Posttraumatisches Wachstum und Charakterstärken

Charakter wird als Überbegriff für positiv bewertete Eigenschaften von Personen verwendet. Im Gegensatz zum vorherrschenden Verständnis von Persönlichkeit oder Temperament schliesst Charakter auch Eigenschaften mit ein, die Ausdruck von Exzellenz sind (z.B. moralische oder intellektuelle Exzellenz).

Die Wiederentdeckung des Charakters in der Psychologie

Obwohl Charakter zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zentrales Thema der Psychologie war, wurde er aus der wissenschaftlichen Literatur „verbannt“, die sich, gemäss Gordon Allport und Henry Odbert (1936), nur mit „neutralen“ Konzepten auseinandersetzen solle, während bewertete Eigenschaften Thema der Philosophie seien.

Das vorherrschende Konzept von Charakter stammt von den amerikanischen Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman (2004). Laut Peterson und Seligman beschreibt Charakter weitgehend stabile interindividuelle Unterschiede in Charakterstärken und Tugenden, von denen jedoch - im Gegensatz zu klassischen Persönlichkeitseigenschaften - explizit angenommen wird, dass sie veränderbar sind.

Tugenden und Charakterstärken

Tugenden werden von Moralphilosophen und religiösen Denkern als Kerneigenschaften des menschlichen Funktionierens angesehen. Sechs Tugenden tauchen in den historischen und zeitgenössischen Schriften aus verschiedensten Kulturen immer wieder auf: Weisheit, Mut, Humanität, Gerechtigkeit, Mässigung und Transzendenz.

Charakterstärken sind die Prozesse oder Mechanismen, welche die Tugenden definieren. Sie stellen unterschiedliche Wege dar, Tugenden auszuüben beziehungsweise zu zeigen. Die Tugend Weisheit kann beispielsweise durch die Ausübung der Charakterstärken Kreativität, Neugierde, Liebe zum Lernen, Urteilsvermögen und Weitsicht erlangt werden.

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Situative Themen sind spezifische Gewohnheiten, die es Personen ermöglichen, bestimmte Charakterstärken in einer gewissen Situation zu zeigen. Die Gallup Organisation hat viele hunderte situative Themen für den Kontext des Arbeitsplatzes identifiziert, beispielsweise „Empathie“ (Bedürfnisse anderer antizipieren und begegnen), „Positivität“ (das Gute im Menschen und in Situationen sehen) oder „Einschluss“ (anderen das Gefühl geben, Teil der Gruppe zu sein) (Buckingham & Clifton, 2001). Situative Themen können sich je nach Situation (z.B.

Die Klassifikation der Tugenden und Charakterstärken entstand durch die Sichtung philosophischer, religiöser und psychologischer Literatur sowie Tugendkatalogen (z.B. gemeinnütziger Vereine oder der Pfadfinder) und Quellen aus der populären Kultur (z.B. positive Eigenschaften von Superhelden). Als Gegenstück zur DSM-Klassifikation psychischer Krankheiten bildet sie eine Klassifikation positiver Eigenschaften. Anhand von zehn Kriterien wurden 24 Charakterstärken in die Klassifikation aufgenommen.

Als Signaturstärken werden jene Stärken bezeichnet, die besonders typisch für eine Person sind und gerne und häufig eingesetzt werden. Von einer Signaturstärke kann gesprochen werden, wenn verschiedene Kriterien erfüllt sind. Unter anderem werden von Peterson und Seligman (2004) folgende Kriterien genannt: Ein Gefühl von Authentizität gegenüber der Stärke („das bin wirklich ich“), ein Gefühl von Freude während der Ausübung der Stärke und eine intrinsische Motivation, die Stärke auszuüben.

Instrumente zur Erfassung von Charakterstärken

Das VIA-IS, ein Fragebogen mit 240 Items, ist das Standardinstrument zur Erfassung der 24 Charakterstärken der VIA Klassifikation und wird vielseitig in Forschung und Praxis eingesetzt. Die deutschsprachige Version des VIA-IS kann kostenlos auf der folgenden Internetseite bearbeitet werden (inkl.

Das VIA-Youth ist ein Fragebogen zur Erfassung von Charakterstärken für Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren. Anhand von 198 Fragen werden die 24 Charakterstärken erhoben. Die deutschsprachige Version des VIA-Youth kann unter dem folgendem Link kostenlos bearbeitet werden (inkl.

