorgangs beobachtet und miterlebt werden.
 - Die Kostformen dem aktuellen Gesundheitszustand anpassen (z.B. grob gewürfelt, Fingerfood, fein geschnitten, passiert-püriert oder flüssig).
 - Menschen mit einer Demenzerkrankung, die zum Essen nicht ruhig sitzen können, Fingerfood und Foodtankstellen anbieten («fliegende Verpflegung», «Eat by walking»). Dabei werden Schüsseln/Platten mit mundgerechten Stücken von Käse, Fleisch, Wurst, Gemüse, Trockenfrüchten und Keksen oder fantasievolles Apérogebäck bereitgestellt.
 - Smoothfood, d.h. mit Lachgas aufgeschäumte Produkte, eignen sich für Personen mit starken Schluck- und Kaustörungen. Durch ihre mousseartige Konsistenz können sie mit einem Kaffeelöffel eingenommen werden.
 - Auch bei geduldiger und zeitaufwendiger Nahrungseingabe essen Patienten mit fortgeschrittener Demenzerkrankung oft nur noch wenig und verlieren an Gewicht. Zudem verschlucken sie sich wiederholt. Wenn Entzündungen in Mund- und Rachenraum ausgeschlossen werden können, muss dieses Verhalten als nonverbale Willensäusserung akzeptiert werden.
 - Der Einsatz von Ernährungssonden ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zudem konnte bislang ein positiver Effekt bei Menschen mit Demenzerkrankung nicht nachgewiesen werden. Auch die Flüssigkeitszufuhr mittels Infusion ist selten angezeigt und kann oft nur mit Zwangsmassnahmen, z.B. durch die Fixation der Hände, erreicht werden.
 
Ruhen und Schlafen
Auswirkungen der Demenzerkrankung:
- Zunehmende Unruhe am späten Nachmittag und am Abend (vgl. «Sundowning-Phänomen», das Angetriebensein von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung).
 - Agitation am Morgen (vgl. «Sunrising-Phänomen», das auch in Zusammenhang mit einer Depression auftreten kann).
 - Zubettgehen und Einschlafen kann schwierig werden.
 - Längere Wachperioden in der Nacht, aufstehen und Drang zu Aktivitäten.
 - Beim polyphasischen Schlaf wird der Schlafbedarf nicht am Stück, sondern in mindestens drei Schlafphasen gedeckt. Dabei sind Schlaf- und Wachphasen unabhängig von Tages- und Nachtzeit.
 - Bei der Tag-und Nacht-Umkehr wird der Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag.
 
Unterstützungsmöglichkeiten:
- Genügend Aktivitäten und soziale Kontakte am Tag ermöglichen.
 - Viel Bewegung tagsüber, möglichst im Freien, z. B. durch Spaziergänge. Die Aufnahme von genügend Tageslicht unterstützt die Produktion des körpereigenen Hormons Melatonin, das den Schlaf reguliert.
 - Klare, einfache, gleichbleibende und möglichst vertraute Tagesstruktur.
 - Am Abend gedämpftes Licht. Reize und Aufregung vermeiden.
 - Friedliches, beruhigendes Abend- und/oder Einschlafritual, Entspannungstee, sanfte Musik.
 - Abklären von körperlichen Ursachen für den gestörten Schlaf (z.B. Schmerzen, Halluzinationen, Depressionen, Hunger oder Durst).
 - Kaffee kann bei Menschen mit einer Demenzerkrankung entspannend wirken und sie schläfrig machen.
 - Schlafmedikamente nur nach Absprache mit dem Arzt (Erhöhung der Sturzgefahr).
 - Akzeptanz der Rhythmusänderung von Begleit- und Betreuungspersonen, wenn der Tag zur Nacht wird. Oft ist diese Änderung eine zeitlich begrenzte Phase im Verlauf der Krankheit.
 - Unterstützung der «inneren Uhr» durch eine entsprechende Steuerung des künstlichen Lichts (vgl. Demenzbox «Räumlich-architektonische Faktoren»).
 - Nachtcafé, Nachtprogramm, Nachtaktivitäten, Nachtklinik.
 
