In den letzten Jahren haben Forscher herausgefunden, dass Anorexia nervosa das Ergebnis einer Reihe komplexer Ursachen ist.
Multifaktorielle Ursachen der Anorexia Nervosa
Die Ursachen von Essstörungen sind vielfältig. Meist müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, um eine Essstörung auszulösen. Es gibt bei der Entwicklung eines problematischen Essverhaltens nicht nur den einen Grund. Es spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Dabei unterscheidet man zwischen Ursachen und Auslösern, welche letztlich zum Ausbruch der Erkrankung führen. Es gibt biologische, individuelle, familiäre und soziokulturelle Ursachen.
Genetische Faktoren
Aber auch die Gene eines Menschen haben einen erheblichen Einfluss. Menschen, die Familienmitglieder mit Anorexia nervosa oder anderen Essstörungen haben, entwickeln mit grösserer Wahrscheinlichkeit selbst Magersucht. Ein Familienmitglied ersten Grades mit der Störung zu haben, erhöht Ihr Risiko erheblich.
Experten wissen seit langem, dass Essstörungen auf eine Kombination von Erb- und Umweltfaktoren zurückzuführen sind. Bisher hatte sich aber niemand tief genug in diese Materie vertieft, um die spezifischen Gene zu lokalisieren. Die Ergebnisse von ANGI waren für Forscher und Patienten aufschlussreich und zeigen, dass die Ursachen von Magersucht eine Kombination aus metabolischen und psychiatrischen Komponenten umfassen. Insbesondere identifizierte ANGI acht genetische Varianten, die signifikant mit Anorexia nervosa assoziiert sind; die aktuelle Forschung zeigt, dass die Ursprünge sowohl physischer als auch psychischer Natur sind.
Frühere Untersuchungen ergaben, dass ein Verwandter 1. Grades von jemanden mit einer Essstörung bis zu 12-mal häufiger selbst eine solche entwickelt als ein Verwandter einer Person ohne Essstörung.
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In manchen Familien kommen Essstörungen gehäuft vor, was die Beteiligung der Gene vermuten lässt. So entwickeln Angehörige von Menschen mit Essstörungen häufiger ebenfalls eine Essstörung.
Umweltfaktoren
Umweltfaktoren, wie die Exposition gegenüber der herrschenden Ernährungs-/Diätkultur und gewichtsorientiertes Sozialverhalten, spielen eine Rolle.
Essstörungen kommen in der westlichen Welt deutlich häufiger vor als in anderen Kulturen. Besonders gefährdet sind Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportler oder Models. Massgebend ist ein Schönheitsideal in der Gesellschaft, das „superdünne“ Menschen favorisiert. Aber auch die (sozialen) Medien und die Werbung transportieren oft das Ideal vom Schlanksein. Dies übt Druck auf Menschen aus, wenn sie nicht dem gängigen Schönheitsideal genügen. Viele Jugendliche kämpfen mit ihren vermeintlich überflüssigen Pfunden.
Negative Erlebnisse in der Familie können zur Entstehung der Bulimie beitragen. Auch körperliche oder sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigung in der Familie, Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen der Eltern sind oft im Leben von Menschen mit Essstörungen zu finden. Und wenn in der Familie das Aussehen und Schlanksein einen sehr hohen Stellenwert besitzt oder ein hoher Leistungsanspruch herrscht, kann dies ebenfalls eine Essstörung fördern.
Psychologische Faktoren
Perfektionismus, Ängstlichkeit, Selbstwertprobleme, depressiven Verstimmungen, ebenso Schwierigkeiten in der Regulation von Gefühlen scheinen bei Essstörungen eine Rolle zu spielen. Ebenfalls kann eine negative Einstellung und Beurteilung der eigenen Figur und des Körpergewichts zu einer Essstörung führen.
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Die Ergebnisse von ANGI waren für Forscher und Patienten aufschlussreich und zeigen, dass die Ursachen von Magersucht eine Kombination aus metabolischen und psychiatrischen Komponenten umfassen. Insbesondere identifizierte ANGI acht genetische Varianten, die signifikant mit Anorexia nervosa assoziiert sind; die aktuelle Forschung zeigt, dass die Ursprünge sowohl physischer als auch psychischer Natur sind.
Forschungsergebnisse und Studien
Diesen Monat startet Cynthia Bulik, PhD, Gründungsdirektorin des Kompetenzzentrums für Essstörungen der Universität von North Carolina, die Forschungsstudie der Genetikinitiative für Essstörungen (EDGI). Bulik und ihr Team haben die Studie bereits in Neuseeland und Australien gestartet und führen sie nun in der USA durch. Ihr Ziel ist weltweit 100.000 Personen einzubeziehen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben an Anorexie, Bulimie oder einer anderen Essstörung erkrankt sind.
