Ist Narzissmus ansteckend? Eine psychologische Betrachtung

Narzissmus ist ein Begriff, der heutzutage oft verwendet wird. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, was Narzissmus wirklich bedeutet und wie er sich von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung unterscheidet.

Was ist Narzissmus?

Narzissmus beschreibt die normale Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst einverstanden zu sein. Man erlebt sich als psychologische Einheit und freut sich seiner Existenz. Man hat ein Bedürfnis nach Sicherheit und Liebe, will kreativ tätig sein. Diese Wünsche existieren vom Anfang des Lebens an.

Gesunder vs. übersteigerter Narzissmus

Ein gesunder Narzissmus dient dem Selbsterhalt. Es gibt jedoch viele Menschen, deren narzisstische Ziele infantil bleiben. Sie wollen bewundert werden für ihr Aussehen, ihre Autos, Häuser, ihre berufliche Position. Sie lieben es, im Zentrum des Interesses zu stehen. In diesen Übertreibungen bleibt ihr Wesen infantil.

Im Gegensatz zum kindlichen Narzissmus steht hinter einer schweren Störung eine viel grössere Überschätzung des Selbst. Man muss der Grösste sein: der grösste Wissenschafter, der grösste Schauspieler, der grösste Sportler, der wichtigste Politiker, der höchste Militär. Neben dem Wunsch nach Grossartigkeit leiden diese Menschen unter enormem Neid auf das, was andere haben. Sie verachten diese dafür. Mit der Verachtung wiederum wollen sie sich gegen den Neid schützen.

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung liegt vor, wenn Menschen ein extremes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung haben. Oft stechen sie durch Arroganz und Selbstidealisierung heraus. Kritik ertragen sie nicht, und Misserfolg kann sie in schwere Krisen stürzen. Narzisstische Personen haben jedoch Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und verhalten sich anderen gegenüber oft herablassend. Der Umgang mit Narzissten ist daher sehr herausfordernd.

Lesen Sie auch: Umgang mit narzisstischen Tendenzen bei Kindern

Wie viele sind betroffen?

Etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung leiden an einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Männer erhalten die Diagnose häufiger als Frauen. Die meisten Betroffenen begeben sich aufgrund anderer psychischer Erkrankungen in Behandlung, wie Depressionen, weitere Persönlichkeitsstörungen, somatoforme Störungen, Ängste, Essstörungen oder Suchtprobleme.

Symptome

Nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) müssen mindestens fünf der folgenden Symptome für die Diagnose der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung vorliegen:

  • Die Betroffenen haben ein übertriebenes Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit.
  • Haben Phantasien von grenzenlosem Erfolg, Macht, Schönheit oder idealer Liebe.
  • Glauben, besonders und einzigartig zu sein und nur von besonderen oder angesehenen Personen verstanden zu werden.
  • Erwarten von anderen übermässige Bewunderung.
  • Erwarten, dass andere sie besonders bevorzugt behandeln und automatisch auf ihre Erwartungen eingehen.
  • Nutzen andere aus, um ihre eigenen Ziele zu erreichen.
  • Haben wenig Empathie; wollen sich nicht in andere hineinversetzen.
  • Empfinden oft Neid für andere oder glauben, andere sind neidisch auf sie.
  • Verhalten sich arrogant und überheblich.

Neuere Studien zeigen jedoch, dass der Selbstwert der Betroffenen niedrig ist. Die Betroffenen verschleiern ihre Selbstwertzweifel durch ihre selbstherrliche Selbstdarstellung. Von Selbstliebe kann also keine Rede sein. Menschen mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden vielmehr unter innerer Leere und sind sehr auf die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen.

Typen von Narzisstischer Persönlichkeitsstörung

Nach einer Studie von Russ und Kollegen (2008) kann man die Narzisstische Persönlichkeitsstörung in drei Typen einteilen:

  • Grandios-maligner Narzissmus
  • Vulnerabel-fragiler Narzissmus
  • Exhibitionistischer Narzissmus mit hohem Funktionsniveau

Grandios-maligner Narzissmus

Menschen mit dem grandios-malignen oder bösartigen Typus von Narzisstischer Persönlichkeitsstörung können zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden. Der maligne Narzissmus ist nämlich eine Kombination aus Narzissmus, Aggression, Paranoia und antisozialem Verhalten - eine teuflische Mischung, die Betroffene zu extrem grausamen Taten bewegen kann. Maligne Narzissten sind von ihrer Grossartigkeit überzeugt. Fühlen sie sich von anderen nicht angemessen wertgeschätzt, rächen sie sich ohne Reue. Stalin und Hitler sind Beispiele für maligne Narzissten.

