Der Zusammenhang zwischen Immunsystem und Depression

Die Depression ist mit mehr als 264 Millionen erkrankten Menschen weltweit eine der häufigsten psychischen Erkrankungen und steht im Zusammenhang mit erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität. Ihre Wirksamkeit ist jedoch begrenzt, und zirka zwei Drittel aller Patienten sprechen unzureichend auf eine erste Behandlung an. Deshalb ist es wichtig, nach alternativen biologischen Ansatzpunkten zu suchen, um effizientere Behandlungsformen entwickeln und anbieten zu können.

Die therapeutische Wirksamkeit gegenwärtiger antidepressiver Medikation ist limitiert. Aus diesem Grund wird intensiv nach alternativen Therapieansätzen gesucht. Präklinische und erste klinische Versuche weisen auf das Potenzial von Darmmanipulationen für die Behandlung von Depressionen hin. In diesem Zusammenhang konzentrieren sich neue Forschungen auf die Interaktion zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem zentralen Nervensystem, besser bekannt als Darm-Hirn-Achse.

Die Darm-Hirn-Achse

Allgemein bezeichnet die Darm-Hirn-Achse die bidirektionale Kommunikation zwischen Magen-Darm-Trakt und Gehirn und beschreibt damit den Zusammenhang zwischen peripheren intestinalen Funktionen und Verhalten. Im Magen-Darm-Trakt spielt vor allem die Darmmikrobiota, die Gemeinschaft der im Darm lebenden Mikroorganismen, eine wesentliche Rolle bei der Kommunikation mit dem Gehirn, weshalb oft auch von der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse gesprochen wird.

Die menschliche Darmmikrobiota wiegt ungefähr 1 bis 2 kg und besteht aus Billionen symbiotischer Bakterien, Viren und Pilzen, die das Gehirn und das Verhalten beeinflussen. Häufig wird statt von der Darmmikrobiota auch vom Darmmikrobiom gesprochen, das die Darmmikrobiota inklusive der dazugehörigen genetischen Information bezeichnet. Obwohl diese beiden Begriffe nicht genau das Gleiche bedeuten, werden sie häufig synonym gebraucht. Hier wird fortan der breitere Begriff Darmmikrobiom verwendet.

Wie genau die Kommunikationswege zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem Gehirn aussehen, ist bis jetzt nicht eindeutig erforscht. Neben den Hormonen und Neurotransmittern, die sowohl im Darm als auch im Gehirn produziert werden, spielen vor allem der Vagusnerv, das Immunsystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) sowie kurzkettige Fettsäuren (SCFA) eine wesentliche Rolle in der Darm-Hirn-Kommunikation.

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Kommunikationswege zwischen Darm und Gehirn

  • Vagusnerv: Der Vagusnerv ist der 10. von 12 Hirnnerven und stellt den schnellsten und direktesten Kommunikationsweg zwischen Darm und Hirn dar. Durch die starke Innervation des Darms kann der Vagusnerv bereits kleine Veränderungen bei den Metaboliten des Darmmikrobioms feststellen, diese Information an das Gehirn weiterleiten und eine entsprechende Antwort im Gehirn auslösen.
  • Immunsystem: Der Darm ist das mächtigste Immunorgan des Körpers und weist die grösste Ansammlung von Immunzellen in unserem Körper auf. Die Immunzellen sind im ständigen Austausch mit den Billionen Mikroben im Darm, um die Abwehr pathogener Mikroorganismen und die Toleranz gegenüber einer Vielzahl von Nahrungsmittelantigenen und nützlichen Mikroorganismen zu ermöglichen.
  • HPA-Achse: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) ist Hauptbestandteil des neuroendokrinen Systems und wird häufig auch als Stressachse bezeichnet, da sie verschiedene Stressreaktionen kontrolliert und die Homöostase der Stresshormone Cortisol, Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und adrenokortikotropes Hormon (ACTH) reguliert.
  • SCFA: Bioaktive kurzkettige Fettsäuren (short chain fatty acids, SCFA) bilden den Hauptbestandteil der im Darm produzierten Metaboliten und entstehen durch die Fermentierung von Ballaststoffen im Dickdarm. Sie können sowohl die Darmbarriere als auch die Blut-Hirn-Schranke passieren und dadurch auf humoralem Weg direkt sowie durch die Aktivierung neuronaler, immunologischer und hormonaler Wege indirekt mit dem Gehirn kommunizieren.