Sich Bewegen
Auswirkungen der Demenzerkrankung:
- Die erlernte, hochkomplexe Planung, Steuerung und Koordination des Gehens geht verloren.
 - Unfähigkeit zur Ausführung gleichzeitiger Handlungen (z.B. jemandem beim Gehen zuhören oder etwas erzählen). Stellt man eine Frage, steht der Demenzkranke abrupt still und versucht, diese zu beantworten.
 - Bewegungsprobleme entstehen oft in Kombination mit anderen Einschränkungen (z.B. eingeschränkte Wahrnehmung der Oberfläche von Gehstrecken, Seh- und Hörprobleme, Gelenkschmerzen, schwindende Muskelkraft).
 - Zunehmende Sturzgefahr.
 - Teilweise, d.h. bei etwa 10-20 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittener Demenz treten bizarre motorische Bewegungsmuster auf (z.B. «Wandering», d.h. Umherstreifen, Umherirren).
 
Unterstützungsmöglichkeiten:
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- Für eine Sturzprophylaxe ist an unterschiedliche Massnahmen zu denken, z.B. an bauliche Massnahmen, an den Einsatz einer spezifischen Beleuchtung, an Gehhilfen, an Sitz- und Liegegelegenheiten «unterwegs», aber auch an die Verbesserung der Sehfähigkeit (Brille) und des Gehörs (Hörapparat).
 - Eine proteinreiche Ernährung kann die muskuläre Stabilität und Balance unterstützen.
 - Ressourcen und Fähigkeiten vorausschauend einschätzen, nicht überfordern.
 - Keine medikamentöse Ruhigstellung durch Neuroleptika oder Benzodiazepine.
 - Bewegungsabläufe nicht im «Hauruckverfahren», sondern gemäss kinästhetischen Grundsätzen ausführen.
 - Bewegungskompetenz durch den gezielten Einsatz von rhythmischen Kadenzen fördern, z.B. durch Singen, Taktklopfen, Tanzen oder Angebot spezifischer Dalcroze-Ateliers.
 
Sexualität Leben
Auswirkungen der Demenzkrankheit:
- Das Bedürfnis nach Nähe und Intimität kann sich infolge der Krankheit Demenz verändern.
 - Eigene Bedürfnisse können im Vordergrund stehen, z.T. kommt es, insbesondere bei einer frontotemporalen Demenz, zu einer Enthemmung, da die Selbstkontrolle vermindert ist.
 - Die sozialen und moralischen Verhaltensformen können verloren gehen. Auch Hemmschwellen können schwinden.
 - Dies kann ein unangepasstes Verhalten, mitunter auch in der Öffentlichkeit, zur Folge haben (grobe Wörter, Annäherungsversuche, Berühren des eigenen Intimbereichs oder des Intimbereichs anderer Personen).
 - Das Schamgefühl im eigentlichen Sinne ist oft nicht mehr vorhanden.
 - Da Menschen mit einer Demenzerkrankung eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben, nehmen sie sich selbst häufig als jung wahr und wissen beispielsweise nicht mehr, dass sie verheiratet waren oder sind.
 - Sie können sich bei der Intimpflege bedroht oder stimuliert fühlen.
 
Unterstützungsmöglichkeiten:
- Privat- und Intimsphäre wahren.
 - Spärlich bekleidete oder sexuell erregte Person umsichtig vor fremden Blicken schützen.
 - Bei der Intimpflege begleitend erklären, was gemacht wird und was die Rolle der pflegenden Person ist.
 
Der Gang zur Toilette
Auswirkungen der Demenzerkrankung:
- Durch die Demenzerkrankung kann die notwendige Verknüpfung von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten verloren gehen, welche zur Ausführung dieser Aktivität notwendig sind (z.B. Ausscheidungsbedürfnis wahrnehmen, Entscheidung für den Toilettengang treffen, Toilette finden, sich entkleiden und die Entleerung gezielt durchführen).
 - Dadurch entsteht eine nicht steuerbare Situation bei der Entleerung der Blase und des Enddarms.
 - Das Schamgefühl erschwert die Akzeptanz von Unterstützungsleistungen.
 
