Voraussetzungen für die Erwerbsminderungsrente bei bipolarer Störung

Die Invalidenversicherung (IV) ist zuständig, wenn man wegen eines gesundheitlichen Problems voraussichtlich längerfristig nicht (mehr) arbeiten kann oder nach der Schule noch gar nie eine Arbeit gefunden hat. Ansonsten ist die Arbeitslosenversicherung zuständig.

Rechtliche Grundlagen und Voraussetzungen

Nach Art. 28 Abs. 1 IVG hat Anspruch auf eine Invalidenrente, wer:

  • seine Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen,Invalidität ist (Art. 8 ATSG).
  • wegen Invalidität voraussichtlich dauernd oder längere Zeit nicht in der Lage ist, durch zumutbare Arbeit seinen Lebensbedarf ganz oder teilweise zu decken,
  • entweder während eines Jahres durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen sind (lit. a) oder seit der Entstehung der Invalidität während eines Jahres durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen sind (lit. b)

Gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG hat derjenige Anspruch auf eine Dreiviertelsrente, wenn sie mindestens 60 % invalid ist.

Als Invalidität gilt nach Art. 4 IVG die durch einen Gesundheitsschaden verursachte Erwerbsunfähigkeit oder Unfähigkeit, sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen. Sie kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 IVG).

Abklärung der Invalidität

Die IV-Stelle hat von Amtes wegen festzustellen, ob ein Anspruch auf Versicherungsleistungen besteht und in welchem Umfang (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Dies setzt eine umfassende medizinische Abklärung voraus, um Art und Ausmass der gesundheitlichen Beeinträchtigung sowie deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit zu beurteilen.

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Psychische Krankheiten sind selten sichtbar oder mit Bildern zu beweisen. Anders als beispielsweise ein Beinbruch. Deshalb holt die IV-Stelle fast immer ein psychiatrisches Gutachten ein, bevor sie über die Ausrichtung einer Rente entscheidet. Bei einem psychiatrischen Gutachten besteht als Beweismittel oft «nur» das Gespräch. Es liegen keine Bilder und keine oder wenige Laborwerte vor. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die IV-Stelle, die betroffene Person, ihre Rechtsvertretung und im Beschwerdefall das Gericht überprüfen können, was genau und wie etwas gesagt wurde. Diese Überprüfung ist seit 2022 möglich, da die Gutachtengespräche aufgezeichnet werden müssen. Die Unabhängigkeit und Qualität der Gutachten ist oft nicht gegeben. Es gibt viele Gutachter*innen, welche nicht sorgfältig arbeiten und wirtschaftlich abhängig von den Aufträgen der IV-Stellen sind.

Seit 2022 gibt es die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB). Diese kontrolliert die Gutachterstellen. Das Bundesgericht hat ab 2015 bei psychischen Erkrankungen schrittweise das strukturierte Beweisverfahren eingeführt. Dieses dient der Invalidenversicherung (IV) dazu, den Anspruch der Versicherten auf eine IV-Rente zu prüfen. Weil die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit schwieriger nachweisbar sind als bei somatischen Gebrechen, beurteilen die IV-Stellen die Arbeitsfähigkeit anhand von Indikatoren.

Diese umfassen einerseits die Schwere der gesundheitlichen Schädigung, die Persönlichkeit und den sozialen Kontext der versicherten Person und deren Zusammenwirken. Und andererseits betrachten sie das Verhalten der Versicherten im Alltag, in Therapien und während der Eingliederungsbemühungen (sogenannte Konsistenz; siehe BSV 2024: Anhang 1).Mit dem strukturierten Beweisverfahren liess das Bundesgericht zudem die Prämisse fallen, dass bestimmte psychische Krankheiten gar nicht oder nur ausnahmsweise invalidisierend sein können.Paradigmenwechsel ab 2015Zunächst führte das Bundesgericht das strukturierte Beweisverfahren im Jahr 2015 nur bei psychosomatischen Leiden ein (BGE 141 V 281). Davor war die IV bei psychosomatischen Erkrankungen von der Vermutung ausgegangen, dass diese nur ausnahmsweise zur Invalidität führen, weil sie grundsätzlich therapierbar sind (Überwindbarkeitsvermutung). Zwei Jahre später weitete das Bundesgericht das strukturierte Beweisverfahren auf alle psychischen Erkrankungen aus (BGE 143 V 409). Zudem war nun bei leichten bis mittelschweren Depressionen die Therapieresistenz keine zwingende Voraussetzung mehr für die nähere Prüfung eines Rentenanspruchs (BGE 143 V 418).Im Jahr 2019 anerkannte das Bundesgericht schliesslich, dass es sich auch bei Sucht um ein «krankheitswertiges Geschehen» handle (BGE 145 V 215). Damit kommt seither das strukturierte Beweisverfahren auch bei Suchterkrankungen zum Einsatz. Zuvor war Sucht in der IV nur relevant, wenn sie invalidisierende Krankheiten oder einen Unfall verursachte oder umgekehrt, infolge einer Krankheit entstand.

