Autismus und Sprachentwicklung: Eine detaillierte Betrachtung

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat in den vergangenen Jahren auch für die Entwicklungspädiatrie zunehmend an Bedeutung gewonnen. So werden immer mehr Kinder schon früh mit der Fragestellung nach einer möglichen Autismus-Spektrum-Störung zugewiesen. Insbesondere bei den kleinen Kindern stehen neben den Verhaltensauffälligkeiten häufig noch weitere Entwicklungsauffälligkeiten in den Bereichen Sprache, motorische Entwicklung, kognitive Entwicklung sowie dem Schlaf- und Essverhalten im Vordergrund.

Von den Eltern wird häufig die grösste Sorge bezüglich der fehlenden oder mangelnden Sprachentwicklung beschrieben. Zur Förderung der Entwicklung der Kinder sind eine möglichst frühe passende Intervention und somit auch eine frühzeitige Diagnostik sinnvoll. Der aktuell vom Bundesrat herausgegebene Bericht zur Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit ASS in der Schweiz betont die Notwendigkeit einer frühzeitigen, korrekten Diagnosestellung, um rechtzeitig angemessene Förderangebote zu vermitteln.

In der genannten Erhebung im Kanton Zürich konnte gezeigt werden, dass bei den im Vorschulalter diagnostizierten Kindern durchschnittlich 1,9 Jahre zwischen den ersten von den Eltern beobachteten Auffälligkeiten und der späteren Diagnosestellung lagen. Das Alter der Kinder, in welchem die Eltern erste Auffälligkeiten beschrieben, lag dabei zwischen 0,5 und 4,5 Jahren. Um die Zeitspanne zwischen den ersten Symptomen und der Diagnosestellung möglichst klein zu halten, erscheint ein frühes Erfassen möglicher elterlicher Sorgen durch den Kinderarzt im Rahmen der regulären Vorsorgeuntersuchungen wichtig.

Während die ‚American Academy of Pediatrics‘ den Einsatz standardisierter Screeninginstrumente wie die «Modified Checklist for Autism in Toddlers revised» (M-CHAT-R) für alle Kinder bei der 2-Jahres-Untersuchung empfiehlt, weisen Vllasaliu et al. in einem Übersichtsartikel zu den aktuellen deutschen S3-Leitlinien darauf hin, dass diese - wie auch die schottischen SIGN-2011 und die britischen NICE-Leitlinien-2012 - den Einsatz der vorhandenen Screeninginstrumente wie den M-CHAT-R-Fragebogen aufgrund der hohen Raten falsch-positiver und falsch-negativer Ergebnisse und der niedrigen Populationsprävalenz nicht standardmässig, sondern nur bei Vorliegen entsprechender Risikofaktoren und hinweisender Symptome empfehlen.

Eine aktuelle Umfrage, an der sich 54% der Kinderärzte im Kanton Zürich beteiligten, ging der Frage nach wie regelmässig auf Autismus hinweisende Symptome anlässlich der Vorsorgeuntersuchungen erhoben werden. Fragen zur Kommunikation und sozialen Interaktion kommen dabei in unterschiedlicher Häufigkeit zum Einsatz. So gaben 98% an, sich bei den 4-monatigen Kindern gezielt nach deren Blickverhalten zu erkundigen, während nur etwa 39% bei den 24-monatigen Kindern Fragen zum prinzipiellen Interesse an anderen Kindern stellen. Bei anamnestischen Hinweisen setzen 21% dann das Screeninginstrument M-CHAT-R ein, um standardisiert die bereits in diesem Alter erkennbaren und für ASS typischen Verhaltensweisen zu erfassen.

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Bei auffälligem Screening empfiehlt die deutsche Leitliniengesellschaft die Weiterleitung an eine auf ASS spezialisierte Stelle zur Durchführung einer umfassenden Diagnostik. Diese beinhaltet nach aktuellem Goldstandard die Erhebung der anamnestischen Daten möglichst im Rahmen eines standardisierten Interviews (autism diagnostic interview revised, ADI-R), eine direkte Verhaltensbeobachtung (autism diagnostic observation schedule, ADOS-2) und eine differenzierte Entwicklungsdiagnostik. Für die direkte Verhaltensbeobachtung bietet der ADOS-2 mit dem Kleinkindmodul die Möglichkeit, bereits sehr früh (im Alter zwischen 12 und 30 Monaten) den Verdacht auf das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung zu gewichten. Zwaigenbaum und Kollegen konnten zeigen, dass insbesondere die autistischen Kinder mit ausgeprägten Sprachschwierigkeiten bereits vor dem Alter von 3 Jahren diagnostiziert werden konnten.

