Elon Musk, Kanye West und die bipolare Störung: Genie und Wahnsinn?

Die Welt nimmt exzentrische Persönlichkeiten unterschiedlich wahr: Unternehmer wie Elon Musk gelten als Charismatiker, während verhaltensauffällige Nachbarn als "gestört" abgestempelt werden. Diese Ungleichbehandlung hat weitreichende Folgen.

Viele der meistgelobten und -bewunderten Menschen haben eines gemeinsam: Sie leiden mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer psychischen Störung. Viele Psychopathien werden weder von den Betroffenen noch von Aussenstehenden als solche wahrgenommen. Sie äussern sich als Verhaltensauffälligkeiten, Ticks oder das, was man diplomatisch als «charakterliche Defizite» bezeichnet.

Nehmen wir zum Beispiel diesen Steckbrief einer nicht näher bestimmten Person: Sie ist charismatisch, intelligent und wagemutig. Sie hat visionäre Ideen und verfolgt diese zielstrebig, radikal und ohne Rücksicht auf Verluste. Sie hat ein unerschütterliches Selbstvertrauen, neigt zu impulsiven Gefühlsausbrüchen und bleibt dabei sozial anpassungsfähig. Unter chaotischen Bedingungen, die sie oft bewusst verursacht, wächst sie über sich hinaus.

Die Beschreibung könnte gleichermassen auf einen Steve Jobs oder einen Elon Musk zutreffen. In Verbindung mit Markern wie fehlender Empathie und Narzissmus entspricht sie auch in allen wesentlichen Punkten der Definition eines funktionierenden Psychopathen.

Weder bei ihm noch bei Musk wurde offiziell Psychopathie diagnostiziert. Denn wirklich interessant ist nicht das Krankheitsbild an sich, sondern die widersprüchliche Art und Weise, mit der Psychopathie und andere psychische Störungen von der Öffentlichkeit beurteilt werden. Exzentrische Persönlichkeiten wie Jobs und Musk gelten als geniale Technologiepropheten, während der geistig angeschlagene Normalbürger mit dem kaum zu löschenden Stigma des Spinners belegt ist. Heroisierung auf der einen Seite, Pathologisierung auf der anderen: Es ist dieses Spannungsverhältnis, das den Psychopathen gleichzeitig zur zentralsten und randständigsten Figur der Gesellschaft macht.

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Der Charme des Erfolgs

Viele würden sich gerne in der oben erwähnten Charakterbeschreibung wiedererkennen, da sie das Destillat jener Eigenschaften ist, die mit beruflichem Erfolg in Verbindung gebracht werden. Jüngste Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bis zu 20 Prozent der CEOs psychopathische Züge aufweisen, ein Mehrfaches des gesellschaftlichen Durchschnitts. Psychopathen sind machtbewusst und dominant und sehr geschickt darin, ihre Intentionen durch Charme und Manipulation zu verschleiern.

Wirtschaftskriminelle wie Werner K. Rey oder der ehemalige Enron-Manager Jeff Skilling, aber auch Markus Braun, der Gründer des Fintech-Unternehmens Wirecard; sie alle galten als herausragende Unternehmer, bis sie ihre ethischen Grundsätze fallen liessen.

Noch viel ausgeprägter ist das Heroisierungsphänomen in der Kultur, die die Vermählung zwischen Genie und Wahnsinn seit je zu einem Ideal verklärt hat. Sonderbares, verschrobenes Verhalten gilt als Qualitätsmerkmal des Künstlers und seiner Kunst. Diese Erwartungshaltung wird durch Künstlerbiografien und -anekdoten gestützt: Diogenes, der Landstreicherphilosoph aus der Tonne; Friedrich Hölderlin, der, für wahnsinnig erklärt, 30 Jahre in einem Turm verbrachte; Arthur Rimbaud, das wortgewaltige Wunderkind, das im Opiumrausch die französische Lyrik revolutionierte und später am Horn von Afrika zum Waffenschieber wurde; oder die Mitglieder des notorischen «27 Club», zu dem Musiker wie Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Amy Winehouse oder Jim Morrison und der Maler Jean-Michel Basquiat gehören. Alle waren psychisch labil und setzten ihrem Leben ein frühes Ende.

