Bestimmt kennen Sie den jahrhundertealten Diskurs darüber, wer in uns eigentlich das Sagen hat: Ist es unser Verstand oder sind es unsere Emotionen? Die Philosophie beschäftigt sich mit dieser Frage bereits seit der Antike, zum Beispiel in Form des Stoizismus. Auch modernere Epochen, allen voran die Aufklärung, waren von dieser Frage stark geprägt. Die Psychologie, eine vergleichsweise junge akademische Disziplin, hat erst vor kurzem begonnen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Da der Fokus der Psychologie auf dem Erleben und Verhalten des einzelnen Individuums liegt, haben Psychologinnen und Psychologen über die Jahre hinweg interessante neue Herangehensweisen an diese Frage entwickelt.
Die Auswirkungen des Unterdrückens von Emotionen
Mehrere Studien sprechen dafür, dass sich das Unterdrücken von Gefühlen schädlich auf die Gesundheit auswirken kann. Bereits Sigmund Freud behauptete Ende des 19. Jahrhunderts, dass das Unterdrücken unangenehmer Gefühle krank mache. Zwar hat sich die These in der Alltagspsychologie durchgesetzt, allerdings blieben wissenschaftliche Beweise lange aus.
Unterdrückte Gefühle können einen erheblichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Verhalten haben. Hier sind einige mögliche Auswirkungen:
- Psychisches Ungleichgewicht: Unterdrückte Gefühle können zu psychischem Ungleichgewicht führen, da sie oft unbewussten Stress, Angst oder Unzufriedenheit verursachen können.
- Physische Auswirkungen: Die Unterdrückung von starken Emotionen kann sich auch auf unseren Körper auswirken. Chronischer Stress, der durch unterdrückte Gefühle verursacht wird, kann zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten und einem geschwächten Immunsystem führen.
- Energetische Blockaden: Einige Lehren und Ansichten gehen davon aus, dass unterdrückte Emotionen energetische Blockaden im Körper verursachen können, die den freien Fluss von Energie und Vitalität behindern.
- Beziehungsdynamiken: Unterdrückte Gefühle können auch unsere Beziehungsdynamiken beeinflussen, indem sie zu Konflikten, Missverständnissen und einer allgemeinen Unfähigkeit führen, sich authentisch zu verbinden und auszudrücken.
Wissenschaftliche Erkenntnisse
2003 erschien ein Artikel von Forschenden der Stanford University mit dem Titel «The Social Consequences of Expressive Suppression» in der Fachzeitschrift «American Psychological Association». Im Rahmen zweier Studien fanden die Forschenden heraus, dass sich das Unterdrücken von Gefühlen negativ auf den Blutdruck sowie hemmend auf die Beziehungsbildung auswirkt.
Dazu haben die Forschenden Paare aus jeweils zwei sich unbekannten Frauen gebildet, die dann über ein bestimmtes Thema diskutieren mussten; im Vorfeld schauten die Probandinnen einen Dokumentarfilm über die Bombenanschläge auf Hiroshima und Nagasaki 1945. Während die Probandinnen der einen Gruppe die Vorgabe hatten, möglichst ohne Emotionen zu diskutieren, durften jene der anderen Gruppe ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Dabei stellten die Forschenden fest, dass bei jenen Teilnehmerinnen, die ihre Gefühle unterdrücken mussten, der Blutdruck erhöht war. Auch die Beziehungsbildung der Paare wurde durch das Unterdrücken von Gefühlen gehemmt.
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2012 konnten Psychologen der Universität Jena im Rahmen einer Meta-Analyse, die in der Fachzeitschrift «Health Psychology» erschien, zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verdrängen von Gefühlen und bestimmten Krankheiten gibt. In der Pressemitteilung zur Studie erklärte Marcus Mund, Hauptverantwortlicher der Studie: «Das Unterdrücken unangenehmer Gefühle ist ein allgemeiner Abwehrmechanismus, den jeder Mensch von Zeit zu Zeit nutzt.»
Durch die Analyse von allen weltweit verfügbaren Einzelereignissen, die das Auftreten von Krankheiten wie Krebs, Herz-, Kreislauferkrankungen, Asthma oder Diabetes im Zusammenhang mit Veränderungstendenzen untersucht hatten, stiessen die Forschenden auf entsprechende Ergebnisse.