Therapeutische Ansätze

Der Zugang über die kindliche Entwicklung spielt auch im Bereich der Therapie autistischer Kinder eine zentrale Rolle. So kommen neben den etablierten verhaltenstherapeutischen Massnahmen (EIBI - early intensive behavioral interventions) vermehrt entwicklungsbasierte Ansätze (IDI - intensive developmental interventions) zum Einsatz. Auf die beispielsweise bereits im Artikel von Studer 2017 ausführlich beschriebenen verhaltenstherapeutischen Ansätze soll hier nicht weiter eingegangen werden, sondern anhand eines Beispiels ein entwicklungsbasierter Ansatz näher erläutert werden.

Das von Serena Wieder und Stanley Greenspan entwickelte DIR (developmental individual difference relationship) ist ein Beispiel eines solchen entwicklungsbasierten Ansatzes. Mit der «Floortime»-Methode wird die Begegnung mit dem Kind genutzt, es zu begleiten und zu unterstützen. Dabei sind die Bezugspersonen (Eltern, Therapeuten) gefordert, den natürlichen Interessen des Kindes zu folgen. Diese können genutzt werden um, in dem vom Kind vorgegebenen Tempo, mit Unterstützung von Affekt-betonten verbalen Äusserungen und non-verbalen Mitteln als Spielpartner in eine wechselseitige, für das Kind bedeutungsvolle Beziehung zu kommen. Diese Beziehung sollte möglichst lange aufrechterhalten werden.

Zentrale Prämisse ist hier, dem Kind auf seinem individuellen Entwicklungsniveau, unter Berücksichtigung seiner individuellen Verarbeitungsfähigkeiten und Nutzen der Beziehung als Motivationsgrundlage, zu begegnen. Stanley Greenspan und Serena Wieder haben die verschiedenen Stufen der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes beschrieben und betonen, wie wichtig es ist, eine stabile Basis zu schaffen. Nur wenn es dem Kind gelingt, sich zu regulieren oder durch Co-Regulation in eine stabile Verfassung zu finden, so dass ein Interesse an der Umwelt entstehen kann, wird es möglich mit ihm eine Beziehung aufzubauen, in welcher sich das Kind sicher und geborgen fühlt. Eine Beziehung, die das Kind als bedeutungsvoll erlebt, ermöglicht es dem Kind sich zunehmend als selbstwirksam zu erleben und Strategien zu entwickeln, mit aufkommenden Problemen umzugehen.

Entstehende Kommunikationskreise können zunehmend ausgebaut werden, damit das Kind in positiv erlebten spielerischen Interaktionen seine sozial emotionalen Fähigkeiten ausweiten kann. Studer et al beschreiben in einem aktuellen Artikel, dass es für die früh diagnostizierten ASS Kinder in der Schweiz zu wenig spezifische Therapieangebote gibt. Mit dem FIAS (Frühintervention bei autistischen Störungen) im Kanton Basel sowie dem FIVTI (Frühe intensive verhaltenstherapeutische Intervention) im Kanton Zürich stehen in der Deutschschweiz sowohl ein entwicklungsorientiertes wie auch ein verhaltenstherapeutisches kantonsübergreifendes Intensivprogramm zur Verfügung, jedoch nur für eine sehr begrenzte Anzahl an Patienten und Familien.

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Es besteht ein fachlicher Konsens, dass nicht jede Intervention gleich gut zu jedem Kind und zu jeder Familie passt. Darum sollte individuell abgewogen werden können, welche Therapieform für das jeweilige Kind und seine Familie geeignet ist. Dazu müssten jedoch, wie vom Bundesrat gefordert, in jedem Fall die entsprechenden Therapieangebote ausgebaut werden, so dass eine flächendeckende Versorgung möglich wird. Die meisten autistischen Kinder im Vorschulbereich erhalten heilpädagogische Früherziehung, gegebenenfalls ergänzt durch eine logopädische Therapie. Studer betont, dass die Therapeuten auch heute noch nur wenig Erfahrung in der Behandlung autistischer Kinder haben.

