Borderline-Persönlichkeitsstörung und Kriminalität

Die Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin ist tief in das Verständnis von Kriminalität, deren Ursachen und deren Folgen verankert. Sie vereint Elemente aus der Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft und der Kriminalistik, um ein umfassendes Bild von Verbrechen und Kriminalität zu zeichnen.

Definition und Reichweite der Kriminologie

Die Kriminologie untersucht Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen. Neben der Analyse individueller Straftäterpersönlichkeiten liegt der Fokus insbesondere auf den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die zur Entstehung von Kriminalität beitragen.

Ein besonders wichtiges juristisches Fundament hierfür bietet Art. 1 StGB, der als Grundlage für das Legalitätsprinzip im schweizerischen Strafrecht gilt und die Voraussetzung für Strafbarkeit definiert.

Kriminalität und Gesellschaft: Ein soziologischer Ansatz

Kriminalität tritt selten isoliert auf. Sie ist vielmehr das Produkt eines komplexen Zusammenspiels sozialer Faktoren. So beschreibt die Anomietheorie von Robert K. Merton, wie gesellschaftlicher Druck zu deviantem Verhalten führen kann. Menschen, die den sozialen Erwartungen nicht gerecht werden, könnten eher kriminelle Handlungen begehen, um ihre Ziele zu erreichen.

Ein Beispiel für die Bedeutung sozialer Faktoren findet sich in BGE 128 IV 53, wo das Bundesgericht den Einfluss sozialer Randbedingungen auf die Delinquenz Jugendlicher betonte. Hierbei wird deutlich, dass Jugendkriminalität oft mit sozialer Ausgrenzung und fehlenden Perspektiven zusammenhängt.

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Psychologische Aspekte der Kriminologie

Neben soziologischen Aspekten spielen auch psychologische Faktoren eine wesentliche Rolle in der Kriminologie. Die Theorien zur Täterpersönlichkeit beschäftigen sich mit der Frage, warum bestimmte Individuen eher zur Kriminalität neigen als andere. Dabei kommen Konzepte wie die Psychoanalyse von Sigmund Freud zum Tragen, die innere Konflikte als Triebfeder für abweichendes Verhalten beschreibt.

Ein klassisches Fallbeispiel im schweizerischen Recht, bei dem die psychologische Verfassung des Täters eine Rolle spielt, ist BGE 136 IV 55, wo ein Täter aufgrund einer schweren Persönlichkeitsstörung milder bestraft wurde. Diese Entscheidung betont die Bedeutung des psychischen Zustands des Täters im Rahmen der Strafzumessung.

Persönlichkeitsstörungen und Kriminalität

In der Kriminologie und Psychologie spielen Persönlichkeitsstörungen eine wesentliche Rolle, insbesondere wenn es um die Analyse des Täterverhaltens geht. Hierbei wird zwischen normalen und pathologischen Persönlichkeitsformen unterschieden, die potenziell kriminelle Handlungen beeinflussen können.

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) ist gekennzeichnet durch ein übersteigertes Selbstwertgefühl, mangelndes Einfühlungsvermögen und ein starkes Bedürfnis nach Bewunderung. Menschen mit narzisstischen Tendenzen begehen oft Straftaten, um ihren Status zu verbessern oder ihr Ego zu bestätigen. Häufig finden sich narzisstische Täter im Bereich der Wirtschaftskriminalität und des Betrugs, da sie dazu neigen, andere für ihre eigenen Vorteile zu manipulieren.

In BGE 142 IV 89 wurde ein Täter mit narzisstischen Tendenzen strafrechtlich verurteilt, wobei das Gericht die mangelnde Empathie und die Selbstüberhöhung des Täters berücksichtigte.

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Es ist entscheidend zu betonen, dass narzisstische Persönlichkeitszüge nicht automatisch zu kriminellem Verhalten führen. Viele Menschen, einschließlich bedeutender Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft oder Kunst, weisen narzisstische Züge auf, die sich in einem gesunden Maß äußern und ihnen dabei helfen, erfolgreich zu sein und Führungspositionen zu übernehmen. In der Psychologie und Kriminologie ist der entscheidende Faktor nicht das Vorhandensein narzisstischer Merkmale an sich, sondern das Ausmaß und die Art, wie diese sich manifestieren.