Unterstützungsmöglichkeiten:
- Täglich ballaststoffreiche Ernährung einnehmen und genügend trinken, d.h. 2-3 Liter Flüssigkeit.
 - Auf eine regelmässige Darmentleerung achten (Kalender führen).
 - Intimsphäre wahren, z.B. durch den Einsatz von Paravents oder durch das Schliessen der Zimmertüre.
 - Auf nonverbale Signale oder Bedürfnisse achten.
 - Regelmässig zum Toilettengang animieren oder direkt auf die Toilette begleiten.
 - Leicht zu öffnende Kleidungsstücke.
 - Klar erkennbare Toiletteneingänge, gute Beleuchtung.
 - Eventuell Zusatzhocker für begleitendes Personal (oft werden bis zu 10 Minuten gebraucht, bis die Ausscheidung erfolgt) oder die Tür einen Spalt breit offen lassen).
 - Bequemes Sitzen ermöglichen (evtl. Aufsatz, Schemel).
 - Erfolg bestätigen, eventuell loben und sich bedanken.
 - Einlagewechsel langsam, eventuell unter dem Deckbett wechseln.
 - Basale Stimulation durch langsame Streichungbewegungen in Darmrichtung.
 - Kombination von osmotisch wirksamen Laxanzien (Abführmittel) mit Gleitmittel Klistiere grosszügig und häufig anwenden.
 
Herausforderndes Verhalten
Im Verlauf der Krankheit kann sich das Verhalten von Menschen mit einer Demenzerkrankung und von Menschen mit kognitiver Behinderung und einer Demenzerkrankung so verändern, dass es als störend und problematisch empfunden wird. Das herausfordernde Verhalten kann sich in Form von Aktivität oder von Passivität äussern. Dazu gehören etwa zielloses Herumwandern, Aggressivität, Schreien, Depressionen und Apathie. Solche Verhaltensweisen sind Ausdruck des starken Leidensdrucks, dem die Betroffenen ausgesetzt sind.
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Gerade bei herausforderndem Verhalten ist es wichtig, über ein gewisses Grundwissen zum möglichen Verlauf und zu den möglichen Begleiterscheinungen einer demenziellen Erkrankung zu verfügen. Wesentliche Voraussetzungen für deeskalierendes Handeln in Krisensituationen sind die Haltung und die daraus folgende Handlung bzw. Reaktion der Fachpersonen. In diesem Sinn tragen die Fachpersonen einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität der Menschen bei, die an Demenz erkrankt sind. Dies gilt gleichsam für Menschen mit einer geistigen oder einer psychischen Behinderung, die an einer Demenz erkrankt sind.
Verhaltenssymptome Herausforderndes Verhalten im Sinne von psychischen Symptomen und Verhaltenssymptomen ist bei Menschen mit einer Demenzerkrankung sehr häufig: 80-90 Prozent aller Erkrankten sind im Verlauf ihrer Krankheit davon betroffen. Man geht davon aus, dass dies auch bei Menschen mit kognitiver Behinderung oder psychischer Behinderung und einer demenziellen Erkrankung der Fall ist.
Als häufigste Symptome sind bekannt:
- Agitation (Angetriebenheit)/Aggression
 - Reizbarkeit, Apathie (Teilnahmslosigkeit)
 - Depression
 - Ängstlichkeit
 - Wahnvorstellungen
 - Enthemmung
 - Abweichendes motorisches Verhalten
 - Euphorie
 - Halluzinationen
 
