Otto Gross: Leben, Werk und der Monte Verità

Der Monte Verità, ein Hügel am Nordufer des Lago Maggiore in der Nähe von Ascona, wurde im Herbst 1900 von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann erworben. Sie wollten dort eine Heilstätte besonderer Art errichten, weniger ein Sanatorium als vielmehr eine Kommune, in der ein neues Leben beginnen sollte. Dieses Unternehmen war gegen die Welt der Waren und Geschäfte gerichtet. Das Leben sollte vegetarisch und frei von Genussmitteln sein, den einfachen Dingen, der Arbeit und der Freikörperkultur zugewandt. Es sollte von esoterischen Lehren beseelt und von dem Glauben beflügelt sein, dass es so etwas wie den unverstellten Ausdruck des wahren Menschen gibt - im Ausdruckstanz, in «Ideengemälden» und in der Literatur.

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges lebte die Kooperative auf dem Berg, mit berühmten Gästen und in wechselnden Besetzungen. Dutzende solcher Kolonien gab es damals in Europa, in Worpswede und in Skagen, in Barbizon und in Berlin-Friedrichshagen. Die Gemeinde auf dem Berg über dem Lago Maggiore, «Monte Verità» genannt, übertraf sie an Grösse und Beständigkeit, aber auch an Radikalität. Mitte der 1920er-Jahre wurde der Kooperativen-Betrieb wieder aufgenommen, mit einem neuen Mäzen und unter behaglicheren Bedingungen, wobei die Geschichte der Entstehung dieser Kolonie immer wieder von vorn erzählt wurde.

Statuten, Regeln oder eine für alle Bewohner und Gäste verpflichtende Weltanschauung kannte die Kolonie nicht. Doch schon nach wenigen Jahren muss die Geschichte der Kommune wie eine Tradition gewirkt haben: «Bruch mit dem Bestehenden», hatte Erich Mühsam erklärt, als er nach Ascona ging, «Auszug auf den heiligen Berg». Aber die Aussteiger auf dem Hügel waren längst selber zu etwas Bestehendem geworden. Man könnte auch sagen, dass die Geschichte der Kolonie als Kurator wirksam wurde.

Jetzt wird die Geschichte noch einmal erzählt, so vollständig wie lange nicht mehr und mit hohem konservatorischem Aufwand. Denn die Casa Anatta, ein Holzhaus auf dem Hügel, das die Gründer der Naturistenkolonie im Jahr 1902 für sich errichtet hatten, ist nun wieder zugänglich, nach acht Jahren sorgfältiger Wiederherstellung. Schon früher hatte dieses Gebäude als Museum zur Geschichte des Monte Verità gedient. Jetzt ist auch die Dauerausstellung wieder da, in bereicherter Gestalt.

Die Schau hat es in sich, und zwar nicht nur, weil sie in fast 1000 Exponaten zeigt. Sondern auch, weil mit der Ausstellung einer der Gründungsakte der zeitgenössischen Kunst verbunden ist: Denn sie stammt ursprünglich von Harald Szeemann, dem Mann, der in den Sechzigern die Funktion des Museumskurators vom reinen Dienst an der Kunstgeschichte emanzipierte und ihn zum Künstler machte - und die Ausstellung zum Werk. Ein «Museum der Obsessionen» zu schaffen, war Szeemanns Lebensprojekt. Und auf dem Monte Verità, nicht weit von seinem Wohnort im Tal der Maggia, hatte er in den späten 1970ern einen ausserordentlichen Stoff gefunden. Seine Ausstellung, die den Titel «Die Brüste der Wahrheit» trägt, zuerst 1979 gezeigt wurde und danach auf Reisen ging, ist nun am ursprünglichen Ort wieder aufgebaut, vollständig und originalgetreu. Begleitet wird sie von einer Installation, die den späteren Gang der Dinge mithilfe von audiovisuellen Geräten und Digitaltechnik erzählt.

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In der Ausstellung sind Fotos von nackten Männern zu sehen, die in Gemüsegärten graben, die Schriften der Madame Blavatsky, der Stifterin einer esoterischen Bewegung, die um das Jahr 1900 die Wohnzimmer des europäischen Bürgertums durchwallte, Entwürfe für einen «Tempel der Erde» und die Werke des Psychiaters Otto Gross, den Sigmund Freud aus der Psychoanalyse ausschloss, weil Gross aus deren Einsichten zur Sexualmoral gesellschaftspolitische Konsequenzen ziehen wollte.

Otto Gross: Zwischen Genie und Wahnsinn

Um die Komplexität neurologischer und psychiatrischer Behandlungen zu verdeutlichen, kann ein Blick auf den Fall von Otto Gross hilfreich sein. Otto Gross (1877-1920) war ein österreichischer Arzt, Psychoanalytiker und Freudianer. Er war eine schillernde Persönlichkeit, die sowohl als Genie als auch als psychiatrischer Fall bezeichnet wurde.

Otto Gross' Leben war von Widersprüchen geprägt. Er war ein brillanter Denker, der die Psychoanalyse maßgeblich beeinflusste, aber auch ein Drogenabhängiger, der unter psychischen Problemen litt. Seine Auseinandersetzung mit seinem Vater, dem Kriminologen Hans Gross, und seine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft prägten sein Leben und Werk.

