Psychisch Chronisch Krank: Definition, Ursachen und Umgang

Chronische Erkrankungen ziehen eine Vielzahl an psychischen Folgen nach sich. Mit der zunehmend höheren Lebenserwartung der Gesellschaft rücken chronische Krankheiten und deren psychischen Folgen immer mehr in den Fokus und stellen eine grosse Herausforderung sowohl für die Betroffenen als auch für das gesamte Gesundheitssystem dar.

Definition und Entstehung

Als chronische Erkrankung wird eine Krankheit bezeichnet, die lange andauert, meist schwer oder nicht vollständig heilbar ist und dazu führt, dass wiederholt Behandlungen in Anspruch genommen werden müssen. In der Schweiz leiden über zwei Millionen Personen an einer chronischen Erkrankung. Mit zunehmendem Alter zeigt sich zudem ein Anstieg der Personen, die an mehreren chronischen Erkrankungen (Multimorbidität) leiden.

Die Diagnose einer chronischen Krankheit ist ein einschneidendes Erlebnis. Sie wirft viele Fragen auf: “Was bedeutet dies für mein weiteres Leben?” - “Wie ist es dazu gekommen?” - “Wieso passiert das ausgerechnet mir?” Die Diagnose einer chronischen Erkrankung bedeutet für viele Menschen eine grosse Belastung, die neben den körperlichen Einschränkungen auch Veränderungen des psychischen Wohlbefindens mit sich bringt. Das Zusammenspiel chronischer Erkrankungen und psychischer Gesundheit ist daher ein wichtiges Thema im Lebensalltag der Erkrankten und von deren Angehörigen.

Chronisch erkrankt zu sein bedeutet einen Kontrollverlust, was Stress auslöst und Hilflosigkeit verursacht. Dieser Stress kann wiederum den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen, was zu mehr Stress führen kann. Die Diagnose ruft viele Unsicherheiten hervor bezüglich der eigenen Identität und Lebensplanung.

Von Betroffenen muss eine grosse Anpassungsleistung erbracht werden, um mit der Krankheit umgehen zu können. Eine chronische Erkrankung führt zu wahrgenommenen und tatsächlichen Einschränkungen, deren Folgen genauso herausfordernd sein können, wie die körperlichen Symptome. Als Folge der Erkrankung können sich Schwierigkeiten im Umgang mit dem Gesundheitssystem, familiäre, finanzielle, soziale und psychische Probleme entwickeln. Durch die Erkrankung kann es sein, dass sich die berufliche Situation ändert und Anpassungen im sozialen Umfeld erfolgen müssen. Unklarheiten bezüglich der sozialen Rollen.

Lesen Sie auch: Erfahrungen mit Globuli bei Übelkeit

Ursachen chronischer Erkrankungen

Es gibt viele Faktoren, die zur Entstehung einer chronischen Erkrankung beitragen. Darunter fällt einerseits die genetische Veranlagung, was bedeuten kann, dass eine bestimmte Erkrankung in einer Familie gehäuft beobachtet wird. Andererseits gibt es äussere Faktoren, die vom Betroffenen selbst nicht oder nur eingeschränkt beeinflussbar sind, zum Beispiel Unfälle und Viruserkrankungen.

Ein erhöhtes Risiko, an einer chronischen Erkrankung zu leiden, kann jedoch zu einem Teil durch eigenes Verhalten im Lebensalltag beeinflusst werden. Dazu gehören zum Beispiel das Vermeiden eines übermässigen Alkoholkonsums, des Rauchens, mangelnder Bewegung sowie ungesunder Ernährung. Risikoverhalten jedoch kann die Entstehung von somatischen chronischen Erkrankungen begünstigen, wie zum Beispiel Herz-/Kreislauferkrankungen, Tumorerkrankungen oder chronischer Lungenerkrankungen.

Der weitere Verlauf einer chronischen Erkrankung und das damit verbundene Risiko, an einer psychischen Folgeerkrankung zu leiden, sind von vielen Faktoren abhängig. Dabei spielen zum Beispiel die persönlichen Ressourcen, die eigene Sicht auf die Erkrankung und ein aktiver Umgang mit der Erkrankung eine Rolle.

Reaktionen auf die Diagnose

Die Diagnosestellung ist für die meisten Betroffenen ein einschneidendes Erlebnis. Chronische Erkrankungen können zu Veränderungen der eigenen Körperwahrnehmung, des Verhaltens, der sozialen Interaktion und des emotionalen Erlebens führen. Plötzlich werden Zukunftspläne in Frage und die Lebensplanung auf den Kopf gestellt. Durch die Diagnose können grosse Herausforderungen entstehen.

