Psychoratgeber boomen. Schaut man sich die Bestsellerlisten der vergangenen Wochen an, müsste es auf unseren Strassen eigentlich nur noch glückliche Menschen geben. Unter den meistverkauften Sachbüchern finden sich Titel wie: «Raus aus Schema F», «101 Essays, die dein Leben verändern werden», «Achtsamkeit statt Angst und Panik», «Jetzt! Die Kraft der Gegenwart».
An vorderster Front steht Stefanie Stahl, Deutschlands erfolgreichste Psychotherapeutin. An der Spitze steht das Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» der deutschen Psychotherapeutin Stefanie Stahl. Und das seit Jahren. Seit 2016 belegt es auch die ersten Ränge der «Spiegel»-Jahresbestsellerliste. Der Psycho-Ratgeber, der sich im Untertitel als «Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme» ausgibt, erschien bereits 2015. Das Buch befindet sich in der 39. Auflage und hat sich bis heute über 2 Millionen Mal verkauft.
Man kann den Erfolg rein kommerziell verstehen, doch die 58-Jährige bezieht den Erfolg lieber auf ihre Methode. «Die Menschen bedanken sich bei mir», sagt Stefanie Stahl im Videogespräch. Gerade habe sie ein Seminar geleitet, und so viele Teilnehmerinnen seien auf sie zugekommen, hätten gesagt: «Steffi, dein Buch hat mein Leben verändert! Dein Podcast hat mich aus einer schweren Krise gerettet!». Ihre Bücher seien deshalb so erfolgreich, sagt Stahl, «weil man sich dank ihnen aus alten Mustern befreien kann».
An die Stelle von Doktor Sigmund Freud ist die Steffi getreten. So nennt sie sich selbst, sie spricht ihre Leser mit Du an, um möglichst nahbar zu wirken. Das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus, hat Freud gesagt und damit die Kränkung gemeint, dass der Mensch unbewussten Vorgängen ausgeliefert sei. Stefanie Stahl und mit ihr die Glückspsychologie-Ratgeber widersprechen, indem sie behaupten: Du kannst dich dazu entscheiden, glücklich zu sein. Nimm dein Leben in die Hand.
Stahl rühmt sich, einen Bauplan der Psyche entworfen und deren Komplexität auf eine einfache Struktur heruntergebrochen zu haben. Mit der Psychoanalyse teilt sie den Ansatz, dass frühkindliche Prägungen unser Denken, Fühlen und Handeln und damit alle späteren Beziehungen bestimmen. Daraus entwickelt sich das Urvertrauen - oder eben nicht. Wer sich nicht binden kann, bekam von den Eltern zu wenig Liebe. Wer sich zu sehr an andere hängt, wurde als Kind überbehütet.
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Die Metapher vom «inneren Kind» hat nicht Stahl erfunden, sie leitet davon aber neu zwei Wesen ab: Das «Schattenkind» in uns steht für schlechte Erfahrungen in der Kindheit, das «Sonnenkind» ist das fröhliche Selbst, das zu Heilung beiträgt. Um die beiden auszusöhnen, gibt sie konkrete Übungen vor, dazu gehören banale Glaubenssätze wie «Erlaube dir, ganz du zu sein».
Nun erscheint Mitte Oktober ihr neues Buch «Wer wir sind» (Kailash-Verlag). Auch diesmal ist Stahl auf dem Cover abgebildet.
Der moderne Mensch blickt tief in sein Inneres. Dabei erhält man den Eindruck, dass es uns umso schlechter geht, je mehr wir uns mit uns selbst beschäftigten. Leute wie Stefanie Stahl, die die Errettung der Seele versprechen, sind entsprechend gefragt, was sich an den langen Wartelisten für freie Therapieplätze zeigt. Auch unsere Sprache ist durchpsychologisiert: Eine Beziehung ist toxisch, etwas triggert mich, spürst du dich noch? So ein Narzisst. Und alle sind traumatisiert.
Ein Titel wie «Das Kind in dir muss Heimat finden» verspricht Trost, es tönt nach Bejahung meiner selbst, man fühlt sich von der bildhaften Sprache angesprochen. Es ist ein gemütliches Buch zum Weiterverschenken, Streichelprosa, vor welcher man keine Angst haben muss. Vielleicht liest man es gerade deshalb: aus Angst vor Veränderung. Nichts schockiert darin, nichts verstört, man blickt in keine inneren Abgründe, muss keine Ambivalenzen aushalten. So geht schmerzloses Seele-Aufräumen.
Stefanie Stahl kann man immerhin zugutehalten, dass sie die Krankenkassen nicht belastet. Patienten sieht Stahl höchstens noch einmalig, danach könnten die Leute entweder alleine weiterarbeiten oder sich anderswo professionelle Unterstützung suchen. Da gibt es auch noch ihren Psychotherapie-Podcast «Stahl, aber herzlich», der vor allem bei jungen Hörern beliebt ist. Sie hat einen Youtube-Kanal und sogar ein Bühnenprogramm. Psychotainment ist für sie nichts Anstössiges: So könne man der Masse psychologisches Wissen vermitteln und dieses erfahrbar machen.
