Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind kein neues Phänomen, aber die ätiologischen Konzepte haben sich entsprechend dem Zeitgeist, den gesellschaftlichen Strukturen und Forschungsergebnissen verändert. Lange ehe es den Begriff Autismus gab - er wurde 1911 vom Zürcher Erwachsenenpsychiater Eugen Bleuler geprägt -, gab es Menschen, die mit einer autistischen Struktur geboren wurden und lebten, in dieser spezifischen Weise dachten, handelten und den Alltag auf eine oft sehr spezielle Weise bewältigten.
Autismus-Spektrum-Störungen sind ein angeborenes Phänomen und nicht Folge der Erziehung. Es gibt allerdings förderliche und erschwerende familiäre Konstellationen. Es besteht zwar eine lebenslange Betroffenheit, aber Veränderung ist möglich.
Die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die Autismus-Spektrum-Störung auslösen. Eine Autismus-Spektrum-Störung entsteht nicht durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte.
Menschen mit ASS verfügen über eine andere Informationsverarbeitung, sie sehen, hören und fühlen die Welt anders als sogenannt neurotypische Menschen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Perspektivenübernahme, sich also in andere Menschen hineinzufühlen und adäquat mit ihnen zu kommunizieren. Zudem können sie die Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Gesicht schlecht erkennen und haben deswegen Mühe, soziale Situationen oder Ironie zu verstehen. Sie vermeiden deshalb oft Kontakte zu ihren Mitmenschen.
Die Rolle der Wahrnehmung bei Autismus
Weitere Ansätze stellen die sensorische Wahrnehmung und die Wahrnehmungsverarbeitung ins Zentrum, primär bei frühkindlichem Autismus. Zu nennen sind hier Félicie Affolter und Jean Ayres. Sie gehen von einer zentralen Wahrnehmungsstörung aus, bei der die Aufnahme von Wahrnehmungsimpulsen, die intermodale Verknüpfung und die Umsetzung in eine Handlung oder einen Handlungsablauf beeinträchtigt sind.
Lesen Sie auch: Alltag mit Autismus meistern
Es gibt allerdings noch eine weitere Kompensations- und Bewältigungsstrategie: Stimming. Unter Stimming werden selbst-stimulierende, repetitive oder stereotype Verhaltensweisen bezeichnet. Mein älterer Sohn beisst sich zur Bewältigung oftmals auf den rechten Zeigefinger. Das hilft ihm als selbstregulierendes Verhalten gegenüber einer viel zu intensiv erlebten Welt und schützt ihn vor Kontrollverlust.
Wie bereits erwähnt, gibt es die visuelle Stimulation durch Anstarren von Dolendeckel oder taktil mit sich auf den Finger beissen. Auch vestibulär, wie sich z.B. in den Schlaf schaukeln ist mir nicht unbekannt oder eben akustisch, indem dieselbe Aussage immer wieder wiederholt wird.
„Stimming, egal ob sozial adäquat oder nicht, erfüllt also überaus wichtige Funktionen. Es reduziert die Reizaufnahme und verhindert so einen sensorischen Overload. Erst mithilfe von Stimming ist es mir möglich, mich in Situationen mit anderen Menschen zu begeben.“ Gee Vero (2015, s.
Stimming als Bewältigungsstrategie
Lange Zeit wurde selbststimulierendes Verhalten als pathologisch und somit behandlungsbedürftig angeschaut. Jedoch verhalten sich längst nicht alle Personen im Autismus-Spektrum derart problematisch (Stimming gefährlich oder schmerzhaft); vielmehr dominieren atypische beziehungsweise ungewöhnliche, subjektiv bedeutsame Verhaltensweisen, nicht selten befördert durch erhöhte, basale Wahrnehmungsfähigkeit.
Da Stimming also aus dieser erhöhten basalen Wahrnehmungsfähigkeit resultiert, was letztlich eine grosse Begabung ist, gehört dieser Teil des Erlebens zu einem Menschen im Autismus-Spektrum dazu.
Lesen Sie auch: ABA-Therapie Ausbildung Schweiz
Das Modell der enhanced perceptional functioning zeigt auf, wie wichtig es ist, dass Stimming nicht mit erzieherischen und therapeutischen Mitteln unterdrückt wird und die funktionale Bedeutung verstanden.
Für Daniel Tammet ist Stimming eine Form autistischer Intelligenz. Die Erkenntnis, dass Stimming das Konzentrations- und Denkvermögen steigern kann, wird auch bei neurotypischen Kindern und dem Lernen genutzt. Allerdings ist Stimming dann kein Muss, wie es bei Autisten ja in einem angehenden Overload der Fall ist.
Und diese Intensität von Erleben, die ein Stimming nötig macht, kennen neurotypische Menschen in der Regel nicht. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass auch neurotypische Menschen in einer akuten Extremsituation wie Krieg, Missbrauch etc. auf diese Art reagieren können, wie es Menschen im Autismus-Spektrum schon in herausfordernden Alltagssituationen tun.
Manchmal kommen Eltern wahnsinnig unter Druck, weil sie doch konsequent sein sollten in ihrer Erziehung und gleichzeitig etwas anderes fühlen. Das Handeln sollte aber immer mit dem Prinzip der Liebe stimmig sein. So schreibt Naomi Aldort in ihrem Buch “Von der Erziehung zur Einfühlung”, dass man nie die Liebe ändern soll - sondern die Regeln. Darunter fallen unserer Erwartungen und Anforderungen ans Kind.