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Das VIA-SI ist ein standardisiertes Interview, das Signaturstärken erfasst und ca. 30 Minuten dauert. In diesem Verfahren werden nur qualitative und keine quantitativen Informationen über die Charakterstärken bzw.

Die CSRF ist ein Forschungsinstrument, welches anhand von 24 Fragen Charakterstärken erhebt. Dieses Instrument eignet sich nicht für die Individualdiagnostik, da die Messgenauigkeit aufgrund der Kürze gering ist.

Kulturelle Gültigkeit von Charakterstärken

Obwohl die VIA-Klassifizierung in den USA entwickelt wurde, zeigt sich in einigen Studien, dass sich Charakterstärken über Kulturen hinweg als nützlich erweisen. Dieselben Charakterstärken finden sich sogar in Kulturen wieder, die mit sehr unterschiedlichen Traditionen leben.

Biswas-Diener (2006) untersuchte drei sehr unterschiedliche Kulturen, die miteinander nicht in Kontakt stehen: Mitglieder der in Kenia lebenden Maasai, die in Nord-Grönland lebenden Inughuit und US-amerikanische Studenten. Die Ergebnisse seiner Studie zeigten, dass Personen über alle drei Kulturen hinweg die 24 Charakterstärken für existent hielten, sie befürworteten und die Entwicklung vom Charakter als realistisch und wichtig beurteilten. Kleine Unterschiede zeigten sich nur bezüglich der wahrgenommenen Wichtigkeit spezifischer Charakterstärken (z. B.

Der Nachweis, dass die 24 Charakterstärken über Kulturen hinweg anerkannt werden, legt eine Grundlage für die Erforschung weiterer Fragen. Daraufhin wurde ermittelt, inwiefern die Charakterstärken in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt sind.

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McGrath (2014) untersuchte zum Beispiel Teilnehmende aus 75 Nationen aller Kontinente. Die Ergebnisse sprechen für eine kulturübergreifende Übereinstimmung bei der Befürwortung von Charakterstärken. Über Kulturen hinweg sind die Charakterstärken mit den höchsten Ausprägungen Ehrlichkeit, Fairness, Freundlichkeit, Neugier und Urteilsvermögen. Fairness befand sich sogar in allen 75 Ländern unter den fünf am stärksten befürworteten Stärken. In allen 75 Ländern waren Selbstregulation, Bescheidenheit, Vorsicht, Spiritualität und Tatendrang die am niedrigsten ausgeprägten Charakterstärken.

Ein besonders wichtiger Befund ist, dass sich eine kulturübergreifende Konsistenz in der Selbstbeschreibung von Charakterstärken, wie auch schon in einer früheren Studie von Park, Peterson und Seligman (2006), finden liess.

Zusammenhang zwischen Charakterstärken und Lebenszufriedenheit

Der Zusammenhang zwischen Charakterstärken und Lebenszufriedenheit wurde vielfach untersucht. Die Charakterstärken Neugier, Dankbarkeit, Hoffnung, Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden und Tatendrang korrelieren dabei über viele Studien hinweg am stärksten mit Lebenszufriedenheit (z.B. Park, Peterson & Seligman, 2004). Mässige Korrelationen mit Lebenszufriedenheit zeigen sich in diesen Studien für die Charakterstärken Sinn für das Schöne und Exzellenz, Kreativität, Urteilsvermögen, und Liebe zum Lernen.

Diese Ergebnisse basieren auf Selbstberichten, d.h. eine Person beantwortet sowohl die Fragen zu Charakterstärken als auch zu Lebenszufriedenheit. Übereinstimmende Ergebnisse wurden aber auch bei Einschätzungen durch Bekannte gefunden. Allefalls zeigten sich signifikante Zusammenhänge zwischen 10 Charakterstärken, die durch nahestehende Personen eingeschätzt wurden, und Lebenszufriedenheit (Buschor, Proyer & Ruch, 2013).

Wie bei Erwachsenen zeigen sich auch bei Kindern und Jugendlichen positive Beziehungen zwischen den Charakterstärken Dankbarkeit, Hoffnung, Tatendrang und der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden und der Lebenszufriedenheit (Park & Peterson, 2006a; Gillham et al., 2011). Sehr junge Kinder zwischen drei und neun Jahren, die durch ihre Eltern als glücklich beschrieben wurden, wiesen die Charakterstärken Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, Hoffnung und Tatendrang auf (Park & Peterson, 2006b).

