Im November 1979 überfielen deutsche RAF-Terroristen die Schweizerische Volksbank an der Bahnhofstrasse. Auf der Flucht wurde im Shopville eine Passantin erschossen. Seit mehr als sieben Jahren sorgten die deutschen Terroristen vor allem in Deutschland für Angst und Schrecken: mit Bombenanschlägen auf Armeestützpunkte und Polizeistellen, mit Entführungen und Ermordungen - zuletzt im Herbst 1977, als sie den deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer töteten und palästinensische Terroristen eine Lufthansa-Maschine entführten, um die RAF-Gefangenen in der Strafanstalt Stuttgart-Stammheim freizupressen.
Der Überfall auf die Schweizerische Volksbank
Die notorisch von Geldsorgen geplagten Terroristen waren im November 1979 denn auch nur in der Schweiz, um sich Geld zu beschaffen: Um 8.15 Uhr springt einer von ihnen mit der Waffe in der Hand auf den Tresen der Schweizerischen Volksbank an der Bahnhofstrasse. In der anderen Hand hat er eine Stoppuhr: «Überfall!», brüllt er in die Schalterhalle. Der Hauptkassierer will das nicht wahrhaben: Er glaubt, es sei eine Übung, veranstaltet von der Generaldirektion. «Lass den Blödsinn», blafft er einen der Terroristen an - und wird zur Seite gestossen.
Nach fünfzig Sekunden ist der Spuk vorerst vorbei: «Fertig!», ruft der Anführer des Überfalls auf dem Tresen seinen Mittätern zu. Ihnen gelingt es, etwas mehr als eine halbe Million Franken zu erbeuten, die sie in einen Plastiksack und in eine Segeltuchtasche stopfen. Sie flüchten erst zu Fuss, dann mit den Velos, die sie in einer Seitengasse der Bahnhofstrasse abgestellt haben.
Die Verfolgungsjagd und das Schusswechsel im Shopville
Dann geschieht, wovor die Polizei später entschieden warnen wird: Bankbeamte nehmen eigenständig die Verfolgung der Terroristen auf. Was äusserst gefährlich ist, wie eigentlich jeder weiss, der sich mal mit der RAF beschäftigt hat. Einer der Bankbeamten stoppt auf der Bahnhofstrasse einen Opel Rekord mit Bündner Nummernschild: Er kann den Fahrer überreden, mit ihm zusammen den Terroristen nachzujagen - erst um den Jelmoli herum, dann durch die Einkaufspassage bei der Lintheschergasse.
Doch dann, als der Bankbeamte glaubt, er könne aus dem Autofenster nach dem Plastiksack mit dem Geld greifen, werden die Verfolger von den Terroristen bemerkt: Von ihren Velos herab schiessen die Täter auf den Opel. Eine Kugel durchschlägt die Windschutzscheibe und pfeift am Ohr des Lenkers vorbei; der Wagen kommt auf der Höhe des Globus zu stehen.
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Den RAF-Terroristen flüchten in die unterirdische Shopville-Passage des Zürcher Hauptbahnhofs, die damals noch sehr überschaubar ist und sich nur über die Fläche zwischen Bahnhofstrasse und Hauptportal erstreckt. Dort kommt es zwischen Silberkugel, Kiosk, Fein-Kaller und Aufgang zum HB zum Schusswechsel zwischen einem Polizisten und den RAF-Terroristen, bei dem die Passantin Edith Kletzhändler von einem Projektil der Terroristen getroffen wird. Sie sinkt zu Boden und stirbt kurz nach der Einlieferung ins Universitätsspital.
Die Verhaftung von Rolf Clemens Wagner
Die Blutspur der RAF endet am Vormittag des 19. November 1979 vorerst hinter dem Bahnhof, auf der Seite des Landesmuseums, bei der «Chüechliwirtschaft»: Die flüchtenden Terroristen schiessen der Besitzerin eines Blumenladens in die Brust, als sich diese weigert, ihren weissen Opel Commodore den Bankräubern zu überlassen. «Spinnst du?», soll sie einem der RAF-Terroristen zugerufen haben. In einem Schusswechsel mit den Terroristen wird ein weiterer Polizist verletzt, der die Verfolgung aufgenommen hat. Den Tätern gelingt die Flucht mit dem Commodore der Blumenhändlerin.
Nur einer der RAF-Terroristen wird an diesem Morgen verhaftet: der 35-jährige Rolf Clemens Wagner. Er leidet an einer Lungentuberkulose. Nach der anstrengenden Aktion lässt er sich auf ein Bänkli an der Tramhaltestelle vor dem Hauptbahnhof sinken. Dort verhaftet ihn die Polizei, nachdem er von einem Passanten aus dem Shopville erkannt worden ist.
Zwischen Wagners Beinen steht eine blaue Segeltuchtasche, darin befinden sich insgesamt 335’010 Franken der Beute - und ein durchgeladener und entsicherter Colt, Kaliber 45, mit gespanntem Hahn. Als die Polizeibeamten Wagner in verschiedenen Sprachen anreden, zuckt dieser nur mit den Schultern und schweigt. Er wird auch in den folgenden Tagen jegliche Aussage verweigern.
Die Reaktion der Schweiz und die Fahndung
Die Schweiz steht in den nächsten Tagen nachhaltig unter Schock: Als Rolf Bertschi, Kommandant der Zürcher Stadtpolizei, von einem Journalisten zum Überfall befragt wird, soll dieser - angesichts der Brutalität der Terroristen - in Rage geraten sein.
