Psychische Erkrankungen im öffentlichen Dienst: Eine statistische Übersicht

Städte sind immer häufiger mit Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern mit psychischen Problemen konfrontiert.

In einer Umfrage gaben 13 von 14 Städten an, der Anteil solcher Leute mit starken psychischen Belastungen sei in den letzten fünf Jahren gestiegen.

«Wir müssen davon ausgehen, dass etwa die Hälfte unserer Sozialhilfe-Klientinnen und -Klienten psychische Probleme haben», erklärte Nicolas Galladé, Präsident Städteinitiative Sozialpolitik und Stadtrat von Winterthur ZH, in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der Städteinitiative Sozialpolitik.

Derweil waren die Sozialhilfequoten 2023 so tief wie schon lange nicht mehr: In 12 von 14 Städten lagen sie unter dem Niveau von 2019, in 11 Städten sogar unter dem Niveau von vor zehn Jahren.

Die Zunahme von psychischen Krankheiten ist eine Herausforderung für die Betroffenen, ihr Umfeld und die ganze Gesellschaft.

Lesen Sie auch: Änderungen im psychologischen Dienst

Ursachen und Herausforderungen

Frau Langenberger, psychische Erkrankungen nehmen in der Schweizer Bevölkerung zu. Ist der Leidensdruck tatsächlich grösser oder vor allem Ausdruck der Enttabuisierung psychischer Krankheiten?

Ich gehe davon aus, dass beide Faktoren zutreffen und zusammenspielen.

Wichtig ist mir zu betonen, dass die Enttabuisierung nur punktuell stattgefunden hat, etwa bei Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, die in verschieden starker Ausprägung vorkommen.

Menschen mit psychischen Krankheiten wie beispielsweise Schizophrenie oder Borderline sind jedoch nach wie vor besonders häufig von Stigmatisierung betroffen.

Psychische Erkrankungen werden heute häufiger erkannt und behandelt als früher, was eine erfreuliche Entwicklung darstellt.

Lesen Sie auch: Belastung nach Organtransplantation

Es gilt aber auch aufzupassen und keine vorschnellen (Selbst-)Diagnosen zu treffen.

Die Unterscheidung etwa zwischen psychischen Krankheiten und sonstigen Belastungen der Pubertät ist für Jugendliche und ihre Eltern schwierig - es braucht den Blick und die Abklärung einer externen Fachperson.

Wie zeigt sich das psychische Leiden?

Die verschiedenen Studien und Statistiken zeichnen ein klares Bild.

Die aktuelle IV-Statistik etwa zeigt, dass rund 50 Prozent der neuen IV-Renten aufgrund einer psychischen Erkrankung gesprochen wurden - das ist enorm viel.

Allein im Kanton Zürich, wo ich lebe und arbeite, haben sich die IV-Neurenten bei jungen Erwachsenen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt.

Lesen Sie auch: Charakteranalyse: Winnie Puuh

Ein weiteres Zeichen des Leidensdrucks sind die gestiegenen Langzeitabwesenheiten bei der Arbeit, wie eine Sotomo-Studie aufzeigt: Fast ein Viertel der Unternehmen ist von langen Abwesenheiten aufgrund von psychischen erkrankten Mitarbeitenden betroffen.

Und die Kliniken können die grosse Nachfrage kaum bewältigen.

Ja, die Hospitalisierungen und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken haben auch stark zugenommen.

Stationäre Behandlungen sind bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 2020 und 2021 um 26 Prozent gestiegen, bei den gleichaltrigen Männern um 6 Prozent.

Beunruhigend ist auch, dass erstmals psychische Leiden und nicht mehr wie bisher Unfälle und physische Krankheiten die häufigste Ursache für Hospitalisierungen bei den 10- bis 24-Jährigen sind.

Der psychische Leidensdruck zeigt sich aber auch darin, dass in den letzten 25 Jahren viel mehr Schweizerinnen und Schweizer einen Psychologen oder eine Psychiaterin aufsuchten - dies weist der Obsan-Bericht nach.

Häufige psychische Erkrankungen

Wenden wir uns nun den unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zu: Welche kommen besonders häufig vor, und welche Entwicklungen gibt es?

In allen Ländern leiden besonders viele Menschen an Depressionen und Angststörungen.

Die Obsan-Erhebung vom Herbst 2022 zeigte, dass viele befragte Schweizerinnen und Schweizer in den Wochen vor der Umfrage von Symptomen einer Essstörung betroffen waren.