Gut für die Kreativität

Die Kreativitätsforschung setzt sich intensiv mit diesem Thema auseinander und kommt zu einem eindeutigen Schluss: Psychopathie ist gut für die Kreativität. Das bedeutet nicht, dass Künstler zwangsläufig an einer geistigen Krankheit leiden. Aber die Häufung ist signifikant. Der deutsch-britische Psychologe Hans Eysenck stellte in den 1990er Jahren fest, dass die Veranlagung zu psychotischem Verhalten, nicht aber dessen tatsächliches Auftreten, das «entscheidende Element ist, um kreatives Potenzial zu verwirklichen». Gemeint ist damit eine Reihe individueller Charakterzüge (aggressiv, gefühlskalt, egozentrisch, asozial usw.), die sich, je nach Ausprägung und Kombination, zu mehr oder weniger schweren Formen geistiger Erkrankung verbinden können. Kreativer Erfolg ist für jene wahrscheinlich, die diese Charakterzüge kontrollieren können, ohne in einen akuten Krankheitszustand abzurutschen.

Der Mythos des psychisch angeschlagenen Künstlers ist ein höchst effektives Mittel zur Selbstdarstellung. In der Unterhaltungsindustrie werden geistige Traumata seit einiger Zeit offen zelebriert. Kanye West macht regelmässig mit erratischem Verhalten und medialen Aussetzern von sich reden, die einer schweren bipolaren Störung geschuldet sind. Er gebärdet sich als Leidender, der seine Geniestreiche unter grössten Qualen hervorbringt. Dennoch (oder gerade deshalb?) gab er soeben seine Präsidentschaftskandidatur bekannt.

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Kanye West machte Schlagzeilen mit Hitler- und Hassposts auf X, bezeichnete sich selbst als Nazi und äusserte sich antisemitisch. Eine Ex-Mitarbeiterin reichte Klage gegen West ein, in der sie unrechtmässige Kündigung sowie Geschlechter- und Religionsdiskriminierung geltend macht. Laut der jüdischen Klägerin habe West ihr Nachrichten wie «Willkommen am ersten Arbeitstag für Hitler» und «Hail Hitler» geschickt.

West hat selbst mehrfach über seine psychische Gesundheit gesprochen. 2016 wurde bei ihm eine bipolare Störung diagnostiziert, was er in Interviews und Songtexten thematisiert hat. In einem Podcast behauptete er kürzlich jedoch, er sei autistisch und falsch mit bipolarer Störung diagnostiziert worden.

Resultat des «Halo-Effekts»

Warum aber reagieren wir auf den psychischen Zustand von Prominenten anders als auf den des wirren Obdachlosen in der Bahnhofshalle oder der suizidalen Nachbarin? Die Erklärung liegt im sogenannten «Halo-Effekt». Er beschreibt die blendende Strahlkraft renommierter Persönlichkeiten, die jeden Makel in das warme Licht der Respektabilität taucht. Im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen ist dieser Effekt besonders stark ausgeprägt, und zwar in doppelter Hinsicht.

Zum einen führt das von vielen Künstlern vorgelebte Klischee des unberechenbaren, verdüsterten Genies zur Überhöhung pathologischer Verhaltensmuster. Sie werden als notwendige Voraussetzung und eigentliche Quelle der Eingebung interpretiert und dadurch in der Wahrnehmung geadelt. Zum anderen dienen Prominente als Projektionsfläche für eigene Unsicherheiten und Schwächen. Indem das Idol als Zentrum einer imaginären Leidensgemeinschaft gedacht wird, trägt es auf paradoxe Weise auch zur Normalisierung seines prekären Geisteszustands bei.

Elon Musk, der irrlichternde Unternehmer und «Time»-Person des Jahres, leidet ebenfalls an einer bipolaren Störung. Musk selbst sprach in einem Tweet von «great highs, terrible lows and unrelenting stress», die ihn schütteln würden.