Eine dieser Herausforderungen besteht darin, die Erkrankung in das Leben und das Bild des eigenen Selbst zu integrieren. Wie erfolgreich dies gemeistert wird, hängt unter anderem von der Persönlichkeit der betroffenen Person, ihrem sozialen Netzwerk, von ihren Bewältigungsmöglichkeiten und einer wirksamen therapeutischen Unterstützung ab.

Lesen Sie auch: Psychische Folgen von Einsamkeit

Psychische Folgen chronischer Erkrankungen

Chronische Erkrankungen können in verschiedener Ausprägung die Aktivitäten im Lebensalltag, das psychische Wohlbefinden, das soziale Verhalten und somit die Lebensqualität des Einzelnen beeinflussen. Ist eine Bewältigung der chronischen Erkrankung durch den Einzelnen nicht mehr möglich, so kann dies zu einem Ungleichgewicht der psychischen Gesundheit führen.

Zu psychischen Folgeerkrankungen einer chronischen Erkrankung zählen unter anderem Depressionen, Angststörungen, Gefühle von Kontrollverlust und Körperwahrnehmungsstörungen. Es wird davon ausgegangen, dass jede zweite Person, die unter einer chronischen Erkrankung leidet, im weiteren Verlauf des Lebens eine psychische Folgeerkrankung entwickelt. Frauen sind davon häufiger betroffen als Männer.

Die wahrgenommene Belastung einer chronischen Erkrankung ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die Unterschiede begründen sich in Persönlichkeitsfaktoren, dem sozialen Umfeld sowie den individuellen Ressourcen und Vulnerabilitäten.

  • Chronisch Erkrankte haben mit einem Gefühl der Verletzung ihrer körperlichen Integrität zu kämpfen.
  • Die Erkrankung bedroht ihr Selbstbild und je nach Erkrankung ihr Leben.
  • Es ist schwierig zu akzeptieren, dass die Erkrankung irreversibel ist und je nach dem progredient verläuft.
  • Zudem gilt es auch, mit der reduzierten körperlichen Leistungsfähigkeit klarzukommen.
  • Chronische Schmerzen sind Teil vieler chronischer Erkrankungen und stellen eine Belastung dar, deren Bewältigung viel Energie benötigt.
  • Zudem sehen sich viele Betroffene therapeutischen Massnahmen ausgesetzt, die sie zum Teil aversiv erleben.

Dazu kommt gleichzeitig die Abhängigkeit vom medizinischen System. All dies kann zu Gefühlen der Hilflosigkeit, Wut, Scham, Depression und Angst führen. In diesem Zusammenhang kommt es oft zu Depressionen, Angststörungen, Anpassungsstörungen und Körperschemastörungen.

Krankheitsbewältigung

Die Krankheitsbewältigung bezeichnet den psychischen und aktiven Prozess, die Folgen und Belastungen einer Erkrankung zu verarbeiten, auszugleichen und abzuschwächen. Die Bewältigung wird von vom Krankheitsverlauf, Persönlichkeitsfaktoren und dem sozialen Umfeld beeinflusst.

Lesen Sie auch: Umgang mit psychischer Belastung

Eine günstige Krankheitsbewältigung zeichnet sich durch einen stabilen, an das Funktionsniveau angepassten Zustand aus, in dem die bestmögliche Lebensqualität erreicht wird. Bei einer ungünstigen Krankheitsbewältigung entwickeln sich psychische Erkrankungen. Dies ist bei Personen mit einer chronischen Erkrankung häufig der Fall.

Die psychischen Erkrankungen können sich wiederum negativ auf den Krankheitsverlauf der chronischen Erkrankungen auswirken.

Herausforderungen und Lösungsansätze

Im Gegensatz zu akuten Erkrankungen begleitet eine chronische Erkrankung die Betroffenen dauerhaft. Daher passt die typische Krankenrolle nicht auf chronisch Erkrankte. Während bei akut Erkrankten der Fokus auf die schnelle Genesung gelegt wird, so ist dies bei einer chronischen Erkrankung nicht anwendbar. Vielmehr geht es um eine Anpassung an den Zustand und einen möglichst guten Umgang mit der Erkrankung. Es handelt sich nicht um einen Ausnahmezustand wie bei einer akuten Krankheit.