Herausforderndes Verhalten kann in verschiedenen Stadien der demenziellen Erkrankung in unterschiedlichen Ausprägungen und Kombinationen auftreten. Dieses Verhalten belastet Erkrankte, Angehörige, Betreuende und Pflegende oft stärker als die kognitiven Einschränkungen. Herausforderndes Verhalten kann viele Gründe haben, wobei diese oft nicht klar eruierbar sind.
Im neuropsychiatrischen Inventar Version Pflegeheim NPI-NH von RAI werden folgende Verhaltensweisen als «herausfordernd» klassiert:
- Wahnvorstellungen
 - Halluzinationen
 - Erregung/Aggression
 - Depression/Dysphorie
 - Angst
 - Euphorie/Hochstimmung
 - Apathie/Gleichgültigkeit
 - Enthemmung
 - Reizbarkeit/Labilität
 - Abweichendes motorisches Verhalten
 
Grundsätzlich gilt: Verhalten ist immer im Beziehungskontext zwischen dem Individuum und seiner Umwelt zu betrachten und zu verstehen, d.h., das Verhalten einer Person steht immer in Beziehung zu ihrer aktuellen Umwelt. Daher ist neben der Lebensgeschichte auch diese Beziehung zu berücksichtigen, um ein Verhalten verstehen zu können. Für diese Verhaltensveränderungen werden im deutschsprachigen Raum Fachbegriffe wie Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensprobleme verwendet. In der internationalen Literatur trifft man oftmals auf den Begriff «behavioural and psychological symptoms in dementia», abgekürzt BPSD.
Das NDB-Modell
Eine handhabbare Übersicht über mögliche Ursachen und Auslöser für herausforderndes Verhalten bietet das sogenannte NDB-Modell (need-driven dementia-compromised behavior model), das von einer Gruppe von nordamerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Das NDB-Modell wird im deutschsprachigen Raum als «bedürfnisorientiertes Verhaltensmodell bei Demenz» bezeichnet. Das Modell dient unter anderem als Hilfsmittel für eine verstehende Diagnostik.
Das Modell unterscheidet zwei Arten von Variablen oder Faktoren, die ein Verhalten beeinflussen. Gemäss Alzheimerforum.de handelt es sich dabei einerseits um Hintergrundfaktoren, welche durch Interventionen kaum beeinflusst werden können. Die Beschreibung dieser Faktoren hilft aber, Risiken zu erfassen. Zur Gruppe der Hintergrundfaktoren zählen etwa der Gesundheitsstatus, physische und kognitive Fähigkeiten, aber auch Merkmale, die in die Krankheit mitgebracht wurden (z.B. Persönlichkei...
Welche Begriffe wir verwenden, prägt unsere Wahrnehmung. Das trifft auch auf das Thema Demenz zu. Wie angemessen ist es zum Beispiel, von «herausforderndem Verhalten» sprechen? Menschen mit Demenz äußern, dass sie mit der Zuschreibung «dement» («ohne Geist») nichts anfangen können, dass ihnen der Begriff Angst macht, sie schwächt. Dabei bildete der neu vorgeschlagene und ausführlich argumentierte Begriff einen Fortschritt zu der bis dahin üblichen «Verhaltensstörung» und «Verhaltensauffälligkeit».
«Herausforderung» ist ein schillernder Begriff, der in Business, Coaching und Selbstoptimierung das «Problem» verdrängt hat. Die Haltung passt gut in die Zeit der Ich-AG, in der äußere Faktoren in den Hintergrund treten und jeder alles schaffen kann, wenn er sich genügend anstrengt. Tatsächlich aber gibt es neben Herausforderungen reale Probleme. Komplex ist auch unsere Sprache. Begriffe sind mehrdeutig, schillernd, sie lösen unterschiedliche Emotionen aus. Und herausfordernd: «durch unverhohlen aufreizende, anmaßende Art eine Reaktion verlangend».