Gesunde narzisstische Eigenschaften können zum Beispiel Selbstbewusstsein, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen fördern, ohne dass diese Merkmale in einer destruktiven Weise wirken. In vielen Fällen tragen sie sogar positiv zur Karriere und zur gesellschaftlichen Stellung bei. Problematisch wird es erst, wenn diese narzisstischen Züge in pathologischem Ausmaß auftreten, wo sie in Aggressivität, ein mangelndes Einfühlungsvermögen und Gewalt münden.

Pathologischer Narzissmus zeichnet sich durch ein extremes Bedürfnis nach Bewunderung, Machtstreben und eine Missachtung der Rechte anderer aus. Nur wenn diese Merkmale außer Kontrolle geraten und das Leben des Betroffenen oder seiner Mitmenschen beeinträchtigen, kann es zu deliktischem Verhalten kommen.

Es ist daher entscheidend, zwischen einem normalen narzisstischen Charakterzug, der häufig bei Führungspersönlichkeiten zu finden ist, und einer pathologischen narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu differenzieren. Nicht jeder Narzisst wird gewalttätig oder kriminell, und es bedarf der genauen Abwägung, ob und in welchem Ausmaß eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, bevor diese als strafmildernder oder -verschärfender Faktor in Betracht gezogen wird.

Antisoziale Persönlichkeitsstörung (Soziopathie/Psychopathie)

Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung (APD), oft als Soziopathie oder Psychopathie bezeichnet, ist eine der häufigsten Persönlichkeitsstörungen, die mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird. Menschen mit APD zeigen Missachtung sozialer Normen, mangelndes Schuldbewusstsein und eine Neigung zu impulsivem und aggressivem Verhalten. Insbesondere bei Gewaltverbrechen und Wiederholungstätern spielen diese Persönlichkeitszüge eine bedeutende Rolle.

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Der Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) von Robert Hare wird häufig verwendet, um psychopathische Merkmale bei Straftätern zu diagnostizieren. Ein Beispiel für die juristische Relevanz von APD ist BGE 136 IV 55, wo eine schwere antisoziale Persönlichkeitsstörung zur teilweisen Schuldfähigkeit des Täters führte.

Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist durch emotionale Instabilität und Impulsivität geprägt. Menschen mit BPS begehen oft Straftaten in Phasen starker emotionaler Belastung. Häufige Delikte sind häusliche Gewalt oder impulsive Sachbeschädigungen.

Im Fall BGE 140 IV 136 wurde die emotionale Instabilität einer Person mit Borderline-Störung bei der Strafzumessung berücksichtigt, was die Bedeutung des psychischen Zustands unterstreicht.

Ein Beispiel aus der Schweizerischen Gerichtspraxis zeigt den Umgang mit einer Gewalttäterin, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Das Zuger Strafgericht verurteilte eine 20-jährige Frau wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Die Frau hatte einen Bekannten mit einem Messer und einen Polizisten mit einem Schlagstock verletzt. Das Gericht erkannte aufgrund der Krankheit der Beschuldigten eine verminderte Schuldfähigkeit an und ordnete die Fortsetzung einer ambulanten Therapie im vorgezogenen Strafvollzug an.

Ein weiterer Fall vor dem Bezirksgericht Winterthur betraf eine 32-jährige Frau mit Borderline-Syndrom, die eine Vergewaltigung erfand. Sie wurde wegen Irreführung der Rechtspflege zu einer 15-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die zugunsten einer ambulanten Therapie aufgeschoben wurde. Das Gericht berücksichtigte die Borderline-Störung der Frau, sah sie jedoch als voll schuldfähig an, da sie vorsätzlich und wissentlich handelte.

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Die Zwanghafte Persönlichkeitsstörung (OCD) ist durch ein übertriebenes Bedürfnis nach Kontrolle, Ordnung und Perfektionismus gekennzeichnet. Zwanghafte Täter werden selten gewalttätig, jedoch können ihre rigiden Denkweisen sie zu Wirtschaftsverbrechen oder Unterschlagungen treiben.