Unsere Gesellschaft ist auf Leistungsfähigkeit ausgerichtet und es besteht in vielen Fällen eine grosse Erwartungshaltung an erkrankte Menschen, schnellstmöglich wieder die erforderten Leistungen erbringen zu können. Es wird erwartet, dass die hierfür notwendigen Massnahmen ergriffen werden. Dies ist bei einer chronischen Erkrankung jedoch nicht im gleichen Ausmass möglich wie bei einer akuten. Eine dauerhafte Einschränkung kann daher bei Betroffenen zu Unsicherheiten und Gefühlen der Unzulänglichkeit führen. Die unklare soziale Rolle stellt eine zusätzliche Belastung zur chronischen Erkrankung dar.

Information und Arzt-Patienten-Beziehung

Um Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehens treffen zu können, bedarf es verlässlicher Informationen. Durch die psychische sowie körperliche Beeinträchtigung ist der Entscheidungsprozess ohnehin erschwert. Daher ist der Bedarf nach Informationen besonders gross.

Es kann eine grosse Belastung sein, Entscheidungen bezüglich der Behandlung treffen zu müssen. Es kann Angst auslösen, über verschiedene Krankheitsverläufe, Komplikationen und Nebenwirkungen nachzulesen. Deshalb ist eine gute Beratung durch den Arzt für viele Betroffene eine Entlastung.

Aufgrund der Abhängigkeit vom Gesundheitssystem ist eine vertrauensvolle Beziehung zum Arzt bei chronisch Kranken besonders wichtig. Häufige Ärztewechsel werden belastend wahrgenommen. Dennoch kann es unter Umständen lange dauern, bis die Betroffenen einen Arzt finden, dem sie voll vertrauen. Sie wünschen sich, als ganzheitliche Person wahrgenommen zu werden und Bedenken bezüglich der Behandlung ausdiskutieren zu können. Dies ist ein wichtiger Faktor für eine gute Compliance und Therapieadhärenz.

Psychische Erkrankungen: Überblick

Eine psychische Erkrankung kann auf verschiedene Arten definiert werden. In der Psychiatrie gibt es zwei anerkannte Klassifikationen, diejenige der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die der American Psychiatric Association (APA; deutsch: amerikanische psychiatrische Gesellschaft). Unsere Definition basiert auf diesen beiden Klassifikationen.

  • Angststörungen: Angst äussert sich in einem Gefühl der psychischen Unruhe und der Unsicherheit und muss nicht unbedingt mit einem bestimmten Gegenstand oder einer bestimmten Person zusammenhängen. Angststörungen gehen oft mit einer depressiven Störung einher. Angststörungen können mit einer Psychotherapie behandelt werden, namentlich mittels kognitiver Verhaltenstherapie, auch noch medikamentös.
  • Bipolare Störungen: Bipolare Störungen sind Teil der affektiven Störungen. Bipolare Störungen können erhebliche Folgen auf den Alltag haben, wobei Berufs- oder Sozialleben nicht unbedingt beeinträchtigt werden. Je schneller die Krankheit behandelt wird, desto besser der Verlauf. Bipolare Störungen werden mit einer Psychotherapie in Kombination mit Medikamenten behandeln.
  • Borderline-Persönlichkeitsstörung: Die Symptome, die oftmals gegen Ende des Jugendalters auftreten, haben schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen, aber auch auf deren Umfeld. Die heftigen Stimmungs- und Gefühlsschwankungen beeinträchtigen den Alltag massiv. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung muss mit Psychotherapie behandelt werden, manchmal in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung.
  • Depression: Eine Depression äussert sich durch anhaltende Traurigkeit, den Verlust des Interesses an jeglichen Tätigkeiten und schwindender Energie. Es empfiehlt sich eine Psychotherapie, teilweise in Ergänzung mit Medikamenten (Antidepressiva).
  • Essstörungen: Essstörungen haben erhebliche und gefährliche Auswirkungen auf die Gesundheit. Es ist wichtig, bei Symptomen im Zusammenhang mit dem Essverhalten rasch eine Ärztin oder einen Arzt heranzuziehen. Ausserdem müssen das Gewicht und der Allgemeinzustand medizinisch überwacht werden. Auch eine Ernährungsumstellung ist angezeigt. Parallel dazu wird eine Psychotherapie empfohlen, in die auch die Familie der betroffenen Kinder oder Jugendlichen eingebunden wird.
  • Psychotische Störungen: Psychose wird definiert als ein Verlust des Realitätsbezugs. Meistens findet die Behandlung in Form von ambulanten Sprechstunden ausserhalb des Spitals statt. Auch die Unterstützung, das offene Ohr und das Wohlwollen von nahestehenden Personen (Familie, Freunde) ist für die Genesung sehr wertvoll.
  • Suchtstörungen: Wer abhängig ist, verspürt den starken, kaum oder gar nicht zu kontrollierenden Wunsch nach einer Substanz. Die süchtige Person gewöhnt sich an das Produkt und bekommt Entzugserscheinungen, wenn sie es nicht konsumiert. Es ist wichtig, mit einer Fachperson darüber zu sprechen, damit man das Problem im Alltag in den Griff bekommt.