In unserem Fall geht die Herausforderung scheinbar vom «Verhalten» aus - aber dieses wiederum ist unlösbar an eine Person gebunden, es geht eben nicht um eine Situation. Wir haben also folgende Situation: Eine Person mit Demenz verhält sich auf eine Art und Weise, die von außen als «herausfordernd» empfunden wird. Bei einer Pflegeperson kommen dazu noch die als herausfordernd definierten Verhaltensweisen, die zu erfassen und entsprechend zu behandeln sind. Obwohl laut Rahmenempfehlungen der Begriff «den Fokus auf diejenigen [legt], die sich durch ein Verhalten herausgefordert fühlen», sieht die Wirklichkeit doch ganz anders aus.
Ein Erfassungsbogen für herausforderndes Verhalten etwa nennt eine Spalte «Auslöser». Da wäre einmal das «Problem». Der Begriff ist unabhängig: Es «gibt» ein Problem, wir können gemeinsam eines «haben». Sei dies nun durch Personalmangel, starre Abläufe, ungünstige örtliche Bedingungen, fehlender ärztlicher Support. Vielleicht liegt herausforderndem Verhalten eine einfache Ursache-Wirkungskette zugrunde, aber die Lösung ist selten banal und braucht meist Kooperation auch von jenen, die sich gerade nicht herausgefordert fühlen.
Warum nicht die Menschen selbst fragen, wie sie ihr Verhalten nennen wollen? In Kanada hat die Alzheimer’s Association genau das getan. Das impliziert, dass Menschen mit Demenz durch ihr Verhalten kommunizieren und dass es etwas gibt, auf das sie reagieren. Dann kann man es auch so nennen. Körperpflege, Lärm, Übersehenwerden, Fremdbestimmtsein - es gibt vieles, das ablehnungswürdig ist. Durch diesen Begriff erhalten Menschen mit Demenz Autonomie zugesprochen.
Ich schlage eine Alternative vor, die meines Wissens noch nirgends verwendet wird: «hinweisendes Verhalten». Der Begriff hat keine aggressive Konnotation, sondern weist auf eine Form der Kooperation hin. Es ist nicht wichtig, ob die Pflegeperson durch eigene Erlebnisse und Haltungen «getriggert» wird. Es beschreibt, dass wir nie ausgeliefert sind, sondern immer die Möglichkeit und Aufgabe haben, hinter einer Handlung einen Grund, einen Sinn zu entdecken. Die Verwendung des Begriffs ist eine Herausforderung. Denn damit verbunden ist ein Perspektivenwechsel: vom Erleiden zur Kooperation, vom Opfer des Verhaltens zum verstehenden Partner in einer Situation.
Die Pflege von Menschen mit herausforderndem Verhalten: Beobachten, verstehen und professionell handeln.
Viele Demenzkranke machen es Pflegepersonal, Angehörigen und Bezugspersonen schwer: Sie zeigen zeitweise oder dauerhaft Verhaltensweisen, die abwehrend und herausfordernd wirken. Dieses Verhalten sollte nicht als normale Aggressivität interpretiert werden. Vielmehr ist es oft die einzige Möglichkeit für die Betroffenen, auf ihre Bedürfnisse und Befindlichkeiten aufmerksam zu machen in einer Welt, die sie nicht mehr verstehen. So signalisieren sie, dass sie bestimmte Pflegeangebote oder Betreuungsmaßnahmen ablehnen und/oder nicht begreifen.
Herausforderndes Verhalten ist häufig zu beobachten, wenn verbale Kommunikation aufgrund der Demenz nicht mehr möglich ist. Diese Verhaltensweise kann jedoch mitunter zur Gefährdung anderer oder des Betroffenen selbst führen, auf jeden Fall aber zu einer erheblichen Belastung von Pflegepersonal, Angehörigen und Bezugspersonen. Viele professionell Pflegende, Betreuende und Angehörige stehen diesem Verhalten hilflos, manchmal auch persönlich gekränkt gegenüber. Die Betroffenen leiden teilweise selbst darunter, wenn die Ursachen nicht gefunden werden und dementsprechend der Umgang oder therapeutische und pflegerische Maßnahmen nicht verändert und den individuellen Gegebenheiten angepasst werden.
Demenzkranke, die sich herausfordernd verhalten, benötigen spezielle, auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Betreuung und Pflege.
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