Hartz 4 und Depressionen: Einblick in soziale Schwierigkeiten und psychische Gesundheit

Der Amoklauf von München im Jahr 2016, bei dem ein 18-jähriger Schüler neun Menschen tötete, lenkte die Aufmerksamkeit auf die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialer Ausgrenzung, psychischen Problemen und Gewalt. Der Täter, David S., bezeichnete sich selbst als "Deutschen, der in einer Hartz-IV-Gegend geboren wurde und in stationärer Behandlung war".

Die ersten Ermittlungen der Polizei bestätigten den Anfangsverdacht: David S., der einen deutschen und einen iranischen Pass besitzt, hatte Probleme mit seinen Mitschülern und befand sich wegen Depressionen und «sozialen Phobien» in Behandlung. Wie andere Einzeltäter spielte er gewaltsame Video-Games und beschäftigte sich mit früheren Amokläufen.

Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die schwierige Situation von Menschen, die in sozial benachteiligten Verhältnissen leben und gleichzeitig mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben. Es stellt sich die Frage, inwiefern Armut, soziale Ausgrenzung und mangelnde Perspektiven das Risiko für Depressionen und andere psychische Probleme erhöhen können.

Die Rolle von Hartz IV

Hartz IV, das deutsche System der Grundsicherung für Arbeitsuchende, steht seit seiner Einführung im Jahr 2005 in der Kritik. Viele werfen dem System vor, Menschen zu entwürdigen und in Armut zu halten. Die Sanktionen, die bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten verhängt werden können, verschärfen die Situation zusätzlich.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einem Urteil vom 5. November 2019 mit der Verfassungsmäßigkeit der Sanktionen auseinandergesetzt. Das Gericht stellte fest, dass die grundrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) sowohl die physische als auch die soziokulturelle Existenz sichern muss.

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Die Richter entschieden, dass Leistungsminderungen wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Des Weiteren darf wegen wiederholter Pflichtverletzungen eine Minderung der Regelbedarfsleistungen nicht über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen.

Es wird oft unterschätzt, wie gravierend die Hartz-IV-Gesetze wirken: Sie haben letztlich die Einstellung zur Arbeit und zu ihrem Wert grundlegend verändert. Arbeit wird durch sie entwertet. Denn diese Gesetze anerkennen die lebenslange Arbeitsleistung von Lohnabhängigen gar nicht oder nur sehr gering.

Abstiegsängste und soziale Ungleichheit

Die sozialen Probleme in Deutschland sind komplexer geworden. Heute sind Abstiegsgefahren bis in die Mittelschichten hinein verbreitet. Da geht es um neue Risiken auf dem Arbeitsmarkt, um die Entwertung der eigenen Arbeit, Sorgen um die eigene Person und um die Zukunft der Kinder.

Aus einem Teil des Verliererdrittels hat sich eine Unterklasse entwickelt, die wirtschaftlich unselbstständig und von Sozialtransfers abhängig ist und den modernen Methoden der sozialen Disziplinierung unterliegt, wie wir sie in Deutschland etwa im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung haben. So etwas gab es zuvor in Deutschland nicht, das ist neu.

Über den globalen Wettbewerb haben sich Löhne, Arbeitsbedingungen und die Zahl der Arbeitsplätze gravierend verschlechtert. Das begann bereits in den siebziger und achtziger Jahren, hat sich jedoch nach 1989 und der deutschen Wiedervereinigung erheblich beschleunigt und verschärft.

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Die Rolle der Politik

Die Regierungen, egal welche Parteien sie stellen, sagen gerne, sie seien die Getriebenen der Märkte. Das stimmt natürlich nicht. Denn was gemeinhin Neoliberalismus genannt wird, ist auch ein politisches Projekt. Ohne einen politischen Rahmen und einen erklärten politischen Willen wären diese weitreichenden Deregulierungen - von der Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen über die Zulassung der Hedgefonds bis hin zu diesem Wildwuchs aus prekären Beschäftigungsverhältnissen - nie zustande gekommen.

Das Paradoxe in Deutschland ist zudem, dass der Wille, eine solche Art von Wettbewerbsstaat aufzubauen, weniger von den konservativ-liberalen Regierungen unter Helmut Kohl ausgegangen ist, sondern ausgerechnet von Sozialdemokraten und Grünen. Es waren ja Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die die wesentlichen Weichen gestellt haben.

Persönliche Schicksale

Jörg Stübner, ein ehemaliger Fussballspieler, der in der DDR ein Popstar war, lebt heute vom Hartz-IV-Regelsatz. Er sagt: «Ich kann froh sein, dass es ein solches Netz in Deutschland gibt.» Es ist die Aussage eines Mannes, der schon weit Schlimmeres erlebt hat. 1995 entging er dem Tod nur um Haaresbreite.

Begonnen hatte sein Absturz zeitgleich mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990. Stübners Verein Dynamo Dresden, der ihm seit seiner Kindheit Heimat bedeutet hatte, wandelte sich ebenso dramatisch wie das ganze Land. Langjährige Bezugspersonen wurden wegrationalisiert, Spielerkollegen wie der heutige DFB-Sportdirektor Matthias Sammer verabschiedeten sich in den Westen.

Die Geschichte von Thomas Melle, der unter einer schweren Form von Bipolarität leidet, zeigt ebenfalls die Schwierigkeiten, mit denen Menschen mit psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu kämpfen haben. Alkoholexzesse und Kaufräusche gehörten ebenso zu seinem Alltag wie Hartz IV oder Hausverbote.

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Wege aus der Krise

Es ist wichtig, dass die Gesellschaft ein Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen Armut, sozialer Ausgrenzung und psychischer Gesundheit entwickelt. Nur so können wir gemeinsam Wege finden, um Menschen in schwierigen Lebenslagen besser zu unterstützen.

Der Kapitalismus, der verschwenderisch und rücksichtslos mit Natur und Menschen umgeht, gerät an die Grenzen seiner eigenen Reproduktion. Der Klimawandel macht uns beispielsweise diese Grenzen deutlich. Wir befinden uns überall, ob beim Klima, beim Konsum oder bei der Staatsverschuldung, bereits in einer Phase des Schadenwachstums. Es wachsen also nicht mehr der Nutzen und der Wohlstand, es wachsen nur noch die Schäden.

Die Ressource Mensch kann der Kapitalismus nicht länger bedenkenlos verbrauchen, er muss sie erhalten. Dies spiegelt sich auch bei uns in den gegenwärtigen Debatten wider: Gesundheitsmanagement in den Betrieben, Weiterbildung, die Reden von der guten Arbeit und von Work-Life-Balance, eine neue Phase der Humanisierung der Arbeitswelt.

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