Die aktuelle Forschung basiert auf den Ergebnissen der Anorexia Nervosa Genetics Initiative (ANGI), der ersten internationalen Studie zur Identifizierung von Genen, die das Risiko für Anorexie erhöhen."ANGI wirft ein neues Licht auf die Ursachen von Anorexia nervosa und diese neuen Resultate haben uns dazu inspiriert, dieselben Strategien anzuwenden, um auch die genetischen Ursachen von Bulimie und anderen Essstörungen zu untersuchen", sagt Bulik.
Laut dem im Juli 2019 in Nature Genetics veröffentlichten Artikel von Bulik und ihre Kollegen hat ANGI zum ersten Mal gezeigt, dass es eine genetische Grundlage für Magersucht gibt, die sich mit Stoffwechselmerkmalen überschneidet, einschließlich der Art und Weise, wie der Körper Zucker und Fette verarbeitet, sowie anthropometrische Eigenschaften (Körpermessung), die nicht auf die genetischen Effekte zurückzuführen sind, die den Body Mass Index (BMI) beeinflussen. Das Ergebnis: Es spielt keine Rolle, welche Größe, Form oder welches Gewicht Sie haben - jeder mit diesen Stoffwechselmerkmalen kann anfällig für Magersucht sein.
ANGI fand auch heraus, dass sich die genetische Basis von Anorexia nervosa mit anderen psychiatrischen Störungen wie Zwangsstörungen, Depressionen, Angstzuständen und Schizophrenie überschneidet. Genetische Faktoren, die mit Anorexie verbunden sind, beeinflussen auch die körperliche Aktivität, was die Tendenz erklären könnte, dass Menschen mit Anorexia nervosa hoch aktiv sind (als zwanghafter ,Übertrainierer’ erkenne ich mich).
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ANGI kam zum Schluss, dass Magersucht eine „metabolisch-psychiatrische Störung“ sein kann und dass es wichtig sein wird, sowohl metabolische als auch psychologische Risikofaktoren zu berücksichtigen, wenn neue Wege zur Behandlung dieser potenziell tödlichen Krankheit erkundet werden.
Einteilung und Symptome von Essstörungen
Zu den bekanntesten Essstörungen gehören die sogenannte Anorexia nervosa, umgangssprachlich bekannt als Magersucht, als auch die Bulimia nervosa (Bulimie, Ess-Brechsucht). Auf der anderen Seite des Spektrums steht auch die Binge-Eating-Störung (Esssucht) oft im Fokus der psychosomatischen Medizin. Diese drei Diagnosen werden nachfolgend kurz beschrieben und die wichtigsten Symptome und Unterscheidungsmerkmale erläutert.
- Anorexia nervosa (Magersucht): Zu den wichtigsten Merkmalen der Magersucht gehört das absichtliche Herbeiführen und Aufrechterhalten von Gewichtsverlust. Dabei steht die Angst vor einem dicken, unförmigen Körper im Vordergrund, welche einerseits durch eine sehr eingeschränkte Aufnahme von Nahrung, erzwungenes Erbrechen und Abführen, als auch durch übertriebene körperliche Betätigung erreicht werden soll. Zu häufigen Symptomen zählt auch die Störung des Stoffwechsels, welche durch die Unterernährung entsteht.
 - Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht, Bulimie): Der Zentrale Mechanismus der Bulimie ist derselbe wie der der Magersucht, nämliche die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Körpergewicht und der Körperform. Im Gegensatz zur Magersucht haben Personen, die an Bulimie leiden aber möglicherweise ein Körpergewicht, das durchaus im Normbereich liegt. Neben selbst herbeigeführtem Erbrechen treten bei Bulimie nämlich auch häufig extremer Heisshunger und daraus folgende Essanfälle auf. Das häufige Erbrechen kann ebenfalls zu Störungen des Stoffwechsels, genauer des Elektrolythaushaltes führen.
 - Binge-Eating-Störung (Esssucht): Die zuvor erwähnten Essanfälle prägen die Symptomatik bei der Esssucht. Im Unterschied zu der Bulimie, wird die übermässige Nahrungsaufnahme durch diese unkontrollierten Attacken nicht durch Erbrechen, Abführen oder Sport ausgeglichen, sondern führt in der Regel zu Übergewicht der betroffenen Person.
 
Zahlen und Fakten
Im Jahre 2012 veröffentlichte das Schweizer Bundesamt für Gesundheit Zahlen zu der Verbreitung von Essstörungen. Diese zeigten auf, dass 3.5% der Schweizer Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an einer Form der vorher aufgeführten Essstörungen leiden. Dabei sind Frauen generell deutlich häufiger betroffen als Männer.
