Berufsunfähigkeit bei mittelschwerer Depression: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen

Die Invalidenversicherung (IV) ist zuständig, wenn eine Person aufgrund eines gesundheitlichen Problems voraussichtlich längerfristig nicht mehr arbeiten kann oder nach der Schule noch nie eine Arbeit gefunden hat. Ansonsten ist die Arbeitslosenversicherung zuständig.

Die Rolle der Invalidenversicherung (IV)

Die IV greift, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung die Arbeitsfähigkeit dauerhaft einschränkt. Der Betrag in Franken hängt davon ab, ob man jedes Jahr die Beitragspflicht erfüllt hat sowie vom Durchschnittseinkommen ab. Nebst Erwerbsarbeit können auch Jahre der Elternschaft als Beitragsjahre anerkannt werden.

Die Frankenbeträge finden sich bei voller Erfüllung der Beitragspflicht auf der Rentenskala 44. Dort kann man die Höhe der monatlichen Rente ablesen, welche abhängig ist vom durchschnittlichen Verdienst. Wenn Beitragslücken vorliegen, werden andere Skalen angewendet und die Beträge sind tiefer.

Psychiatrische Gutachten als zentrales Beweismittel

Psychische Krankheiten sind selten sichtbar oder mit Bildern zu beweisen, anders als beispielsweise ein Beinbruch. Deshalb holt die IV-Stelle fast immer ein psychiatrisches Gutachten ein, bevor sie über die Ausrichtung einer Rente entscheidet. Bei einem psychiatrischen Gutachten besteht als Beweismittel oft «nur» das Gespräch.

Es liegen keine Bilder und keine oder wenige Laborwerte vor. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die IV-Stelle, die betroffene Person, ihre Rechtsvertretung und im Beschwerdefall das Gericht überprüfen können, was genau und wie etwas gesagt wurde. Diese Überprüfung ist seit 2022 möglich, da die Gutachtengespräche aufgezeichnet werden müssen.

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Qualität und Unabhängigkeit von Gutachten

Die Unabhängigkeit und Qualität der Gutachten ist oft nicht gegeben. Es gibt viele Gutachter*innen, welche nicht sorgfältig arbeiten und wirtschaftlich abhängig von den Aufträgen der IV-Stellen sind. Mit der anfangs 2022 in Kraft getretene Reform konnten im Gutachterwesen wichtige Verbesserungen erzielt werden: Falls nicht nur eines, sondern mindestens zwei Gutachten eingeholt werden, müssen die Gutachter*in nach dem Zufallsprinzip-bestimmt werden.

Dies soll verhindern, dass ein Gutachten von einer IV-Stelle durch die Wahl eines bestimmten Gutachters bzw. Seit 2022 gibt es die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB). Diese kontrolliert die Gutachterstellen.

Behandelbarkeit und ihre Bedeutung

Die grundsätzliche Behandelbarkeit einer Gesundheitsbeeinträchtigung schliesst eine Erwerbsunfähigkeit und damit eine rentenbegründende Invalidität nicht von vornherein aus (vgl. BGE 145 V 215 E. 8.2; BGE 143 V 409 E. 4.4). Die frühere Praxis, wonach beispielsweise leichte bis mittelgradige psychische Leiden regelmässig gut behandelbar seien und sich daher nicht invalidisierend auswirkten, wurde aufgegeben (vgl. Urteil 9C_327/2022 vom 10. Oktober 2023 E. 4.2).

Bedeutsam bleibt die Therapierbarkeit insoweit, als sie den Schweregrad und die Prognose eines Leidens beeinflussen kann. Steht ein Behandlungserfolg unmittelbar und ausschliesslich im Verhalten der versicherten Person (z. B. konsequente Medikamenteneinnahme), kann er im Sinne der Selbsteingliederung (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. d und Art. 7a IVG; BGE 148 V 397 E. 7) vorausgesetzt werden.