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Die Nerven liegen im November 1979 offensichtlich blank, was nicht weiter erstaunlich ist: Für die Schweiz ist es das erste Mal, dass sie unmittelbar vom deutschen Terrorismus betroffen ist. Zu RAF-Gewalt kam es bisher nur an der Grenze: Am 5. Januar 1977 eröffnen bei Riehen BS zwei Männer das Feuer, wobei ein Zöllner schwer verletzt wird. Einer der Männer ist der RAF-Terrorist Christian Klar, der auch am Überfall in Zürich beteiligt ist.
Relativ schnell ist für die offizielle Schweiz klar, wer schuld ist am RAF-Überfall in Zürich: der jugoslawische Staatspräsident Tito. Tatsächlich ist Wagner im Mai 1978 in Zagreb zusammen mit den RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt, Peter-Jürgen Boock und Sieglinde Hofmann verhaftet worden. Jugoslawien lässt Wagner und die anderen RAF-Terroristen in ein Land ihrer Wahl ausreisen: Sie setzen sich in den Jemen ab, wo sich ihre Spuren verlieren - bis sie in Zürich wieder auftauchen.
Die Vorbereitung des Überfalls und die Ermittlungen
Heute wissen wir, wie sich die RAF-Terroristen auf den Überfall in Zürich vorbereiteten. Ursprünglich hatten sie nämlich ganz andere Pläne, als sie in die Schweiz kamen: Eigentlich wollten die RAF-Terroristen einen Unternehmer entführen. Doch schon bald sehen die Terroristen ein, dass sie für eine solche Entführung nicht genug Leute sind. Also schwenken sie wieder um auf einen Banküberfall: Ausgehend von drei angemieteten Wohnungen in Bern, Freiburg und Lausanne erkunden sie in drei Spähtrupps die Schweiz. Dann entdecken Peter-Jürgen Boock und Christian Klar die Volksbankfiliale an der Zürcher Bahnhofstrasse: Hier müsste es wesentlich mehr Geld zu erbeuten geben als bei ihren bisherigen Überfällen in Deutschland und in den Benelux-Staaten.
Nach dem gescheiterten Mordanschlag auf Alexander Haig, Nato-Oberbefehlshaber in Europa, im Juni 1979 ist der Zürcher Überfall die «zentrale Aktion» der deutschen Terroristen, erinnert sich später das RAF-Mitglied Silke Maier-Witt. Inzwischen wird die ganze Schweiz zur Fahndung nach den RAF-Terroristen aufgerufen.
Den schweigenden Rolf Clemens Wagner hatte man bereits mithilfe der Fingerabdruck-Datenbank des Bundeskriminalamts (BKA) in Wiesbaden identifiziert. In der Schweiz ist man davon noch weit entfernt. Die Polizei zeigt sich angesichts dieses Aktivismus und der vertrackten politischen Situation - zwischen Bonn und Zagreb, zwischen den Kantonen und Parteien - pragmatisch.
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Die dritte Generation der RAF und die Festnahme von Daniela Klette
Nach über dreissig Jahren Fahndung wurde die Terroristin Daniela Klette gefasst. Ihre zwei Komplizen sind noch flüchtig. Die letzten Mitglieder der Rote-Armee-Fraktion zogen eine Blutspur durch Deutschland. Die Ermordung von Ernst Zimmermann ist der erste Mordanschlag der dritten Generation der RAF. Dieser gehörte mutmasslich auch Daniela Klette an, die vergangene Woche überraschend enttarnt und in Berlin festgenommen wurde. Zusammen mit den ehemaligen RAF-Mitgliedern Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg, die noch nicht gefasst werden konnten, soll Klette zwischen 1999 und 2016 mehrere Raubüberfälle auf Geldtransporter und Supermärkte begangen haben.
Daniela Klette gehört zu den wenigen, die Auskunft geben können. Ihre Aussagen würden Verbrechen klären, die Deutschland in den vergangenen vierzig Jahren in Atem hielten - wenn sie bereit ist, zu reden. Ihre Festnahme ist ein später Erfolg der Polizei, nach mehr als dreissig Jahren Fahndung. Und sie macht bewusst, dass die letzten RAF-Terroristen jahrelang unter uns waren und noch immer unter uns sind, auch wenn die RAF längst Geschichte ist.
Die dritte Generation hatte gelernt. Sie agierte unauffällig, aber effizient. Die Aktionen kamen scheinbar aus dem Nichts und waren minuziös geplant. Die Täter agierten professionell: kaum Spuren am Tatort, nicht einmal Fingerabdrücke. Keine konspirativen Wohnungen, Autos wurden höchstens gemietet, für einzelne Aktionen. Von den zehn Morden, die der dritten RAF-Generation zur Last gelegt werden, sind neun bis heute nicht aufgeklärt.
Ideologisch waren die Mitglieder auf den Kampf gegen den «internationalen Imperialismus» eingeschworen. Dafür waren sie bereit, skrupellos und kaltblütig zu morden. Am 30. November 1989 wurde Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, getötet. Am 1. April 1991 wurde Detlev Karsten Rohwedder in seinem Haus in Düsseldorf aus mehr als sechzig Metern Distanz erschossen.
Ein Haar könnte auch Daniela Klettes Mittäterschaft an einem der grössten Attentate der dritten RAF-Generation beweisen. Im März 1991 wurde die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in Hessen durch einen Sprengstoffanschlag fast komplett zerstört. Der Anschlag in Weiterstadt war die letzte Aktion der RAF. Im Frühling 1998 gab die Terrorbande in einer den Medien zugespielten Erklärung ihre Auflösung bekannt.
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