Die Befragten erleben die Abklärung der Arbeitsfähigkeit als aufwendiger, aber besser strukturiert.Insgesamt haben die Rechtsänderungen zu ergebnisoffeneren Abklärungen und besser nachvollziehbaren Entscheiden beigetragen. Wenngleich IV-externe Befragte teils eine zu mechanische Anwendung der Indikatoren bemängeln, fällt die IV den Erfahrungen der Befragten zufolge - insbesondere bei Suchterkrankungen, aber auch bei psychosomatischen Erkrankungen und leichten bis mittelschweren Depressionen - insgesamt angemessenere Entscheide als zuvor. Den Grund dafür sehen die Befragten darin, dass der Zugang zur vertieften Rentenprüfung nicht mehr aufgrund der Diagnose ausgeschlossen oder erschwert wird.

Beweiswürdigung

Im Rahmen der Beweiswürdigung sind alle relevanten Beweismittel umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (Art. 61 lit. c ATSG). Dabei ist zu prüfen, ob die vorliegenden medizinischen Gutachten schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei sind. Bei Gutachten, die nach der revidierten Rechtsprechung (BGE 141 V 281) erstellt wurden und die Standardindikatoren berücksichtigen, ist grundsätzlich von einem hohen Beweiswert auszugehen.

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Die Prüfung der Konsistenz ist anspruchsvoll. So ist es schwierig, aus den Aktivitäten in anderen Lebensbereichen wie etwa dem Haushalt oder der Freizeit Rückschlüsse auf die Arbeitsfähigkeit zu ziehen. Zudem ist es manchmal nicht einfach zu objektivieren, ob eine ungenügende Teilnahme an einer Therapie oder Eingliederung die Folge eines geringen Leidensdrucks oder Teil des Krankheitsbildes ist.

Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit

Bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist zu berücksichtigen, in welchem Umfang die versicherte Person trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung in der Lage ist, einer zumutbaren Arbeit nachzugehen. Dabei sind sowohl die Art und Schwere der Erkrankung als auch die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen der versicherten Person zu berücksichtigen. Auch ist zu prüfen, ob eine Anpassung des Arbeitsplatzes oder andere Massnahmen geeignet sind, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern.

Es scheint plausibel, dass die untersuchten Rechtsänderungen und die damit verbundene ergebnisoffenere Rentenprüfung seit 2015 die Wahrscheinlichkeit für eine IV-Rente bei psychischen Erkrankungen erhöht haben. Darauf deutet die überproportionale Zunahme der psychischen Neurenten hin. Ein statistischer Nachweis, dass die Zunahme kausal mit den rechtlichen Änderungen in Zusammenhang steht, kann jedoch nicht erbracht werden. Dies, weil in den Daten weder Informationen zur Umsetzung des strukturierten Beweisverfahrens zur Verfügung stehen, noch die im Vordergrund stehenden Rentenzusprachen aufgrund von psychosomatischen Gebrechen und Depressionen verlässlich identifiziert werden können.

Fallbeispiele und Gerichtsurteile

Die angeführten Fallbeispiele und Gerichtsurteile illustrieren die Komplexität der Beurteilung von Invaliditätsansprüchen bei bipolarer Störung. Sie zeigen, dass eine umfassende medizinische Abklärung und eine sorgfältige Beweiswürdigung unerlässlich sind, um zu einer gerechten Entscheidung zu gelangen.

Ein Versicherter meldete sich im Februar 2017 für berufliche Massnahmen und Rentenleistungen bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen an. Im Austrittsbericht vom 6. November 2017 wurden als Diagnosen eine bipolare affektive Störung (bei Eintritt leichte oder mittelgradige depressive Episode), Störungen durch Alkohol: schädlicher Gebrauch, anamnestisch Störungen durch Kokain: schädlicher Gebrauch, und Störungen durch Cannabinoide: Abhängigkeitssyndrom: Mit ständigem Substanzgebrauch genannt.

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Weiter wurde von den behandelnden Ärzten festgehalten, dass der Versicherte Mühe bekundet habe, sich auf die Therapie einzulassen, wobei gerade in der Abschlussphase eine fehlende Krankheitseinsicht im Vordergrund gestanden habe. Im weiteren Verlauf habe sich neben einer unzureichenden medikamentösen Adhärenz (der Versicherte habe jegliche Medikation abgelehnt) und den deutlichen Grössenideen eine eingeschränkte Selbstreflexionsfähigkeit gezeigt, was die Therapiefähigkeit zusätzlich begrenzt habe.

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