Als vielversprechender Ansatz kann in diesem Zusammenhang der Kanton Luzern genannt werden; mit autistischen Kindern arbeiten dort Früherzieher/innen, welche eine Ausbildung in der DIR/Floortime-Methode erhalten haben. Die DIR/Floortime-Methode wie auch andere entwicklungsorientierte Ansätzen mit Fokus auf der Beziehungsgestaltung, bietet die Chance, die Eltern als aktive Partner mit einzubeziehen. Damit werden diese in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt, die emotionale Entwicklung ihrer Kinder zu fördern.

Unabhängig von den spezifischen Ansätzen der verhaltenstherapeutischen oder entwicklungsbasierten Therapieprogramme, welche sich jeweils als hilfreich erwiesen haben, gilt es dem entwicklungspädiatrischen Denken folgend, die Eltern darin zu bestärken, dem Kind auf seiner Entwicklungsebene zu begegnen, um dann mit viel Geduld und intensiver Beobachtung die Signale wahrzunehmen, welche vom Kind ausgehen. Diese kindlichen Signale können genutzt werden, um mit dem Kind in liebevoller Verbundenheit ein gemeinsames Miteinander entstehen zu lassen, zu gestalten und fortzuführen. Hierbei sind die Eltern als aktive Partner gefordert.

Etwa 2/3 der Kinder mit typischem Autismus fallen bereits in den ersten 6 Lebensmonaten aufgrund ihres gestörten Kommunikationsverhaltens auf. Sie zeigen keinen altersgerechten Blickkontakt, kein soziales Lächeln. Die Sprachentwicklung bleibt aus oder stagniert auf frühem Niveau. Bei den meisten Kindern bleibt die Ursache des Autismus trotz intensiver diagnostischer Abklärung unklar.

Sprachentwicklung und Wahrnehmung bei Autismus

Schwierigkeiten der Sprache und Kommunikation sind bei vielen Kindern im Autismus-Spektrum schon ab dem frühen Lebensalter präsent. Die Sprachentwicklung der Kinder unterliegt vielfältigen Einflüssen: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entwickeln sich anders als bei neurotypischen Kindern. Auch die Motivation und die soziale Kognition entwickeln sich anders. Um therapeutisch individuell und autismus-spezifisch vorzugehen, profitieren SprachtherapeutInnen von einem erweiterten Verständnis für das Sprachlernprofil ihrer autistischen PatientInnen.

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In diesem Kurs wird der gestaltbasierte Sprachentwicklungsstil beschrieben. Dieser Stil tritt besonders bei Kindern im Autismus-Spektrum gehäuft auf und ist durch das Verwenden von verzögerten Echolalien gekennzeichnet. Theoretische Grundlagen der gestaltbasierten Sprachentwicklung bilden die Basis dieses Kurses. Es gilt autismusspezifische Erwerbsstrategien zu erkennen und einzuordnen. In praxisnaher Arbeit werden Spontansprachanalysen durchgeführt und Ziele abgeleitet. Konkrete Handlungsempfehlungen und effektive Strategien für die Arbeit mit autistischen Kindern werden mithilfe von Videobeispielen vorgestellt.

Kinder mit frühkindlichem Autismus sind in vielen Bereichen stark beeinträchtigt: Ihre Sprachentwicklung ist verzögert, oft lernen betroffene Kinder kaum sprechen. Auch ihr soziales Verhalten und die Spielentwicklung sind eingeschränkt. Oft fallen den Eltern die ersten Symptome schon im Verlauf des zweiten Lebensjahres auf, in der Regel sind erste Probleme aber vor dem dritten Lebensjahr erkennbar. Anzeichen können sein, dass das Kind nicht auf den eigenen Namen hört oder keinen Blickkontakt sucht.

Grundsätzlich geht es darum, das Kind nach seinen Möglichkeiten zu fördern. Ein Kind mit einer autistischen Störung wird auch nach Therapieende Unterstützung benötigen. Es kann lediglich Fähigkeiten erwerben, die ihm den Alltag und den Umgang mit anderen Menschen erleichtern. Die zu erreichenden Fortschritte sind von Kind zu Kind verschieden.

Die Kinder haben je nach Kanton Anspruch auf zwei bis drei heilpädagogische Lektionen pro Woche. Die Diagnostik des Autismus erfolgt über eine sorgfältige Verhaltensbeurteilung. Dabei spielt der Bericht der Eltern, eine Rolle.