Darmmanipulationen als neuer Therapieansatz bei Depressionen

Um über den Magen-Darm-Trakt die Darm-Hirn-Achse zu beeinflussen, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Schon durch eine veränderte Ernährung kann die Zusammensetzung der Darmbakterien beeinflusst werden. Die für den Darm relevanten Stoffe werden als Präbiotika, Probiotika und Postbiotika bezeichnet. Sie können über die Darm-Hirn-Achse positive Effekte auf die Psyche haben und werden übergreifend als «Psychobiotika» bezeichnet.

Präbiotika sind Ballaststoffe und dienen als Nährstoffe für Bakterien im Darm. Postbiotika sind zum Beispiel SCFA und entstehen natürlicherweise bei Stoffwechselprozessen wie der Fermentierung im Darm. Zu Prä- und Postbiotika gibt es erste Hinweise, dass sie positive Einflüsse auf depressive Symptome haben könnten, die Datenlage ist jedoch aktuell noch spärlich. Forschung im Zusammenhang mit Depressionen existiert zu Probiotika.

Probiotika

Probiotika sind lebende Mikroorganismen und haben in ausreichender Anzahl einen positiven Einfluss auf die menschliche Gesundheit. Neben der Einnahme über die Nahrung und als Nahrungsergänzungsmittel gibt es auch probiotische Arzneimittel, die als Antidiarrhoika sowie zur Regulation der Darmflora eingesetzt werden. Da Depressionen mit einem veränderten Darmmikrobiom in Zusammenhang stehen, wurde der Ansatz einer Darmmikrobiom-orientierten Therapie mit Probiotika entwickelt.

Verschiedene Interventionsstudien haben die Wirkung von Probiotika auf depressive Symptome untersucht. Dabei zeigten etwa zwei Drittel der Studien positive Effekte der Probiotika im Vergleich zu Plazebo. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass die Studien verschiedene Studienpopulationen untersuchten und nur wenige Studien mit klinischen Stichproben durchgeführt wurden.

Fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT)

Eine direkte Möglichkeit der Darmmanipulation stellt die fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT) dar. Bei FMT wird die Darmflora eines Individuums in den Magen-Darm-Trakt eines anderen Individuums transferiert. FMT wird bereits mit Erfolg zur Behandlung bei Darminfektionen, wie der rezidivierenden Clostridium-difficile-Infektion, eingesetzt.

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Weiter gibt es Hinweise darauf, dass FMT beim Reizdarmsyndrom zu einer Verbesserung der Symptome führen kann. Reizdarmstudien konnten zudem zeigen, dass FMT nicht nur zu einer Reduktion der gastrointestinalen, sondern auch der depressiven Symptomatik führen kann. Ebenso verbesserte FMT die Lebensqualität der Patienten.

Anhand der oben beschriebenen Erkenntnisse kann angenommen werden, dass FMT als Zusatzbehandlung zur Linderung depressiver Symptome beitragen kann. Nach unserem aktuellen Wissensstand existiert jedoch bis jetzt keine randomisiert kontrollierte Studie zur Untersuchung von FMT bei depressiven Patienten.

Für die Anwendung von FMT bedarf es einer umfangreichen Voruntersuchung eines gesunden Spenders, dessen Stuhl anschliessend in den Körper einer erkrankten Person übertragen wird. Studien und Stuhlbanken verfolgen daher ein striktes Screening, das laufend aktualisiert und optimiert werden muss. Nach einem umfangreichen Gesundheitsfragebogen folgen ein klinisches Interview mit Fragen zur Gesundheits- und Krankheitsgeschichte, eine Vitalparametermessung sowie die Entnahme von Blut- und Stuhlproben. Der Stuhl kann frisch, gefroren oder in Form von Kapseln für die Transplantation verwendet werden.

Stress, Immunsystem und Depression

Chronischer Stress wirkt sich auf das Immunsystem und das Gehirn aus. Chronischer Stress führt zu Veränderungen des Immunsystems, die ihrerseits Gehirn und Psyche beeinflussen - etwa bei Depressionen. In einer Zeit, die durch Schnelllebigkeit und Optimierung geprägt ist, äussert sich chronischer Stress heutzutage vor allem auf psychische Art und Weise. Die Wissenschaft weiss schon lange, dass solch hohe mentale Belastungen zur Depression führen kann.