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Was sie vermittle, sei ganz einfach, sagt sie einerseits. Andererseits kann offenbar nur sie das Werkzeug dafür entwickeln und an die Bedürftigen weitergeben. Es sei ihre «Mission in diesem Leben, die Grundstruktur der Psyche herauszuarbeiten», sagt sie und vergleicht das Seelenleben mit der Musik, die auch nur aus zwölf Tönen bestehe. Sobald man die Grundstruktur verstehe, verstehe man besser, «wie das persönliche Lebensstück komponiert ist, und kann an den Disharmonien arbeiten».
Als «unfassbar trivial» bezeichnet der Zürcher Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Strassberg Stahls Bücher. Es finde sich kein neuer Gedanke darin. Es sei vielmehr primitive Anthropologie, zu sagen, dass jeder Mensch nach Grundbedürfnissen wie Bindung und Autonomie funktioniere. «So nivelliert man alle Unterschiede.»
Einen Widerspruch sieht er darin, dass die Autorin menschliche, also unlösbare Grundkonflikte benenne, diese aber als lösbar hinstelle. Eine Überforderung für jeden, der das ernst nimmt.
Oft löse sich ein Problem während einer einzigen Therapiestunde auf, schreibt Stahl in ihren Büchern. Sie erzählt von der Frau, die nach einem sexuellen Missbrauch als Kind keine Beziehung mit einem Mann eingehen konnte - bis «ihrem Schattenkind» klar wurde, dass die Situation vorbei, der Täter tot ist und es nicht mehr in der Realität von vor fünfzig Jahren lebt. «Nach dieser Sitzung war Frau B. so gut wie geheilt.»
Der Haltung, dass Veränderung jederzeit möglich und nötig ist, verdankt auch die Coaching-Branche ihren Aufschwung. Dieses Jahr sprach Stahl am Festival für Coaching und Persönlichkeitsentwicklung Greator in Köln, an dem «zwei Tage unaufhaltsames Wachstum» erlebt werden können und wo ein Ticket schnell einmal über 1000 Euro kostet. Internationale Coaching-Stars peitschen hier ihren Anhängern ein, dass man bloss das Potenzial in sich erkennen müsse, um glücklich zu werden.
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Viele Coaching- und Psychobestseller vertreten im Ansatz die positive Psychologie. Diese fokussiert auf die Stärken des Individuums mit dem Ziel, seine Lebenszufriedenheit zu erhöhen. Das erhöht den Druck, glücklich zu sein, weshalb das Konzept auch kritisiert wird. Denn wenn das Glück eine Entscheidung ist, so bürdet dies dem Einzelnen die ganze Verantwortung auf: Jeder ist nun seines Glücks Schmied, und wer nicht glücklich und erfolgreich ist, hat sich nicht richtig bemüht. Dass die Gesellschaft das Wohlbefinden genauso beeinflusst und man die Umstände verändern muss, damit es den Leuten besser geht, gerät so aus dem Blick.
Der Mensch ist nicht gut genug, wie er ist, und muss sich verbessern - dieser Imperativ reiche in unserer Kultur bis in die Antike und zu den Stoikern zurück, sagt Daniel Strassberg. Wer zu Selbstverbesserung aufrufe, habe dabei immer recht: Er bestätigt einen darin, mangelhaft zu sein, und weil Veränderung schwierig ist, wird gleich auch das Unvermögen bestätigt, etwas zu ändern. Der Psychoanalytiker spricht von einer gesellschaftlichen Verschiebung, welcher ein auf Effizienz ausgerichtetes Denken zugrunde liege: «Es geht nicht mehr darum, etwas zu verstehen, sondern nur noch darum, etwas zu verändern.»
Nicht jedes seelische Leid lasse sich auf Knopfdruck beheben, räumt Stefanie Stahl ein, die sich bei der Neuropsychologie bedient, um aufzuzeigen, wie das Denken das Fühlen beeinflusst. Armut, der Verlust eines Menschen, eine traumatische Kindheit lägen ausserhalb der eigenen Verantwortung, da brauche es mehr als eine andere innere Haltung.
Sobald man im Gespräch aber über ihren theoretischen Hintergrund reden will, wird sie ungeduldig. Sie fürchte, dass man die Leser langweile, sagt sie. Lieber erläutere sie ihr Denken an einem Beispiel, und schon erklärt sie anhand der Kaffeemaschine, die morgens nicht funktioniert und über die man sich ärgert, was der Frust mit unserem Kontrollbedürfnis zu tun hat.
Für einmal hat man das Gefühl, dass es noch trivialer ist.
Beispiele für weitere psychologische Ratgeber Bücher:
- «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen» (2020), Philippa Perry
- «Wie wir die Welt sehen» (2022), Ronja von Wurmb-Seibel
- «Der Feind in meinem Kopf» (2015), Matthias Hammer
- «Besser fühlen» (2021), Leon Windscheid
- «Du musst nicht von allen gemocht werden» (2018), Ichiro Kishimi und Fumitake Koga
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