Normale Persönlichkeitsstrukturen und kriminelles Verhalten

Nicht jede Straftat ist das Ergebnis einer Persönlichkeitsstörung. Auch Menschen mit normalen Persönlichkeitsstrukturen können unter bestimmten Bedingungen kriminelle Handlungen begehen, insbesondere in Situationen mit großem Stress oder sozialen Konflikten. Das berühmte Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo zeigt, wie schnell normale Menschen unter bestimmten Umständen abweichendes Verhalten zeigen können.

Prävention und Bekämpfung von Kriminalität

Ein zentrales Thema der Kriminologie ist die Prävention von Straftaten. Neben repressiven Maßnahmen wie Strafen stehen präventive Ansätze im Vordergrund, die darauf abzielen, kriminellen Handlungen vorzubeugen. Ein prominenter Ansatz ist die Restorative Justice, die in der Schweiz besonders im Jugendstrafrecht angewendet wird.

In BGE 143 IV 1 wird das Prinzip der Wiedergutmachung betont, das den Täter zur Verantwortung zieht und die Opfer einbezieht.

Internationale Perspektiven: Kriminologie im globalen Kontext

Mit der zunehmenden Globalisierung nimmt auch die internationale Kriminologie an Bedeutung zu. Themen wie Menschenhandel, organisierte Kriminalität und Cyberkriminalität erfordern neue Ansätze und rechtliche Instrumente. Internationale Abkommen, wie die UN-Konvention gegen Transnationale Organisierte Kriminalität (UNTOC), sind entscheidende Werkzeuge, um diese globalen Probleme zu bekämpfen.

Das Jugend- bzw. junge Erwachsenenalter ist das Alterssegment mit der höchsten Kriminalitätsbelastung. Gleichzeitig besteht aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Prozesses des Erwachsenwerdens noch grosses Entwicklungspotential. Im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter ansetzende Massnahmen können daher einen effektiveren Beitrag zur Verhinderung schwerwiegender Delikte leisten, als dies bei älteren Personengruppen der Fall ist.

Die Massnahme für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB ist auf die besonderen Bedürfnisse dieses Transitionsalters ausgerichtet. Ihre Anordnung setzt voraus, dass die verurteilte Person zum Tatzeitpunkt zwischen 18 und 25 Jahre alt ist und in ihrer «Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört» ist. Weiter müssen die Taten im kausalen Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklungsstörung stehen und durch die Massnahme muss der Gefahr weiterer Delikte begegnet werden können.

Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, welche Eigenschaften für Personen mit einer Massnahme nach Art. 61 StGB hinsichtlich Demografie, Delinquenz und gutachterlicher Beurteilung (inklusive psychiatrischer Störung) charakteristisch sind. Als Vergleichsgruppe wurden junge Erwachsene beigezogen, bei denen im Alter zwischen 18-25 Jahren eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB angeordnet wurde. Es wurde untersucht, ob bzw. wie sich Personen in Massnahmen nach Art. 61 StGB und 63 StGB in Bezug auf die soziodemografischen Daten, kriminelle Vorbelastung, allfällige frühere Massnahmen sowie in Bezug auf die im Anlassurteil abgeurteilten Straftaten, Strafhöhe, Schuldfähigkeit, Diagnostik und Risikoeinschätzung unterscheiden.

Die Stichprobe umfasste junge Erwachsene, bei welchen im Kanton Zürich von 2007 bis 2020 eine Massnahme nach Art. 61 StGB vorsorglich oder rechtskräftig angeordnet wurde. Durch die Analyse der (rechtskräftigen) Urteile wurden Daten zu soziodemografischen Merkmalen, Anlassdelinquenz für die Massnahme, Beurteilung der Schuldfähigkeit sowie jugendstrafrechtlichen Vorgeschichten erhoben. Die Indikationsgutachten wurden in Bezug auf die formale Qualität, auf die gestellten ICD-10-Diagnosen und auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit hin analysiert. Es wurde weiter erfasst, mit welchen Instrumenten die Reifebeurteilung vorgenommen wurde, ob eine Reifestörung, ein Entwicklungsrückstand oder eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung festgestellt wurde, wie das Rückfallrisiko quantifiziert wurde und welche Massnahmen empfohlen wurden.

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