Einen zentralen Mechanismus hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Zürich (UZH), der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und der Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York, nun entschlüsselt. «Wir konnten zeigen, dass Stress die Menge des Enzyms Matrixmetalloproteinase 8, kurz MMP8, im Blut von Mäusen erhöht. Dieselbe Veränderung fanden wir auch in Patientinnen und Patienten mit einer Depression», sagt Erstautor Flurin Cathomas.

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Vom Blut gelangt MMP8 ins Gehirn und verändert dort die Funktionstüchtigkeit bestimmter Nervenzellen. Im Tiermodell konnten die Forschenden zeigen, dass bei Stress vermehrt Monozyten - eine bestimmte Art weisser Blutkörperchen - ins Gefässsystem des Gehirns wandern, besonders in die Regionen des Belohnungszentrums. Diese Immunzellen produzieren das Enzym MMP8.

Es ist am Umbau und der Regulation des netzartigen Gerüsts beteiligt, das die Nervenzellen im Gehirn umgibt - die sogenannte extrazelluläre Matrix. «Dringt das Protein aus dem Blut ins Hirngewebe ein, verändert es das Zellgerüst und stört so die Funktion der Nervenzellen.

Um nachzuweisen, dass tatsächlich MMP8 für die Verhaltensänderungen verantwortlich ist, entfernten die Forschenden bei einem Teil der Mäuse das MMP8-Gen. Diese Tiere waren im Vergleich zu Kontroll-Mäusen vor den negativen stressbedingten Verhaltensänderungen geschützt. «Dass die in den Mäusen gefundenen Ergebnisse auch für Menschen relevant sind, zeigen unsere Analysen im Blut von depressiven Patienten.

Es gibt verschiedene Ansätze, wie es zu diesem Zusammenhang zwischen Stress und psychischer Erkrankung kommt. Eine der Hypothesen dazu bezieht sich auf Immunantworten, die durch Stress ausgelöst werden. Psychische Belastung kann zur Aktivierung des Inflammasomes führen, welches wiederum Entzündungsprozesse im Körper auslöst. Erhöhte Entzündungswerte im Körper sind assoziiert mit der Entwicklung depressiver Symptome.

Diese Verknüpfung von Entzündung und Schwermut wird unter anderem damit erklärt, dass ein übermässig aktives Immunsystem das Gleichgewicht von bestimmten Neurotransmittern - chemische Botenstoffe, die im Nervensystem Informationen weiterleiten - stört. Betroffene Neurotransmitter sind beispielsweise Glutamat und verschiedene Monoamine, wie Serotonin und Dopamin.

Interessanterweise überlappen sich die Anzeichen von Sickness Behavior und Depressionen: Sich den Menschen zu entziehen und Niedergeschlagensein können beispielsweise durch Keime verursacht, aber auch Anzeichen von psychischen Leiden sein. Demzufolge wurde eine Theorie aufgestellt, die besagt, dass depressive Gefühle eigentlich eine Art “Sickness Behavior” sind, die durch Entzündungsprozesse im Körper ausgelöst werden.

In diesem Kontext argumentieren Forschende, dass die “moderne” Lebensweise (im Hinblick auf Ernährung, Hygiene und Stress) zu einem überaktiven Immunsystem und daher zu Depressionen führen könne. Entspannung und Erholung erweisen sich als wirkungsvolle Massnahmen, um der Entstehung von Depressionen entgegenzuwirken.

Weitere Aspekte und Forschungsansätze

Psychische Krankheiten wie Schizophrenie oder Depressionen sind nach wie vor rätselhaft. Erkenntnisse haben zu neuen Ansätzen geführt, um psychische Krankheiten wie Psychosen, Schizophrenie oder Depression zu diagnostizieren und zu behandeln.

Ein etabliertes Krankheitsbild ist die sogenannte «Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis». Bei dieser Krankheit bildet der Körper Abwehrstoffe gegen den NMDA-Rezeptor im Gehirn - ein Molekül, das bei der Signalübertragung zwischen den Nervenzellen eine wichtige Rolle spielt. Wenn Antikörper diese Funktion unterbinden, kommt es zu psychotischen Symptomen.

Auch Depressionen könnten zum Teil durch das Immunsystem verursacht sein. Das vermutet Golam Khandaker. Er ist Psychiater und forscht an der University of Cambridge. Er und sein Team haben herausgefunden, dass mindestens ein Viertel der Patienten mit Depressionen gleichzeitig eine chronische Entzündung haben. «Das sind genau diejenigen Patienten, die nicht gut auf die gängigen Antidepressiva ansprechen, die in den Serotonin-Haushalt im Gehirn eingreifen», erklärt er.