Ist dagegen keine aus eigener Initiative umsetzbare Verbesserung erreichbar, kann auch bei behandelbaren Leiden eine rentebegründende Erwerbsunfähigkeit vorliegen (vgl. BGE 145 V 215 E. 8.2). Eine laufende oder geplante Therapie schliesst eine Rente nicht aus; erst wenn sich ein Erfolg realisiert oder die Mitwirkungspflicht verletzt wird, ist eine Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG möglich (vgl. Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E.

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Einfluss psychosozialer und soziokultureller Faktoren

Praxisgemäss spielt es keine Rolle, dass psychosoziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung einen wichtigen Einfluss gehabt hatten, sofern sich inzwischen ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt hat (vgl. BGE 143 V 409 E. 4.5.2; 141 V 281 E.

Psychosoziale und soziokulturelle Faktoren sind aber insoweit auszuklammern, als es darum geht, die für die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit kausalen versicherten Aspekte zu umschreiben. Mit anderen Worten finden soziale Faktoren keine Berücksichtigung, sobald sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen (BGE 141 V 281 E. Eine krankheitswertige Störung respektive eine Abhängigkeitsproblematik muss folglich - und auch nach neuerer Rechtsprechung - umso ausgeprägter vorhanden sein, je stärker psychosoziale und soziokulturelle Faktoren das Beschwerdebild mitprägen (BGE 145 V 215 E. 6.3 mit Hinweis auf BGE 127 V 294 E.

Wohl überschneiden sich krankheitswertige psychische Störungen sowie psychosoziale und soziokulturelle Aspekte oftmals. Ob dabei aber ein verselbstständigter Gesundheitsschaden vorliegt, ist im Rahmen des mit BGE 141 V 281 eingeführten strukturierten Beweisverfahrens zu prüfen, indem die betreffenden Umstände und ihre Entwicklung als Ressourcen oder Belastungsfaktoren in den Komplexen "Persönlichkeit" und "sozialer Kontext" (BGE 141 V 281 E. 4.3.2 f.) bewertet werden (vgl. BGE 143 V 409 E.

Soziale Belastungen, die direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, sind aber nicht vorab und losgelöst von der Indikatorenprüfung, sondern in deren Rahmen im Gesamtkontext zu würdigen. Dabei werden die funktionellen Folgen von Gesundheitsschädigungen durchaus auch mit Blick auf psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren abgeschätzt, welche den Wirkungsgrad der Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1; Urteil 8C_441/2024 vom 31. Januar 2025 E. 6.1 mit weiteren Hinweisen; Urteil 8C_773/2023 vom 1. Mai 2024 E.

Die massgebende Ursache für Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG bestimmt sich somit auch nach dem Leitsatz, dass eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert umso ausgeprägter vorhanden sein muss, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen. So kann eine psychische Störung chronifiziert, damit durchaus verselbständigt sein, und dennoch im Rahmen des gesamten Beschwerdebildes nicht genug ins Gewicht fallen, als dass auf eine längerdauernde Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 f. ATSG) geschlossen werden dürfte (vgl. Urteil 9C_252/2014 vom 17. Juni 2014 E. 3.1.3; siehe auch Urteil 8C_858/2017 vom 17. Mai 2018 E. Vgl. auch Urteil 9C_140/2014 vom 07.01.2015 E. 3.3, Urteil 8C_302/2011 vom 20.09.2011 E.

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Zusammenfassung: Einfluss psychosozialer und soziokultureller Faktoren

  • Psychosoziale/soziokulturelle Umstände sind irrelevant, wenn ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden vorliegt.
  • Soziale Belastungen mit direkten negativen funktionellen Folgen werden im Beweisverfahren ausgeklammert.
  • Diese Faktoren sind im Gesamtkontext der Indikatorenprüfung zu würdigen.

Aggravation und ihre Auswirkungen

Es liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor, soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht. Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes Verhalten hin (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Die Frage, ob ein Verhalten (nur) verdeutlichend ist oder die Grenze zur Aggravation und vergleichbaren leistungshindernden Konstellationen überschreitet, bedarf einer einzelfallbezogenen, sorgfältigen Prüfung auf möglichst breiter Beobachtungsbasis (Urteil 8C_418/2021 vom 16. September 2021 E. 6.1 mit Hinweisen).

