Es ist ein Thema, das für viele schwer zu verstehen - und schwer zu ertragen - ist. Das zwanghafte Verlangen, sich selbst zu verletzen, ist verbreiteter, als man gemeinhin denkt: Studien aus dem deutschsprachigen Raum gehen davon aus, dass sich rund zehn Prozent in ihrem Leben mehrfach bewusst selbst verletzen. Und in der Regel beginnt dieses Verhalten in der Pubertät.
Selbstverletzung: Ein Hilferuf
Selbstverletzendes Verhalten stellt Angehörige, Psychologen und Ärzte vor viele Fragen. Meist verletzen sich junge Frauen am nicht dominanten, demnach linken Oberarm. Es ist oft ein Hilferuf, aber kein Suizidversuch.
Eine Mutter aus Winterthur berichtet: «Meine Tochter war 14, als sie wegen schulischen Stresses in ein Loch gefallen ist.» Die Heranwachsende entwickelte Angststörungen. Dass sie sich mit einer Schere an den Armen ritzte, war eine typische Selbstverletzung. «Man hat einen Schock», sagt die Mutter, «man weiss gar nicht, wie man damit umgehen soll.» Die Mutter handelte und gründete eine Elterngruppe im Selbsthilfezentrum Winterthur. Der Kreis «Teenager in Krise» trifft sich alle drei Wochen zum Gespräch.
Das Gefühl der Machtlosigkeit
Diese Mutter berichtet von ihrer Angst: «Pubertierende sitzen natürlich viel in ihrem Zimmer, man geht herum und möchte hineinschauen, was sie jetzt tut.» Rasierklingen werden höher im Badezimmerschrank versteckt - ohne Erfolg. Die Tochter ritzt sich auch mit Scherben. «Sie hat es meist gemacht, wenn ich nicht da war», sagt sie über die heute 18-Jährige. «Es kam mir manchmal auch wie ein Machtspiel vor, die Selbstverletzung.» Das Mädchen war damals in psychologischer Behandlung und ist es bis heute, unter anderem wegen Borderline-Persönlichkeitsstörungen und manisch-depressiver Erkrankung.
Im Gespräch fällt immer wieder der Begriff «machtlos»: machtlos gegenüber der Tochter, machtlos gegenüber den Psychiatern, die ihre Therapien durchführen, und machtlos gegenüber den Bemerkungen aus dem persönlichen Umfeld. So sollte es der kleine Bruder nicht erfahren, aber mit der Zeit habe er es mitbekommen. «Sie hat auch Geschenke zerstört, die sie bekommen hat, und sich sogar das Gesicht und die Brust aufgeritzt.»
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Motivationen für Selbstverletzungen
Die Motivationen für Selbstverletzungen sind vielfältig. Am häufigsten geht es um Affektregulation; damit wird eine als unerträglich empfundene Anspannung aufgelöst. Viele Jugendliche beschreiben, wie es ihnen Ruhe verschafft, das Blut fliessen zu sehen. Andere suchen den Kick; sie wollen wissen, wie sich das anfühlt.
Im geschilderten Fall überwiegt die Selbstbestrafung. «Sie hat sich eine Glatze rasiert, wo sie doch wunderschöne lange Haare hatte», sagt die Mutter. Gescheiterte erste Beziehungen zu Jungen seien der Treiber gewesen. «Wenn ein Freund Schluss gemacht hat, hat sie sich geritzt. Sie genügte nicht - deshalb musste sie sich selbst bestrafen.» Gleichzeitig, auch das ist bezeichnend, habe sie die Schnittverletzungen unter der Kleidung versteckt.
Unterschied zwischen Selbstverletzung und Suizid
Es wird deutlich, was nicht suizidale selbstverletzende Verhaltensweisen (NSSV) vom Suizid unterscheiden: Ein Selbstmörder möchte alle Gefühle beenden, ein Selbstverletzender möchte sich besser fühlen. Letztere sind in der Mehrheit Mädchen, während die vollzogenen Suizide einen deutlich höheren Männeranteil haben.
