Kinderanalyse nach Anna Freud

Anna Freud, geboren am 3. Dezember 1895 in Wien und gestorben am 9. Oktober 1982 in London, war eine bedeutende Lehrerin und Psychoanalytikerin. Als jüngste Tochter Sigmund Freuds war sie in seinen letzten Jahren seine wichtigste Mitarbeiterin und später seine geistige Erbin. Sie emigrierte 1938 nach London und baute dort in der Hampstead-Klinik das erste Zentrum für Kinderanalyse auf.

Ausbildung und frühe Tätigkeit

Anna Freud erhielt ihre psychoanalytische Ausbildung in Wien. Von 1935 bis 1938 war sie Direktorin des dortigen Psychoanalytischen Instituts. In jenem Jahr emigrierte sie nach London, wo sie von 1940 bis 1945 die von ihr gegründeten Hampstead Nurseries leitete. Ab 1952 war sie Direktorin der Hampstead Child-Therapy Clinic sowie des Hampstead Child-Therapy Course, der wichtigsten europäischen Ausbildungsstätte auf dem Gebiet der Psychoanalyse des Kindes.

Grundlagen der Kinderanalyse nach Anna Freud

Anna Freud gilt als Begründerin der Kinderanalyse. Sie schlug früh die Brücke von der therapeutischen Rekonstruktion von Kindheitserfahrungen zur pädagogischen Arbeit mit Kindern selbst. In ihrer 1930 erstmals veröffentlichten Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen legte sie die Grundlage für ihre spätere berufliche Tätigkeit, die in der Gründung der Hampstead-Klinik für Kinder und dem Lehrinstitut für analytische Kinderpsychotherapie gipfelte. Diese Einführung ist leicht verständlich geschrieben, stellt komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar dar und bietet somit auch heute noch alles, was für das Verständnis der Psychoanalyse notwendig ist.

In diesem Schlüsselwerk schildert sie die Quintessenz der Kinderanalyse. Schritt für Schritt erklärt sie, wie sie Zugang zu ihren kleinen Patienten findet und zur Verbündeten des Kindes im Heilungsprozess wird. Die eigentliche analytische Arbeit mit den Kindern - die Erkundung des "Unbewussten" - erfordert besondere Techniken: Träume, Malen und Spielen sind wichtige Hilfsmittel im analytischen Prozess.

Die Freud-Klein-Kontroversen

Nach dem Tod ihres Lehranalytikers und Mentors Karl Abraham beschloss Melanie Klein, sich in London niederzulassen, wo sie kurz zuvor mit grosser Resonanz Vorträge gehalten hatte. Während der dreissiger Jahre gewann ihre Theorie und Praxis der Kinderanalyse innerhalb der British Psychoanalytical Society immer mehr Anhänger. Für Melanie Klein waren bereits Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren «analysierbar», denn auch sie sollten eine Übertragungsbeziehung zum Analysierenden herstellen können.

Lesen Sie auch: Zur Biographie von Anna Freud

Doch zu den sogenannten Controversial Discussions der Jahre 1942 bis 1946 kam es erst nach der Zwangsemigration der deutschen und österreichischen Psychoanalytiker, insbesondere der Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Sigmund Freud ging zusammen mit seiner Tochter Anna nach London ins Exil. Anna Freud war selbst in der Kinderanalyse tätig, hielt jedoch an der klassischen Position fest, die eine Analysierbarkeit erst in einem Alter ab etwa fünf Jahren für möglich erachtete und für die Kinderanalyse die Möglichkeit einer Übertragung negierte.

Die aufkommenden Debatten und Auseinandersetzungen gewannen noch durch ein persönliches Zerwürfnis an Schärfe: Zur entschiedensten Kritikerin der Klein'schen Positionen avancierte ausgerechnet Melitta Schmideberg, Melanie Kleins Tochter.

Konfliktmanagement in der British Psychoanalytical Society

Die Kontroversen drohten die British Psychoanalytical Society zu zerreissen, aber sie führten letztlich zu einem erstaunlichen Kompromiss: der organisatorischen Dreiteilung der Society - vor allem ihrer Ausbildung - in Kleinianer, Anna-Freudianer und eine dritte, mittlere Gruppe, in der sich vor allem die Engländer «vom Stamm» wiederfanden.

Denn keineswegs handelte es sich um eine spontan abgelaufene Debatte, sondern um eine gewollt institutionalisierte Form, in der überhaupt erst eine Auseinandersetzung möglich gemacht wurde und die im Übrigen unter den schwierigen Bedingungen der deutschen Luftangriffe litt und so nur höchst selten eine umfassende Versammlung der Mitglieder erlaubte. Insbesondere fehlten weitgehend die Männer, so dass die Diskussionen bis in die zweite Reihe (Susan Isaacs, Marjorie Brierley, Joan Riviere, Dorothy Burlingham, Paula Heimann, Margaret Little, um nur die wichtigsten Namen zu nennen) ausschliesslich von Frauen geführt wurden.

Die Bedeutung der Kontroversen

Die neun Jahre nach ihrer Originalveröffentlichung ins Deutsche gebrachten «Freud-Klein-Kontroversen» sind mehr als nur historisch interessant. Denn sie zeigen nicht nur die Psychoanalyse bei einer Weichenstellung, bei der das Verhältnis von Theorie und Praxis auf dem Spiel steht, sondern sie legen auch weitergehende Implikationen offen, in denen es um die Erkennbarkeit des Psychischen überhaupt geht. Und sie sind auch insofern noch aktuell, als sich gerade auf der Folie dieser Kontroversen etwa das Lacan'sche Werk sehr gut als Vorschlag einer Lösung der Aporien lesen lässt, in die diese Auseinandersetzung unweigerlich geriet.