Gross' Kritik an Freud und der Gesellschaft

Gross kritisierte Freud dafür, sich auf die Behandlung individueller Krankheiten zu beschränken. Er plädierte dafür, die Unterdrückung des Einzelnen durch eine repressive Gesellschaft mithilfe der Psychoanalyse aufzuheben. Er sah die Ursachen psychischer Störungen nicht nur im sexuellen Bereich, sondern auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Die Rolle von Drogen und "Psychopathie"

Gross' Drogenkonsum und sein als "Psychopathie" bezeichneter Zustand führten zu Konflikten mit seinen Kollegen und zu seiner zeitweiligen Entmündigung. Er wurde in psychiatrischen Kliniken behandelt, darunter auch in Tulln. Die Diagnose und Behandlung von Gross werfen Fragen nach den Grenzen der Psychiatrie und dem Umgang mit psychischen Erkrankungen auf.

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Lehren aus dem Fall Otto Gross

Der Fall Otto Gross zeigt, wie schwierig es sein kann, psychische Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln. Er verdeutlicht auch die Bedeutung des sozialen und gesellschaftlichen Kontextes für die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen.

Tatsächlich ist der «heilige Berg» einer der Ursprungsorte der Moderne. Er ist es in Hinsicht auf die zeitgenössische Kunst. Erschüttert von einer Ökonomie, die alles Individuelle und alles Sinnliche der Logik des Geldes unterwarf, suchten die Kolonisten ihr Heil einerseits in einem Kult des Konkreten: in Körpern, Bewegungen, Tönen.

Zugleich aber wollten sie das Gaukelspiel der physisch vorhandenen Dinge durchdringen und zu höheren Wahrheiten gelangen, begriffen sich deswegen selber als Medium und fanden zur Abstraktion - als der angemessenen Form eines Verweises auf jene spirituellen Kräfte. Diesem Verlangen dient der Ausdruckstanz, ihm dienen die Experimente mit Farbe und Licht. Und deswegen gibt es eine Verbindung zwischen Joseph Beuys und den Kohlrabi-Aposteln auf dem «heiligen Berg». Antimodernismus und Avantgarde gehen dabei Hand in Hand, in einer Geisterbeschwörung, die buchstäblich wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert hatte.

Harald Szeemanns ursprüngliche Ausstellung war auch ein später Reflex auf die «Gegenkultur» der späten Sechziger und frühen Siebziger, die in den Kommunarden auf dem Monte Verità ihre Ahnen erkannte. Selbstverständlich gibt es diese Verbindung, sie verweist aber zugleich auf etwas Grösseres als nur auf das Verhältnis von den naturverbundenen Aussenseitern auf Gestalten, die zwei Generationen zuvor auf ähnliche Weise leben wollten.

Denn eine Kommune ist ja, über alle Ideen von Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit hinaus, immer auch ein Projekt der Selbstmobilisierung im Sinne eines neuen Ganzen: Jeder erscheint verpflichtet, nicht nur für sich selbst zu einem besseren Menschen zu werden, sondern auch das Äusserste aus sich herauszuholen, damit andere einen Nutzen davon haben (heute würde man sagen: «seine Potenziale zu entwickeln»). Und stets liegen die Augen aller anderen auf jedem Einzelnen, um ihn bei seinen Bemühungen zu lenken und zu richten.

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Auf dem heiligen Hügel bei Ascona lassen sich, mit wenig Fantasie, die Ursprünge von Führungskräfte-Seminaren, «Assessment-Centres» und betriebswirtschaftlichen Trainingscamps betrachten. Und noch etwas Drittes verbindet die Kolonie auf dem Monte Verità mit der Gegenwart: die Überzeugung, der Geist könne sich unmittelbar aussprechen, durch den «Äther», in «Vibrationen» oder wie auch immer. Harald Szeemann befeuerte diesen Glauben, indem er den elektromagnetischen Eigenheiten in der geologischen Struktur der Region nachspürte. Die entsprechenden Karten und Messungen sind Teil der Ausstellung.

Beschworen wird damit letztlich ein Enthusiasmus, in dem sich Künstler, Werk und Publikum in demselben Augenblick ineinander erkennen und einen. Programmatisch wurde dieses Ansinnen weniger in der Kunst der Avantgarde als im Pop. Auch diese Verbindung erkennt Szeemann, weswegen er, ohne kritischen Vorbehalt, den Monte Verità als ein Gesamtkunstwerk zeigt, dessen Mitte in nichts als Energie bestehen soll.

Von einem «Bruch mit dem Bestehenden» sprach der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam auf seinem Weg nach Ascona. Eine solche Forderung mag zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu und revolutionär geklungen haben. Sie ist es nicht mehr. Denn «verkrustete Wahrnehmungen» aufbrechen, «eingeschliffene Wahrnehmungsweisen» zerstören und zur Gewohnheit gewordene Erwartungen «hinterfragen» - das wollen gegenwärtig alle.

So gesehen ist ein grosser Teil der Gegenwart ein Erbe der beschriebenen ästhetischen Avantgarde. Doch während die Gesellschaft damit Ernst macht und keine Zerstörung «eingeschliffener Wahrnehmungsweisen» eingeschliffener ist als eben diese Zerstörung, ist auf dem Monte Verità nicht nur zu sehen, wo und worin die unkritische Kulturkritik ihren Anfang nahm.

Denn begonnen hatte diese Bewegung auf eine spielerische, gleichsam kindliche Weise. In diesem Sinne gab Harald Szeemann seiner Ausstellung den Titel «Die Brüste der Wahrheit»: Er meinte nicht nur das Verhältnis der Kolonisten zu Natur und Geist, sondern verknüpfte damit auch einen gewissen Unernst. Es ist dieses spielerische Verhältnis zur «Wahrheit», die aus der neuen Dauerausstellung auf dem Monte Verità eine ausserordentlich sehenswerte Veranstaltung macht.

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