Represser und ihre Reaktionen
Menschen, die ihre Gefühle unterdrücken, werden in der Studie «Represser» genannt: «Setzt man Represser psychischem Stress aus, so zeigen sie heftige körperliche Angstreaktionen, wie Schwitzen oder einen beschleunigten Puls.» Auch im Vergleich zu ‹Nicht-Repressern› reagieren sie häufig stärker.
Der Umgang mit Emotionen
Im Alltag werden Emotionen (aus dem Lateinischen «ex movere» für «herausbewegen») oft in positive und negative eingeteilt. Während negative Emotionen, wie Traurigkeit, unerwünscht sind, weil sie uns Energie entziehen, sind positive Emotionen, zum Beispiel Freude, erwünscht. Eine solche Wahrnehmung übersieht die psychische Funktion von Emotionen. Denn Emotionen sind nicht von Natur aus gut oder schlecht, sondern haben immer einen Sinn und sind darum wichtig. Als komplexe, prozesshafte Reaktionen auf Ereignisse mobilisieren sie Kräfte, die uns in Richtung unserer Bedürfnisse bewegen.
Gemäss Forschungsergebnissen geht es Menschen insgesamt besser, wenn sie ihre unangenehmen Emotionen beachten und als normal anerkennen, anstatt sie zu unterdrücken. Die Daseinsberechtigung aller Emotionen im Sinn eines «Sowohl-als-Auch» trägt wesentlich zur psychischen Gesundheit bei und wird in der Notfallpsychologie eingesetzt.
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Um Emotionen regulieren zu können, müssen sich Kinder und Jugendliche zuerst mit ihnen auseinandersetzen. Das bedingt, dass sie ein Vokabular für die Gefühle entwickeln. Eltern können sie darin unterstützen, indem sie Gefühle immer wieder in Worte fassen.
Reden Sie viel über Gefühle. Benennen Sie sowohl Ihre Empfindungen wie auch jene Ihres Kindes. Sprechen Sie darüber, was die Emotion ausgelöst hat. So kann Ihr Kind ein besseres Verständnis für seine eigenen Bedürfnisse und jene von anderen entwickeln. Wertschätzen Sie alle Emotionen. Signalisieren Sie, dass es in Ordnung ist, unangenehme Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Frust oder Scham zu empfinden. Begleiten Sie Ihr Kind, wenn es emotional überfordert ist. Seien Sie für Ihr Kind da, indem Sie Trost spenden, beruhigen oder einen Blitzableiter für seine Wut anbieten.
Alternativen zur Unterdrückung
Obwohl die Forschungsbeiträge dafür sprechen, dass man seinen Gefühlen freien Lauf lassen sollte, eignet sich ein entsprechendes Verhalten nicht in allen Situationen: Unter Umständen kann sich das auch negativ und hemmend auf die Beziehungsbildung oder das Berufsleben auswirken. Aus diesem Grund kann es auch schon hilfreich sein, in einem geschützten Rahmen über die eigenen Gefühle zu sprechen. Dass das eine positive Wirkung hat, zeigt unter anderem auch der Erfolg der Psychotherapie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Es ist sicher ratsam, im Kreise der Familie offen über Gefühle zu sprechen, wenn die Verhältnisse das erlauben. Gefühle zu zeigen heisst aber nicht, einfach immer emotional werden zu müssen, sondern seinem gegenüber auch zuhören zu können und das Gegenüber am Innenleben teilhaben zu lassen, so dass man einander besser versteht.
Der wichtigste erste Schritt besteht darin, einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen, diese wirklich zu fühlen und die aufgestaute emotionale Ladung in einem sicheren Umfeld abzubauen. In einem zweiten Schritt kannst Du anfangen, die Wurzeln der Wut (Traumata, Glaubenssätze etc.) aufzuarbeiten, um die Schaltkreise zwischen Emotion, Körper und Glaubenssatz zu verändern.
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Die Rolle von Überzeugungen über Emotionen
Ausgehend von der Tatsache, dass jede Person im Verlauf ihres Lebens eine eigene Theorie darüber entwickelt, wie sehr sie ihre Gefühle kontrollieren kann, haben die Forschenden Brett Ford, Sandy Lwi, Amy Gentzler, Benjamin Hankin und Iris Mauss die folgende Fragestellung formuliert: Unterscheiden sich Personen, die glauben, dass Emotionen nicht kontrolliert werden können von solchen Personen, die glauben, dass Emotionen kontrolliert werden können hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit?