In der Schweiz erkranken rund 1,2 Prozent der Frauen und 0,2 Prozent der Männer an Anorexie, in Europa leiden etwa 1 Prozent aller Frauen und etwa 0,1 Prozent aller Männer zwischen 15 und 35 Jahren an Magersucht. Am häufigsten betroffen sind junge Frauen - die Erkrankung beginnt meistens im Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Sie kann aber auch Frauen zwischen 40 Jahren und der Menopause treffen.
Die Lebenszeitprävalenz für eine Essstörung in westlichen Ländern beträgt für Frauen 8.4% (3.3-18.6%) und 2.2% (0.8-6.5%) für Männer. Prävalenzzahlen variieren dabei nach Ländern und Kontinenten (USA führend mit 4.6%, gefolgt von Asien bei 3.5% und Europa bei 2.2%). Global leiden bis zu 4% Frauen und 0.3 % Männer im Laufe ihres Lebens an einer Anorexia nervosa und bis zu 3% Frauen und 1% Männer entwickeln eine Bulimia nervosa.
Die Zahlen zeigen damit Unterschiede mit Blick auf Geschlecht mit einer höheren Prävalenz für Mädchen und Frauen. Immer häufiger zeigen sich zudem die Symptome einer akuten typischen Anorexie bereits im Alter von 11 bis 12 Jahren. Mit der Covid-19 Pandemie und den damit einhergehenden Lockdown-Maßnahmen zeigte sich ein weiterer Anstieg der Prävalenzzahlen.
Hier eine Tabelle mit den wichtigsten Fakten:
| Aspekt | Daten/Fakten | 
|---|---|
| Prävalenz in der Schweiz | 3.5% der Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung | 
| Geschlechterverteilung in der Schweiz (Anorexie) | 1.2% der Frauen und 0.2% der Männer | 
| Europäische Prävalenz (Anorexie) | 1% der Frauen und 0.1% der Männer (15-35 Jahre) | 
| Lebenszeitprävalenz in westlichen Ländern (Frauen) | 8.4% (3.3-18.6%) | 
| Lebenszeitprävalenz in westlichen Ländern (Männer) | 2.2% (0.8-6.5%) | 
| Globale Prävalenz (Anorexie Frauen) | Bis zu 4% | 
| Globale Prävalenz (Anorexie Männer) | Bis zu 0.3% | 
| Globale Prävalenz (Bulimie Frauen) | Bis zu 3% | 
| Globale Prävalenz (Bulimie Männer) | Bis zu 1% | 
Ganzheitliche Betrachtung
Die Mechanismen rund um die Problematik der Essstörungen sind, wie die meisten im Bereich der psychosomatischen Krankheitsbilder, höchst komplex. Bei der Diagnosestellung und Betrachtung der Symptome einer Essstörung gilt es jeweils auch den Ansatz zu beachten, bei dem das Essverhalten Symptom einer tieferliegenden psychischen Problematik darstellt. So kann exzessives Essen oder krankhafter Verzicht die Funktion eines emotionalen Puffers oder Ventils haben. Daher ist es im Rahmen der Diagnostik von Essstörungen unabdingbar, sämtliche Aspekte einer Person wie zum Beispiel die Biografie, das soziale Umfeld, die Persönlichkeit und das Vorliegen anderer psychischer und physischer Krankheitsbilder zu betrachten.
Komorbiditäten
Wie bereits erwähnt, können psychische Krankheitsbilder eine wichtige Rolle spielen bei der Manifestierung von Essstörungen. Personen, die an Essstörungen leiden, haben oft einen eher niedrigen Selbstwert und ein gewisses Gefühl von Kontrollverlust. Dies sind auch die Charakteristiken, welche eine Depression auszeichnen und prägen. Der wahrgenommene Verlust der Kontrolle über das eigene Handeln und die eigenen Gefühle wird durch die Symptomatiken sämtlicher Essstörungen in der Regel verstärkt, so dass oftmals nicht klar bestimmt werden kann, ob die depressiven Gefühle eher als Ursache oder Folge des dysfunktionalen Essverhaltens zu betrachten sind. Dieser Teufelskreis illustriert die Komplexität rund um die Problematik von Essstörungen.
Wichtigkeit der Früherkennung
Da ein möglichst früher Beginn der Behandlung ausschlaggebend ist für die Prognose, spielt die Früherkennung für den Krankheitsverlauf und die Heilungschancen eine wichtige Rolle. Hierfür sollte im Rahmen von Vorsorgeuntersuchung bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 14 Jahren grundsätzlich eine Kontrolle des Gewichtverlaufes mit Bestimmung des Body Mass Index (BMI) erfolgen und gezielt und altersgemäss nach dem Essverhalten und der Einstellung zu Gewicht und Körper gefragt werden.