Die Untersuchung romantischer Liebensbeziehungen bei 13- bis 19-Jährigen und Charakterstärken ergab, dass Charakterstärken positiv zur allgemeinen Lebenszufriedenheit beitragen (Weber & Ruch, 2012). Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass nicht nur eigene Charakterstärken, sondern auch Charakterstärken des Partners zur Lebenszufriedenheit beitragen. Ferner korrelierten die Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit in einigen Charakterstärken der Paare mit der Lebenszufriedenheit.

Interessant ist auch, dass sich bei manchen Charakterstärken eine so genannte „selektive Partnerwahl“ zeigte. Die Charakterstärken Hoffnung, Religiosität und Spiritualität, Ehrlichkeit und Fairness waren bei beiden Partnern jeweils ähnlich hoch oder niedrig ausgeprägt.

Des Weiteren zeigte sich in einer anderen Studie (Lavy, Littman-Ovadia, & Bareli, 2016), die verheiratete Paare untersuchte, dass die Ausprägung und die Ausübung von Charakterstärken in der Beziehung, mit höherer Beziehungszufriedenheit bei beiden Ehepartnern einhergeht. Das Ausmass, in dem Partner Charakterstärken aufweisen und das Ausmass, in dem die Charakterstärken ausgeübt werden können, ging mit höherer Beziehungszufriedenheit einher.

Jedoch zeigten die Ergebnisse der Studie, dass Männer, die ihre Partnerin idealisierten (d.h. Männer, die ihren Frauen mehr Charakterstärken zuschrieben als die Frauen sich selbst), eine niedrigere Beziehungszufriedenheit angeben.

Charakterstärken und psychische Gesundheit

Christopher Peterson entwickelte aus der Theorie über Tugenden und Charakterstärken („das, was in Menschen gut ist“) eine Theorie über mentale Krankheit („das, was in Menschen falsch ist“; Seligman, 2015). Nach Peterson kann nicht nur psychische Gesundheit durch die Anwesenheit von Charakterstärken, sondern auch psychische Krankheit als die Abwesenheit, den Überschuss oder das Gegenteil von Charakterstärken beschrieben werden. Aus den 24 Charakterstärken ergeben sich somit dreimal 24, also insgesamt 72 Pathologien.

Das Gegenteil der Charakterstärke „Vergebungsbereitschaft“ wäre beispielsweise Rachsucht, ihre Abwesenheit wäre Unbarmherzigkeit und ihr Überschuss übertriebene Nachgiebigkeit. Bereits Aristoteles (2000) betont, dass es notwendig sei, das richtige Mass jeder Tugend zu finden, um aufblühen zu können.

Posttraumatisches Wachstum und Charakterstärken

Das Studium posttraumatischen Wachstums zeigt, dass Menschen nach tiefgreifenden traumatischen Ereignissen in gewissen Fällen in vielerlei Hinsicht gestärkt sein können. Tedeschi und Calhoun (1995) stellten fest, dass posttraumatisches Wachstum in fünf Bereichen erfolgen kann: Intensivere Wertschätzung des Lebens, intensivere persönliche Beziehungen, Entdeckung von neuen Möglichkeiten, Bewusstwerden eigener Stärken und spirituelle Entwicklung. Zudem können auch Charakterstärken zunehmen.

Traumatische Ereignisse, wie zum Beispiel lebensbedrohliche Unfälle, sexueller Missbrauch und/oder physischer Missbrauch, können mit einer Zunahme von Charakterstärken (Peterson, Park, Pole, D’Andrea & Seligman, 2008) einhergehen. Je mehr traumatische Ereignisse erlebt wurden, desto höher war die Ausprägung in fast allen Charakterstärken (ausgenommen sind die Charakterstärken Dankbarkeit, Hoffnung und Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden).

Ferner zeigte sich in einer Studie, die Charakterstärken vor und nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 erhoben hat (Peterson & Seligman, 2003), dass die Charakterstärken Dankbarkeit, Hoffnung, Freundlichkeit, Führungsvermögen, Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, Religiosität und Spiritualität und Teamwork nach den Ereignissen zugenommen hatten.

Tabelle: Kulturübergreifende Ausprägungen von Charakterstärken

Am höchsten ausgeprägte Charakterstärken Am niedrigsten ausgeprägte Charakterstärken
Ehrlichkeit Selbstregulation
Fairness Bescheidenheit
Freundlichkeit Vorsicht
Neugier Spiritualität
Urteilsvermögen Tatendrang

Das Forschungsfeld der Charakterstärken geht weit über die vorgestellten Themen hinaus.

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