Das Argument der Forschenden ist, dass Personen, die Emotionen als unwiderruflich ansehen, auch allgemein weniger Strategien verwenden, die darauf abzielen, das eigene emotionale Erleben zu verändern (sogenannte Neubewertungs-Strategien). Hingegen sollten Personen, die Emotionen als kontrollierbar ansehen, öfters von solchen Strategien zur Veränderung des emotionalen Erlebens Gebrauch machen. Allerdings sollten sich die Personen jedoch nicht darin unterscheiden, wie häufig sie Strategien anwenden, die darauf abzielen, emotionale Konsequenzen zu unterdrücken (sogenannte Unterdrückungs-Strategien).
Aus der Forschung ist bereits bekannt, dass Neubewertungs-Strategien wie beispielsweise das positive Umdeuten einer stressigen Situation einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit haben können. Andererseits können Unterdrückungs-Strategien wie beispielsweise das Unterlassen eines zornigen Gesichtsausdrucks einen negativen Effekt auf die psychische Gesundheit haben.
Auf dieser Grundlage stellten die Forschenden die folgende Hypothese auf: Personen, die glauben, dass Emotionen kontrollierbar sind, sind im Mittel psychisch gesünder als Personen, die glauben, dass Emotionen unwiderruflich sind.
Um diese Hypothese empirisch zu untersuchen, baten die Forschenden 223 AmerikanerInnen im Alter zwischen 21 und 60 Jahren anzugeben, wie sehr sie daran glauben, dass ihre Emotionen unwiderruflich sind (z.B. „Ganz egal, wie sehr man es auch versucht, kann man seine Emotionen nicht ändern“ oder „In Wahrheit haben Menschen sehr wenig Kontrolle über ihre Emotionen“). Die Stärke der Zustimmung wurde auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 7 (stimme völlig zu) gemessen. Anschliessend begleiteten die Forschenden die Teilnehmenden 14 Tage lang in ihrem Alltag. Die Personen gaben an jedem Abend an, ob in den letzten 24 Stunden ein stressiges Ereignis stattgefunden hatte, und wenn ja, wie sehr sie als Antwort darauf von Neubewertungs- und Unterdrückungs-Strategien Gebrauch gemacht hatten (z.B. „Haben Sie über eventuelle positive Auswirkungen dieses Ereignisses nachgedacht?“ oder „Haben Sie versucht, zu verheimlichen, wie Sie sich dabei gefühlt haben?“).
Die Ergebnisse bestätigen die Hypothese der Autoren: Personen, die glauben, dass Emotionen unwiderruflich sind, machten in ihrem Alltag weniger Gebrauch von Neubewertungs-Strategien als Personen, die glauben, dass Emotionen kontrollierbar sind. Die Personen unterschieden sich allerdings nicht in ihrem Gebrauch von Unterdrückungs-Strategien.
In einer Follow-up-Studie mit amerikanischen Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren fanden die Autoren ausserdem Evidenz für den vermuteten Zusammenhang zwischen Emotionseinstellungen und psychischer Gesundheit: Jugendliche, die glauben, dass ihre Emotionen unwiderruflich sind, berichteten im Mittel über mehr depressive Symptome als Jugendliche, die glauben, dass Emotionen kontrollierbar sind. Dieser Zusammenhang konnte durch den Gebrauch von Neubewertungs-Strategien erklärt werden.
Diese Reihe von Studien zeigt schön auf, was man in der Psychologie schon lange annimmt: Jede Person kann ihr eigenes Erleben und Verhalten zumindest teilweise durch die eigenen Einstellungen und Handlungen mitbeeinflussen. Ihre persönliche Überzeugung davon, wie viel Einfluss Sie auf psychologische Prozesse wie beispielsweise Ihre Emotionen nehmen können, kann sich also sowohl kurzfristig als auch längerfristig auf Ihre psychische Gesundheit auswirken. Lassen Sie also nicht jemand anderes diese wichtige Frage für Sie beantworten.
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