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Das auffälligste Symptom einer bipolaren Störung ist ein heftiges Schwanken der Gefühle. Auf Monate der Schwermut, die manche in den Suizid treiben, kann ein halbjähriges Hoch folgen, das von der Euphorie über paranoide Tendenzen bis zur psychotischen Wahnbildung reicht. In der depressiven Phase sind Bipolare unfähig zum Senden, in der Manie können sie nicht mehr empfangen. Beides belastet ihre Umgebung schwer und droht alle Beziehungen zu zerstören.

Einiges deutet darauf hin, dass Musk seine Kreativität auch seiner psychischen Verfassung zu verdanken hat. Dafür spricht nicht nur die Vielzahl und das Tempo seiner Einfälle, die spektakulären Auftritte und Aussagen, sein Hang zu einer unmässigen Selbstdarstellung, der ihn sogar ins Weltall führte. Sondern der Umstand, dass zufällig viele schöpferische Menschen wie er an depressiven Schüben leiden und von manischen Phasen profitieren.

Es gibt Hinweise darauf, dass sich Phasen eines manischen Schöpfungsrauschs mit einer darauffolgenden depressiven Erschöpfung abwechseln. Einige von ihnen haben selbst über ihre Symptome berichtet, andere haben sich in Therapie begeben, wieder andere sind an ihren Symptomen zugrunde gegangen oder haben mit der Krankheit zu leben gelernt.

Zu Letzteren gehört der britische Premierminister Winston Churchill, der seine Depressionen, geistreich wie immer, als «meinen schwarzen Hund» bezeichnete. Churchill litt unter starken bipolaren Symptomen. Nur mit seiner Manie lässt sich die ungeheure Schaffenskraft eines Politikers erklären, der in seinem Leben mehr publizierte als Shakespeare und Dickens zusammen, alle seine Reden selbst schrieb, für sein Schreiben mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, ein exzellenter Amateurmaler war, sich beim Theater und in der Geschichte auskannte, zweimal zum Premier ernannt wurde - und dem es als Kriegsführer mit zu verdanken war, dass die Nationalsozialisten besiegt werden konnten.

Alkohol, Heroin und andere Drogen werden von manisch Depressiven oft als Selbstmedikation verwendet, wie das Leben von Künstlern wie Ernest Hemingway, Frank Sinatra oder Kurt Cobain gezeigt hat: um die depressiven Phasen aufzuhellen und die manischen Schübe zu dämpfen. Männer mit bipolaren Symptomen greifen häufiger zu Drogen als Frauen, was auch mit ihrer Sozialisation zu tun haben könnte; Frauen nehmen eher Medikamente.

Bei über einem Fünftel der bipolar erkrankten Menschen löst die Krankheit einen Suizid aus, das haben zahllose Studien bestätigt. Und bis zur Hälfte der Bipolaren unternehmen in ihrem Leben einen Suizidversuch. Das kann genetische Gründe haben, liegt aber auch im Wesen der Extreme begründet. Eine tiefe Depression verstärkt suizidale Tendenzen, die Impulsivität der Manie ebenfalls.

Bei manchen Künstlern hinterlassen die Symptome der Störung Spuren in ihrem Werk, vor allem die manischen Phasen. Das lassen manche Bilder von Malern erahnen, die der manisch depressiven Amplitude ausgeliefert waren, etwa Edvard Munch, Jackson Pollock oder Vincent van Gogh.

Besonders anfällig für bipolare Schwankungen sind Komiker, weil bei ihnen die Bipolarität zum Beruf gehört. Viele sind komisch, weil sie an Depressionen leiden, bei anderen folgt auf die Manie des Auftritts vor Tausenden die Depression der Einsamkeit danach. Das Publikum zum Lachen zu bringen, hat etwas Orgiastisches und löst das euphorische Gefühl von Allmacht aus. Darum leiden auffällig viele an einer bipolaren Störung: Stephen Fry etwa, Robin Williams, Russell Brand, Peter Sellars, Spike Milligan, Jim Carrey.

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