Zudem werden ADHS und Autismus-Spektrumsstörungen öfter abgeklärt und diagnostiziert, vor allem bei Frauen im Erwachsenenalter.

Schizophrenie und Borderline sind generell weniger häufig, die Anzahl der Erkrankten bleibt über die Jahre hinweg und auch in allen Ländern ungefähr gleich.

Es fällt ausserdem auf, dass die psychosomatischen Beschwerden zunehmen, also körperliche Leiden ohne klare organische Ursache, etwa Rückenschmerzen, Migräne und Schlafstörungen, die häufig mit Stress und emotionalen Belastungen zusammenhängen.

Bei den Jugendlichen stellen wir fest, dass Selbstverletzungen und Suizidalität stark ansteigen.

Die Notrufnummer 147 von Pro Juventute etwa erhält viel mehr Anrufe, und die Notlagen der jungen Personen sind gravierender, sodass manchmal auch Ambulanz und Polizei eingeschaltet werden müssen, um Suizide zu verhindern.

Besonders betroffene Personengruppen

Welche weiteren Personen­gruppen sind neben den jungen Menschen besonders betroffen?

Bei den Kindern und jungen Erwachsenen sind es vor allem die Mädchen und Frauen, die mit psychischen Belastungen kämpfen.

Generell ist der weibliche Teil der Bevölkerung stärker betroffen.

Menschen mit einem tieferen sozioökonomischen Hintergrund sind anfälliger für psychische Leiden ebenso wie Menschen in instabilen Lebenssituationen, etwa durch Flucht und Migration.

Eine weitere vulnerable Gruppe ist auch die queere Community.

Generell gilt: Traumatische Erfahrungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen markant.

Zusammenhang zwischen der Covid-Krise und dem Anstieg psychischer Krankheiten

Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen der Covid-Krise und dem Anstieg psychischer Krankheiten?

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich wir Menschen sind.

Über den Zusammenhang zwischen der Krise und der Zunahme psychischer Krankheiten wurde viel ­geforscht, ­geschrieben und diskutiert.

Die meisten Experten sind sich inzwischen einig, dass Corona weniger ein Auslöser als vielmehr ein Katalysator war - insbesondere wenn schon eine erhöhte Verletzlichkeit vorlag.

Für junge Personen war die Pandemie-­Erfahrung besonders einschneidend, die Veränderung der Beziehungen zueinander, der Wegfall der Schule und des gewohnten Alltags, die allgegenwärtige generelle Verunsicherung in einer Zeit der eigenen jugendlichen Unsicherheit.

Einen positiven Effekt der Covid-Krise gibt es jedoch auch, dass wir nämlich über Verunsicherung, Verwundbarkeit und psychisches Leiden reden.

Das ist wichtig, denn jede zweite Person macht im Verlauf ihres Lebens eine psychische Krise durch.

So sind wir entweder selber einmal psychisch erkrankt oder enge Angehörige - wir sind also direkt oder indirekt alle betroffen.

Ursachen für den Anstieg psychischer Erkrankungen

Warum nehmen denn die psychischen Erkrankungen so stark zu?

Es gibt keine alleinige Ursache, es kommen immer mehrere Gründe zusammen.

Psychische Krisen entstehen aus einem Zusammenspiel von individuellen, sozialen und strukturellen Faktoren.

In der Schweiz ist der gesellschaftliche Leistungsdruck besonders ausgeprägt - wir sind mit hohen eigenen und fremden Erwartungen in der Schule, im Beruf und im sozialen Miteinander konfrontiert.

So kämpfen viele Schweizerinnen und Schweizer mit Mehrfachbelastungen in verschiedenen Bereichen, daraus entstehen schädlicher Stress und grosse Erschöpfung.

Viele Leute haben das Gefühl, dass sie jederzeit funktionieren und (sich) optimieren müssen.

Gerade die Arbeit verlangt vielen tatsächlich viel ab.

Wir werden bei unseren Tätigkeiten immer wieder unterbrochen, sind grosser inhaltlicher Dichte und ständig neuen Informationen ausgesetzt, wir müssen über mehrere Kanäle erreichbar sein, unsere Arbeitsprozesse beschleunigen sich durch die Digitalisierung, und daneben gilt es auch noch, unsere Emotionen zu regulieren - unser Gehirn kann mit all dem gar nicht umgehen, wir sind überfordert, es ist einfach zu viel.

tags: #öffentlicher #dienst #psychische #erkrankungen #statistik