Was wird übernommen?

Chronische Erkrankungen sind langwierig und wirken sich zwangsläufig auf das tägliche Leben aus. Das kann von der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung bis hin zur Änderung von Gewohnheiten gehen und sogar zur Einschränkung oder Aufgabe der beruflichen Tätigkeit führen. Hier ein Überblick über die wichtigsten Folgekosten dieser Beinträchtigungen, welche die Sozialversicherung übernimmt.

  • Krankheitsbedingte Gesundheitskosten werden gemäss Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) von der Grundversicherung übernommen, nach Abzug der gewählten Franchise.
  • Chronische Erkrankungen, die durch die Ausübung der beruflichen Tätigkeit und durch die Verwendung von Schadstoffen oder die Verrichtung bestimmter Arbeiten entstehen, sind durch die Unfallversicherung (UVG) gedeckt.
  • Eine Person, deren Arbeits- und Erwerbsfähigkeit aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation eingeschränkt ist, wird voraussichtlich von der Invalidenversicherung im Hinblick auf eine berufliche Wiedereingliederung oder eine mögliche Rente unterstützt.

Vorbeugung

Um das Risiko einer chronischen Erkrankung zu mindern, empfiehlt es sich, mit dem Rauchen aufzuhören und den Alkoholkonsum einzuschränken, sich ausgewogen zu ernähren, sich vor der Sonne zu schützen und sich regelmässig körperlich zu betätigen. Zudem kann ein Screening Sicherheit schaffen. Es bietet die Möglichkeit, eine Krankheit frühzeitig zu erkennen, bevor Symptome auftreten, und so die Heilungschancen zu erhöhen.

Die Impfung ist ein effizientes Mittel, um zahlreichen Krankheiten vorzubeugen und sie zu bekämpfen und sich vor Krebsarten zu schützen, die durch Krankheitserreger wie Hepatitis B (Leberkrebs) oder HPV (Gebärmutter- oder Analkanalkrebs) begünstigt werden.

Mit einer oder mehreren chronischen Krankheiten leben

  • Therapiekontrolle: Angemessene und regelmässige Behandlungen sind wichtig, um mit der Krankheit zu leben und ihren Fortschritt zu begrenzen.
  • Referenzärztin oder Referenzarzt: Koordiniert den Behandlungsprozess und ist die erste Anlaufstelle und die Vertrauensperson der Patientin oder des Patienten.
  • Impfung: Eine Impfung bietet Schutz vor ansteckenden Krankheiten.
  • Hilfe von Organisationen: Dank dem Angebot zahlreicher Organisationen können Sie gezielte Informationen finden, Schulungen besuchen, um mit Ihrer Krankheit leben zu lernen, persönliche Hilfe erhalten oder andere Betroffene treffen.

Das Beispiel von Frau V.

Als nach einer Krebserkrankung bei Frau V. auch eine COPD Stadium II diagnostiziert wurde, begann sie, an depressiven Verstimmungen zu leiden. Der Tod ihrer Tochter im Jahr 2015 verschlimmerte diesen Zustand. Seitdem hat sie Mühe, ihren Alltag zu meistern und ihre Wohnung zu verlassen. In seinem Bericht vom April 2016 stellte ihr Pneumologe eine geringe Therapietreue fest und betonte, wie wichtig es sei, dass sie einen Weg aus den Depressionen finde und ihr Leben in die Hand nehme. Dieser Bericht war an den psychosozialen Dienst der Lungenliga Neuenburg gerichtet.

Dank den Besuchen von Fachpersonen konnte Frau V. ihre Selbstständigkeit wiedererlangen; eine der wichtigsten Quellen für die Selbstachtung. Heute tauscht sie sich mit Freude regelmässig mit anderen Betroffenen aus. Dies gibt ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ihr hilft, die Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit in Angriff zu nehmen. Das Team des psychosozialen Dienstes bleibt mit ihr in Kontakt, damit sie sich verstärkt auf ihre Zukunft konzentrieren kann.

«Es ist immer schwierig, hinauszugehen. Aber ich weiss, dass es mir viel besser geht, wenn ich mich dazu motivieren kann», sagt sie. Mit der Kombination von psychologischer und sozialer Betreuung ist es dem Team des psychosozialen Dienstes gelungen, bei Frau V. eine Veränderung anzustossen und sie aus dem Teufelskreis der Isolation und der Depression zu holen.

tags: #psychisch #chronisch #krank #definition