Besteht im Einzelfall Klarheit darüber, dass solche Ausschlussgründe die Annahme einer Gesundheitsbeeinträchtigung verbieten, so besteht von vornherein keine Grundlage für eine Invalidenrente, selbst wenn die klassifikatorischen Merkmale einer gesundheitlichen Störung gegeben sein sollten (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG). Bei Vorliegen einer Aggravation erübrigt sich mithin eine indikatorengeleitete Überprüfung des psychischen Leidens (vgl. auch Urteile 9C_383/2020 vom 22. März 2021 E. 5.4 und 8C_155/2019 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.2 mit Hinweisen).

Soweit die betreffenden Anzeichen hingegen lediglich neben einer ausgewiesenen verselbstständigten Gesundheitsschädigung auftreten, sind deren Auswirkungen im Umfang der Aggravation zu bereinigen (BGE 141 V 281 E. 2.2.2 mit Hinweisen; Urteile 8C_491/2023 vom 25. März 2024 E. 4.3.1 und 8C_418/2021 vom 16. September 2021 E. 6.1, je mit Hinweisen). Ob aus den ärztlichen Feststellungen auf eine Aggravation zu schliessen ist, ist frei überprüfbaren Rechtsfrage (Urteil 8C_653/2023 vom 21. Februar 2024 E. 3.2.2).

Zu wiederholen ist, dass nach der Praxis regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vorliegt, soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht, die eindeutig über die blosse unbewusste Tendenz zur Schmerzausweitung und -verdeutlichung hinausgeht, ohne dass das betreffende Verhalten auf eine verselbstständigte psychische Erkrankung zurückzuführen wäre (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_371/2019 vom 7. Oktober 2019 E. 3.1.2.

Anforderungen an medizinische Gutachten

So darf der oder die medizinische Sachverständige die Angaben des Exploranden im Rahmen der klinischen Untersuchung nicht vorbehaltlos als richtig ansehen. Bestandteil einer stichhaltigen Begutachtung bilden unter anderem Angaben zum ärztlich beobachteten Verhalten, Feststellungen über die Konsistenz der gemachten Angaben wie auch Hinweise, welche zur Annahme von Aggravation führen können (statt vieler: Urteile 9C_38/2022 vom 24. Mai 2022 E. 4.3; 8C_390/2017 vom 9. November 2017 E. 6.1.

Das Vorliegen von Aggravation führt rechtsprechungsgemäss nicht automatisch zur Verneinung jeglicher versicherten Gesundheitsschädigung, sondern nur insoweit, als die Leistungseinschränkung auf der Aggravation beruht (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweis) oder als deren Folge nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann (vgl. Urteil 9C_659/2017 E. 4.4 mit Hinweis u.a. auf BGE 138 V 218 E. 6).

In BGE 143 V 418 E. 7.1 wird betont, dass Hinweise auf Inkonsistenzen, Aggravation oder Simulation nicht in jedem Fall einen Ausschlussgrund bilden, aber jedenfalls nach einer vertiefenden Prüfung des funktionellen Schweregrades (des ärztlich festgestellten psychischen Leidens) rufen.

Fallbeispiele und Gerichtsurteile

Das Bundesgericht betonte, psychosoziale und soziokulturelle Faktoren allein genügten nicht für einen eigenständigen Gesundheitsschaden (E. 6 i.V.m. Die Vorinstanz hätte diese Faktoren im Rahmen der Standardindikatorenprüfung genauer würdigen müssen (E. Da ein verselbstständigter krankheitswertiger Gesundheitsschaden nicht ausgewiesen ist, wurde die Dreiviertelsrente abgelehnt (E.

Beispielhafte Feststellungen in Gutachten

Auffälligkeiten laut SMAB-Gutachter gemäss E. 8.4.2:

  • Somatisch inkonsistentes Bewegungsverhalten
  • Aggravationstendenzen bei Exploration
  • Diskrepanz zwischen Schmerzangaben und Körpersprache
  • Widersprüche in Anamnese trotz Übersetzer
  • Verdacht auf pseudologische Antworten
  • Im Medikamentenscreening: angegebene Medikation nur unzureichend nachgewiesen

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