Autistische Wahrnehmung und Umgang mit sensorischen Reizen

Menschen aus dem Autismus-Spektrum verarbeiten Sinneseindrücke anders. Sie können über- oder unterempfindlich auf Lärm, Licht oder Gerüche reagieren. Viele Bilder, Geräusche, Gerüche können zu einem anschliessenden Shutdown enden. Im Fall der Überdeckung der Reize, die sie nicht beeinflussen können, kann es zu totalen Ausrastern kommen. Ein Shutdown ist ein völliger Rückzug, bei dem die Person nicht mehr ansprechbar ist.

Prävention ist dabei wichtig. Soziale Anforderungen stressen zusätzlich, daher sollten sie rechtzeitig die Möglichkeit zum Rückzug haben. Gerüche können Angst, Schmerz und weitere unangenehme Gefühle auslösen.

Es ist wichtig zu wissen, welche sensorischen Reize sie an verschiedenen Orten erwarten. Durch visuelle Unterstützung können Sie den Betroffenen helfen. Dämpfen Sie das grelles Licht. Sonnenbrillen können sinnvoll sein. Helfen Sie den Betroffenen, indem Sie das Gesagte visuell unterstützen. Kündigen Sie es vorher an, wenn Sie laute und überfüllte Plätze besuchen, und stellen Sie ihnen Ohrstöpsel und Kopfhörer zur Verfügung. Vermeiden Sie nach stark riechendem Essen soziale Kontakte.

Berührungen können für die Betroffenen schmerzhaft und unangenehm sein. Kündigen Sie Berührungen vorher an und gehen Sie immer von vorne auf sie zu (Vorhersehbarkeit).

Positionieren Sie die betroffene Person so, damit sie sich besser zurecht finden, und trainieren Sie mit ihr die Feinmotorik.

Kommunikation bei Autismus

Eine auffällige Sprache und Kommunikation gehört zur typischen Kernsymptomatik bei Menschen mit Autismus. Die Probleme in der Kommunikation gehen mit Schwierigkeiten im sozialen Bereich einher.

Beziehung und Emotionen stehen in den ersten Jahren im Vordergrund, gefolgt vom Wunsch zu kommunizieren und dem Interesse an neuen Informationen. Der Blickkontakt ist eine wichtige Voraussetzung für die Kommunikation. Absicht, etwas zu bekommen und etwas zu erreichen, muss beim Kind mit ASS vorhanden sein. Es ist wichtig, das Kind gut zu beobachten und sich zu merken, was es haben oder tun möchte. Wichtig ist, dass Kommunikation lustvoll ist und einen Nutzen bringt.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten des Lernens der Lautsprache, Schriftsprache, Gebärdensprache oder eines Bild-Kommunikationssystems. Entsprechend den Fähigkeiten des Kindes wird die geeignete Form der weiterführenden Kommunikation ausgewählt. Das «Fragestellen» kann im weiteren Verlauf der Förderung gezielt beigebracht werden.

«Sprachform» bezieht sich auf Mimik und Gestik. Menschen mit ASS haben Schwierigkeiten, feine Gesichtsbewegungen und Körperbewegungen zu lesen und zu interpretieren. Kommunikation verläuft aber auf dieser nonverbalen Ebene. Daher muss ihnen auch die «Sprache» beigebracht werden.

Zusammenhang von ADHS und Autismus

Überschneidungen, Kombinationen und Mischformen von ADHS und einer Autismus-Spektrum- Störung sind sehr häufig. Der Begriff ADHS wird im DSM-5 durch drei Symptomgruppen charakterisiert: Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Impulsivität.

Menschen mit Autismus haben ein erhöhtes Risiko, um an Epilepsie zu erkranken. Gewisse Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus, wie beispielsweise repetitive Verhaltensmuster oder das Anstarren von Dingen und Personen, können wie epileptische Anfälle wirken.

Tabelle typischer Auffälligkeiten bei Kindern mit ASS

AuffälligkeitBeschreibung
Fehlendes Initiieren sozialer InteraktionenKinder zeigen wenig Interesse an Kontakten zu anderen Menschen.
Mangelnder BlickkontaktVermeidung des Blickkontakts während der Interaktion.
Ungewöhnliche Reaktionen auf sensorische ReizeÜber- oder Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Licht, Geräuschen oder Berührungen.
ObjektbezogenheitStarkes Interesse an Objekten anstatt an Menschen.
Verzögerte/auffällige SprachentwicklungSpäte oder ungewöhnliche Sprachentwicklung.
Fehlendes imitatives bzw. nachahmendes VerhaltenWenig oder kein Interesse an der Nachahmung von Handlungen oder Verhaltensweisen anderer.

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