Stimming kann wirklich sehr bizarr wirken. Es zieht die Aufmerksamkeit rundherum auf sich. Manche Menschen stören sich vielleicht daran, weil es kein - auf den ersten Blick - angepasstes Verhalten ist und undefinierbare Gefühle auslöst wie Scham, Unsicherheit, Angst, Überforderung etc. Tant pis. Es ist wichtig, dass ich Stimming als Selbsthilfestrategie verstehe und den leisen Unmut rundherum aushalte. Ich will, dass es meinen Kindern gut geht.
Lesen Sie auch: Behandlungsmöglichkeiten bei Pica und Autismus
Nicht immer passt Stimming ins Programm des Kindergartens. Ich freue mich immer, wenn im Kindergarten und der Schule nach unkonventionellen Lösungen gesucht wird, um ein auf den ersten Blick unlösbares Thema - wie beispielsweise eben Stimming - anzugehen.
Tunnelblick und Spezialinteressen
“Während neurotypische Menschen in der Lage seien, sich auf viele Aktivitäten und Interessensgebiete gleichzeitig zu konzentrieren, ihr Aufmerksamkeit flexibel anzuwenden und zu verteilen (z.B. Konzentration auf das Wesentliche in einem Gespräch bei gleichzeitiger Beobachtung des Verhaltens des Gesprächspartners), würden Autist(inn)en hingegen ein breites Feld an Informationen ignorieren und nur wenige Interessen fokussieren - ein Phänomen, das als Tunnelblick beschrieben wird.” Georg Theunissen (2014, s.
“Diese Stärken sind zugleich Ausdruck eines Systematisierens, durch das Spezialinteressen, repetitives Verhalten, das sogenannte Stimming, Bedürfnisse nach Routine, Ordnung, Beibehaltung von Situationen oder Widerstände gegenüber Veränderungen erklärt werden.” Georg Theunissen (2014, s.
Systeme machen die Welt durchschaubar. Stimming gilt folglich auch als eines dieser Systeme, um die Welte zu verstehen.
Informationen im Ruhezustand
Während die Neurowissenschaft sich früher stark auf Hirnaktivitäten, die durch Reize ausgelöst werden, fokussiert hat, wurden spontane Reaktionen etwas weniger beachtet. Wie im Artikel “Information Gain in the Brain’s Resting State: A New Perspective on Autism” der 2013 in Frontiers in Neuroinformatics erschienen ist, hat sich diese Ansicht inzwischen geändert.
Das Gehirn ruht nie! Das Gehirn “produziert” also auch im Ruhezustand deutlich mehr Informationen. Ruhezustand bedeutet lediglich, dass man an nichts bestimmtes denkt. Bei dieser Studie konnte festgestellt werden, dass der Informationsgewinn bei Autisten 42% höher ist als bei neurotypischen Menschen (vgl. Perez, Velazquez & Galán, 2013).
“Das bedeutet, dass die Mikroschaltkreise auf Informationen schneller und intensiver reagieren, mehr aufnehmen und lernen sowie besser speichern, behalten und sich an Details genauer erinnern würden.” Georg Theunissen (2014, s. Er reagiert also nicht nur auf sensorische Reize heftiger, auch auf psychosoziale und sozioemotionale Stimuli.
Diagnostik und Herausforderungen
Für die Diagnosestellung ist eine klinische Untersuchung erforderlich (Fragebögen und Tests können Hinweise geben, sind aber nicht beweisend). Es müssen die frühe Geschichte sowie alle Lebensbereiche und die aktuelle Funktionsfähigkeit in sozialen und emotionalen Situationen erfragt werden.
Autismus-Spektrum-Störungen sind an sich keine Krankheit, sondern eine angeborene Andersartigkeit, eine spezifische Persönlichkeitsstruktur, die Krankheitswert bekommen kann durch Auffälligkeiten, die durch Blockierung der Entwicklung oder Überforderung entstehen.
Hier eine Tabelle, die die Unterschiede in der Informationsverarbeitung zwischen autistischen und neurotypischen Menschen vereinfacht darstellt:
| Merkmal | Autistische Menschen | Neurotypische Menschen |
|---|---|---|
| Informationsgewinn im Ruhezustand | 42% höher | Niedriger |
| Aufmerksamkeit | Fokussiert auf wenige Interessen, Tunnelblick | Flexibel, verteilt auf viele Aktivitäten |
| Sensorische Wahrnehmung | Erhöhte Sensibilität, Overloads möglich | Moderate Sensibilität |
In den letzten Jahren ist das Wissen im medizinischen, im therapeutischen und im pädagogischen Bereich gewachsen: Wir achten auf die Störung durch sensorische Reize, wir kennen die ausgeprägte Detailgenauigkeit (und die damit verbundene Langsamkeit) sowie die Erschwernisse in sozialen Situationen, in denen es rasch zu reagieren gilt. Wir wissen mehr über die Besonderheiten des Lernens, die Notwendigkeit des Rückzugs und die Chancen der Sonderinteressen.