Lesen Sie auch: Narzissmus: Ursprung und Bedeutung

Vulnerabel-fragiler Narzissmus

Der vulnerabel-fragile Narzissmus wirkt zunächst untypisch, da er durch depressive Stimmung, Ängstlichkeit und Scham geprägt ist. Man bezeichnet diese Form daher auch als „verdeckten Narzissmus“. Menschen mit diesem Typus von narzisstischer Persönlichkeitsstörung reagieren sehr sensibel auf Kritik und Misserfolge.

Exhibitionistischer Narzissmus

Menschen mit dem exhibitionistischen Typus einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung stellen ihre Grossartigkeit öffentlich heraus. Dadurch ziehen sie die Aufmerksamkeit auf sich, die sie brauchen. Dieser Typus kann sich in unserer wettbewerbsorientierten Welt gut anpassen und sehr erfolgreich sein. Sein Auftreten wirkt sehr selbstbewusst. Anderen gegenüber verhalten sich diese Personen arrogant und kühl.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung entsteht aus einer Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Nach neuesten Zwillingsstudien haben die Gene bei der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung einen grösseren Einfluss als bei anderen Persönlichkeitsstörungen. Es spielen aber auch Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle.

Umweltfaktoren

Viele Experten sehen die Wurzeln des Narzissmus in der Kindheit. Einigkeit besteht nur darüber, dass die narzisstische Störung auf ungünstige Interaktionen mit Bezugspersonen zurückzuführen ist.

Otto Kernberg geht davon aus, dass emotional kalte oder latent aggressive Eltern eine übersteigerte Selbstdarstellung fördern. Andere Forscher vermuten, dass Kinder, die von den Eltern keine Grenzen erhalten, ein unrealistisches und perfektionistisches Selbstbild entwickeln können.

Lesen Sie auch: Umgang mit Narzissmus

Narzissmus und Beziehungen

Eine Liebesbeziehung mit einem Narzissten kann überhaupt funktionieren? Narzissten verlieben sich leicht aus Begeisterung, aber genauso schnell entlieben sie sich wieder. Sie interessieren sich nicht für den anderen, dieser vermag ihre innere Leere nicht zu füllen. Irgendwann tritt eine tiefe Verachtung auf, und sie entwerten das Liebesobjekt. Eine solche Beziehung scheitert früher oder später.

Mit jemandem eine Partnerschaft zu führen, der eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat, ist eine grosse Herausforderung. Für Narzissten dreht sich die Welt praktisch nur um sie selbst. Sich in den Partner (oder andere Menschen) hineinzuversetzen, gehört nicht zu ihren Stärken.

Therapie

Zur Behandlung der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung werden psychotherapeutische Verfahren eingesetzt. Der Therapeut hilft dem Betroffenen, seine Verhaltensweisen und Gefühle besser zu verstehen. Um die Beziehung zu anderen Menschen zu verbessern, muss der Betroffene daher an seiner Empathiefähigkeit arbeiten und gemeinsam mit dem Therapeuten neue Verhaltensstrategien entwickeln, welche die Interaktion mit anderen Menschen verbessert.

Ein wesentlicher Baustein für eine erfolgreiche Narzissmus-Therapie ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Betroffenen und dem Therapeuten. Die psychische Gesundheit von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist vor allem dann gefährdet, wenn ihre überhöhten Ansprüche nicht erfüllt werden. Jede Kränkung ist eine Bedrohung für ihr Selbst. Eine wichtige Massnahme in der Therapie ist es daher, die Ansprüche zu hinterfragen und Ziele zu setzen, die tatsächlich erreichbar sind.

Weiblicher Narzissmus

Vulnerable Narzissten neigen etwa dazu, sich selbst als Opfer zu stilisieren und sich permanent enttäuscht zu zeigen. «Dir ist doch egal, wie ich mich fühle, alle anderen sind dir wichtiger», «Mich versteht sowieso niemand» - solche Aussagen zielen darauf ab, Mitmenschen durch ein schlechtes Gewissen zu manipulieren.

Diese Form des Narzissmus ist auch als weiblicher Narzissmus bekannt. Tatsächlich wird er häufiger bei Frauen beobachtet als bei Männern, er kann aber bei beiden Geschlechtern vorkommen.

Typische Anzeichen für vulnerablen Narzissmus sind Missgunst, Neid, Hypermoral und eine Opfermentalität. Konfrontiert man vulnerable Narzissten mit ihrem Verhalten, leugnen sie, verletzende Aussagen gemacht zu haben, oder sie lenken ab, indem sie Schuldumkehr betreiben.

Tabelle: Typen der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Typ Merkmale
Grandios-maligner Narzissmus Kombination aus Narzissmus, Aggression, Paranoia und antisozialem Verhalten
Vulnerabel-fragiler Narzissmus Depressive Stimmung, Ängstlichkeit, Scham, Sensibilität für Kritik
Exhibitionistischer Narzissmus Öffentliche Herausstellung der Grossartigkeit, Arroganz, kühles Verhalten

tags: #ist #narzissmus #ansteckend #psychologie