Die Skillsgruppe
So sind auch in der Skillsgruppe von Marco Maffezzoni überwiegend junge Frauen von 14 bis 18 Jahren. Der Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich arbeitet im Ambulatorium Winterthur. In zehn Sitzungen lernen die Jugendlichen dort «alternative Verhaltensweisen»; das heisst Stresstoleranz, den Umgang mit Gefühlen, soziale Kompetenzen sowie Achtsamkeit. «Man redet nicht über die Probleme, die man hat, sondern darüber, wie man sie angeht und bestenfalls löst», sagt Maffezzoni.
Beispielsweise üben die Jugendlichen in Rollenspielen, wie sie sich durchsetzen können, wie sie Nein sagen, Kritik äussern und Wünsche anbringen können. Seine Teilnehmerinnen sind alle ambulante Patienten, die begleitend in einer Psychotherapie bei einer fallführenden Therapeutin sind. Manche haben eine stationäre Behandlung hinter sich. Bei den anderen geht es darum, eine solche zu verhindern. Es gebe positive Effekte aus der Skillsgruppe, sagt er auf die Frage nach dem Erfolg. Die Skillsgruppe könne helfen, aber dies hänge von weiteren Faktoren ab. Dabei bejaht er, dass die Pandemie eine deutliche Zunahme von Anfragen ausgelöst hat.
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Auswirkungen der Pandemie
Sein Kollege Stephan Kupferschmid, Chefarzt der Adoleszentenpsychiatrie der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland (IPW), bestätigt das und bezieht sich auf Corona-bezogene Studien, wonach die Lebensqualität bei Jugendlichen abnehme und Angststörungen und Depressionen zunähmen - damit steige auch die Wahrscheinlichkeit für selbstverletzendes Verhalten.
Stationäre Hilfe
Die Skillsgruppe der IPW richtet sich an Jugendliche, die sich gelegentlich selbst verletzen. "Winterthur dürfte dabei im Schweizer Mittel liegen", schätzt Kupferschmid, zumindest sei der Kanton Zürich im Mittelfeld. Schwierige Trennungen, Scheidungssituationen und Gewalt innerhalb der Familie würden das Verhalten fördern. «Das zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten, mit und ohne Migrationshintergrund», sagt er.
In der stationären Hilfe gebe es eine therapeutische Begleitung, die im Alltag unterstützt. Zwölf Jugendliche lebten in Doppelzimmern in einer Gemeinschaft, gingen gemeinsam in die Schule und in die Gruppentherapie. Oft komme es vor, dass jemand nicht einschlafen könne und im Wachliegen eine Gedankenspirale entwickle. «Zu Hause käme es dann vielleicht zur Selbstverletzung. Unsere Bezugspersonen sind jedoch abends da und arbeiten an solchen Situationen.»
Medikamentöse Behandlung
Dabei kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: «Zur Behandlung der Grundstörung, zum Beispiel einer Depression, sind die Jugendlichen nicht nur in einer Psychotherapie. Viele von ihnen nehmen auch Medikamente ein», sagt Marco Maffezzoni über seine Skillsgruppenteilnehmerinnen. Oftmals handelt es sich dabei um Antidepressiva, eventuell zusätzlich um Antipsychotika zur Anspannungskontrolle.
Die Rolle der Angehörigen
Es ist nachvollziehbar, wie komplex eine solche Situation auf eine betroffene Mutter wirken muss. «Man fühlt sich als Angehörige immer etwas draussen gelassen», sagt die Winterthurerin - und ein weiteres Mal: «Wir sind machtlos.» Über die Abläufe in der Klinik und den Einsatz von Medikamenten habe sie nicht alles erfahren, ist ihre Ansicht. Schliesslich - und das komme erschwerend hinzu - seien die Jugendlichen mit 18 erwachsen, und dann müsse mit den Eltern nicht mehr gesprochen werden.
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