Verschiedene Faktoren und Aspekte wie die psychische Gesundheit können die Effektivität des Immunsystems beeinflussen. Die Psychoneuroimmunologie erforscht die Auswirkungen der Psyche auf das Immunsystem. Sie untersucht die Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem, dem Hormonsystem und dem Immunsystem. Psychischer Stress kann über diese komplexen Verbindungen die Freisetzung von immunregulierenden Substanzen beeinflussen und zu einem Anstieg von Entzündungen im Körper führen.

Ein neuartiges Rheumamittel macht Personen, die unter Depressionen leiden, Hoffnung. «Ein Drittel der Patienten spricht gut an auf Therapien mit Antidepressiva, ein Drittel erreicht damit eine Verbesserung von bis zu 50 Prozent. Aber bei einem Drittel wirken sie nicht», sagt Dagmar Schmid, Leiterin der Klinik für Psychosomatik am Kantonsspital St. Gallen.

Hoffnung macht diesen Patienten eine aufsehenerregende Entdeckung des Psychiaters Golam Khandaker von der University of Cambridge. Demnach gibt es Depressionen, die nicht nur durch einen Mangel an Botenstoffen im Hirn, nicht durch eine psychische Erkrankung ausgelöst werden, sondern durch eine Immunreaktion, die zu Entzündungen führt.

Festgestellt haben Forscher auch, dass umgekehrt die Hälfte der Hepatitis-C-Patienten, die mit dem körpereigenen Botenstoff Interferon behandelt werden, eine schwere Depression entwickeln. Interferon führt eine Entzündung herbei und aktiviert das Immunsystem. Dauert das länger, können Depressionen entstehen.

Naheliegend, dass Khandaker nun dieses Jahr eine neue Studie gestartet hat, in der Patienten mit hohen Entzündungswerten und Depressionen mit einem Rheumamittel behandelt werden. Entwickelt worden ist für diesen Test ein neues Medikament mit monoklonalen Antikörpern, das in den Stoffwechsel eines Botenstoffs eingreift. Dieser Botenstoff Interleukin-6 steuert die Entzündungsreaktionen des Immunsystems und, wenn die Hypothese Khandakers stimmt, auch den Verlauf einer Depression.

Tatsächlich sehen wir Depressionen gehäuft im Zusammenhang mit entzündlichen Erkrankungen wie zum Beispiel der multiplen Sklerose oder der rheumatischen Erkrankung. Das lässt natürlich schon hellhörig werden», sagt Dagmar Schmid. Der Zusammenhang von Depression und Entzündung war vergangene Woche auch in Berlin prominentes Thema an der grössten Konferenz im deutschsprachigen Raum für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), an der Dagmar Schmid teilgenommen hat.

Da die Entzündung schon über mehrere Ecken als relevant beobachtet worden ist, sei die Arbeit der britischen Forscher der nächste logische Schritt, sagt Schmid. Gut sei aber auf jeden Fall, dass nun über körperliche Aspekte im Zusammenhang mit der Depression diskutiert werde, was zur Entstigmatisierung dieser Erkrankung beitragen könne. So wie es bei jedem depressiven Patienten Sinn macht, diesen zuerst auf «Herz und Nieren» zu prüfen, um körperliche Gründe für die Depression auszuschliessen.

Diskutiert wird unter anderem die Stresshypothese, bei der die Entzündung ein Baustein ist. Neben dem Entzündungsansatz gibt es eine neue grosse Richtung in der Depressionsforschung: die Ernährung. Untersucht wird das Mikrobiom, also welche Art der Ernährung die Bakterien im Darm beeinflussen, die sich dann auf die Psyche auswirken.

Wissenschaftlich erhärtet sei zum Beispiel auch durch eine neue skandinavische Studie, dass die Arbeitsdauer über neun Stunden schädlich sei und massgeblich zu Depressionen führe, sagt Schmid. Da braucht es keine Wunderpille, sondern eine Lebensstiländerung: Stressregulierung durch Entspannungs- und Achtsamkeitstraining, Sport, Licht und vor allem ausreichend Schlaf. Das beeinflusst Immunsystem und Stimmung und wird erfolgreich in der Depressionsbehandlung eingesetzt.

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