Lesen Sie auch: Der Fall Bartsch und die Psychoanalyse

Das wird besonders deutlich an dem zentralen und in der Diskussion grossen Raum einnehmenden Vortrag von Susan Isaacs über «Wesen und Funktion der Phantasie». Was zunächst wie ein Streit um Namen bzw. wie der Versuch aussieht, einen Begriff an die Stelle von anderen zu setzen - mit dem Begriff «Phantasie» (auf Englisch «phantasy» geschrieben, um den Abstand zur «fantasy» zu verdeutlichen) das Phänomen der Halluzination, die Wunscherfüllung, aber auch das Freud'sche Konstrukt einer «psychischen Realität» zu vereinnahmen -, und auch entsprechend von den Kritikern moniert wurde, rührt letztlich an Grundfragen des Verhältnisses von Realität und Phantasie.

Isaacs postuliert die Existenz «unbewusster Phantasien», und zwar bereits beim kleinen Kind, behauptet, dass sie «der primäre Inhalt aller seelischen Prozesse» seien, und charakterisiert allgemein das «Phantasieleben» als «die Form, in der das Kind seine psychische Realität erfährt». Zum Hauptstreitpunkt wird, dass sie die «unbewussten Phantasien» für sprachunabhängig, ja für «präverbal» erklärt und bereits in einer frühen Phase der Kindheit, nämlich dem ersten Lebensjahr, am Werk sieht. Der Streit geht um die Erfahrungsvoraussetzungen für die so unterstellten komplexen Phantasiebildungen (etwa: «die Mutter zerstückeln wollen»); und da auch Susan Isaacs an entsprechenden Vorannahmen festhält, vermag sie es nicht, die eigentliche Sprengkraft ihrer Stärkung des Begriffs «Phantasie» zu verdeutlichen.

Werke von Anna Freud (Auswahl)

  • Probleme der Beendigung in der Kinderanalyse (1970(1957))
  • Eine Diskussion mit Rene Spitz (1967(1966))
  • Pubertät als Entwicklungsstörung (1969(1966))
  • Eine kurze Geschichte der Kinderanalyse (1966)
  • Einige Gedanken über die Rolle der psychoanalytischen Theorie in der Ausbildung von Psychiatern (1966)
  • Das ideale psychoanalytische Lehrinstitut: Eine Utopie (1966)
  • Über Agieren (1968(1967))
  • Indikation und Kontraindikation der Kinderanalyse (1968)
  • Schwierigkeiten der Psychoanalyse in Vergangenheit und Gegenwart (1969(1968))
  • Die kindliche Symptomatik. Ein vorläufiger Ansatz zu ihrer Klassifizierung (1970)
  • Die infantile Neurose: Genetische und dynamische Überlegungen (1970)
  • Kinderanalyse als ein Spezialfach der Psychoanalyse (1970)
  • Heim oder Pflegefmilie? (1967(1966))
  • Filmbesprechung: "John, 17 Monate: Neun Tage in einem Kinderheim" von James und Joyce Robertson (1969)
  • Painter gegen Bannister: Nachschrift eines Psychoanalytikers (1968)
  • Ansprache bei der Promotionsfeier der Yale Law School (1968)
  • Vorwort zu: "Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kinderheilkunde" von Bianca Gordon (1970)

Schriften der Anna Freud Band IV: 1945-1956

Der vierte Band der Schriften der Anna Freud enthält 14 Beiträge aus den Jahren 1945 bis 1956, die im Zusammenhang mit der klinischen Arbeit und der Lehrtätigkeit der Autorin in London und bei verschiedenen Besuchen in den Vereinigten Staaten entstanden sind.

Themen sind unter anderem: Indikationsstellung in der Kinderanalyse, frühkindliche Eßstörungen; Bemerkungen zur Aggression; Gemeinschaftsleben im frühen Kindesalter; Studien über Passivität; über Verlieren und Verlorengehen.

Inhalt des Bandes IV

  • Indikationsstellung in der Kinderanalyse (1945)
  • Das psychoanalytische Studium der frühkindlichen Eßstörungen (1946)
  • Bemerkungen zur Aggression (1948)
  • Über bestimmte Phasen und Typen der Dissozialität und Verwahrlosung (1949)
  • Über bestimmte Schwierigkeiten der Elternbeziehung in der Vorpubertät (1949)
  • Beiträge der Psychoanalyse zur Entwicklungspsychologie (1951(1950))
  • Kinderentwicklung in direkter Beobachtung (1951(1950))
  • Gemeinschaftsleben im frühen Kindesalter (1951)
  • Die Wechselwirkungen in der Entwicklung von Ich und Es. Einleitung der Diskussion (1952(1951))
  • Studien über Passivität (1952(1949-1951))
  • Die Rolle der körperlichen Krankheit im Seelenleben des Kindes (1952)
  • Besprechung von James Robertsons Film "Eine Zweijährige geht ins Krankenhaus" (1953)
  • Die Mandeloperation einer Vierjährigen: Über den Bericht einer Mutter (1956)

Lesen Sie auch: Die Traumdeutung von Sigmund Freud – Eine Übersicht

tags: #Kinderanalyse #Anna #Freud