In der Kennenlernphase einer potenziellen Beziehung kann ambivalentes Verhalten des Gegenübers zu grosser Verunsicherung führen. Dieses Verhalten äussert sich oft in einem Wechselspiel aus Nähe und Distanz, Interesse und Desinteresse, was den Wunsch nach einer festen Bindung erschwert. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, beleuchten wir die möglichen Ursachen und geben Hinweise, wie man damit umgehen kann.
Formen der Nähe in Beziehungen
In einer Bindung geht es im Wesentlichen darum, Nähe zu einem anderen Menschen zu erleben. Niemand geht eine Beziehung ein, um Distanz zu erfahren, denn deshalb steht Nähe hierarchisch gesehen über der Distanz in einer Bindung. Es macht Sinn, verschiedene Formen der Nähe zu unterscheiden, weil bezüglich diesen Formen spezifische Bedürfnisse vorhanden sind. Man kann sich aus bestimmten Formen der Nähe zurückziehen, wenn es in einer anderen Näheform nicht (mehr) stimmt. Manchmal kann das Bedürfnis nach einer bestimmten Form von Nähe so unbefriedigt sein, dass Partner nicht mehr zusammen sein können.
- Sexualität: Für viele Paare eine Schlüsselnähe und oft eine exklusive Nähe, die nur in der Paarbeziehung erlebt wird.
 - Affektive Gesten: Physischer Kontakt wie Berührungen, Küsse, Umarmungen, Kuscheln etc.
 - Gesprächsnähe: Mitteilen von Erlebtem, Austausch über die Beziehung und die eigene Befindlichkeit.
 - Geistig-intellektuelle Nähe: Gemeinsame Werte, Bewertungen, Sichtweisen auf die Welt und ähnliche Hintergründe.
 - Gemeinsame Aktivitäten und Interessen: Spass und Freude an ähnlichen Unternehmungen.
 - Nähe durch gemeinsames Funktionieren: Praktisches Zusammenleben, Erziehungsarbeit (bei Kindern).
 - Gemeinsame Zukunftsperspektiven: Gemeinsame Planung und Vorstellungen für die Zukunft.
 
Wichtig ist, dass die Nähe als möglichst sicher und beständig erlebt wird.
Bindungsstile und ihre Auswirkungen
Im Menschen existiert ein angeborener Mechanismus, der das Bindungsverhalten steuert. Dabei gibt es verschiedene Ausprägungen: die sogenannten Bindungsstile. Die Ausprägung hängt unter anderem vom Beziehungsangebot zwischen Fürsorgepersonen und dem Kleinkind ab. Den Bindungsstil, den wir in der Kindheit entwickeln, behalten wir als "psychisches" Erbe im Erwachsenenalter bei, auch wenn es aufgrund von späteren Erfahrungen zu Bindungsstilveränderungen kommen kann. Wenn zwei Erwachsene sich kennenlernen und ein Paar bilden, dann "begegnen" sich auch immer zwei Bindungsstile.
Die Forschung hat gezeigt, dass es verschiedene Bindungsstile gibt:
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- Sicherer Bindungsstil: Personen mit diesem Stil fühlen sich in Beziehungen wohl und haben keine Angst vor Nähe oder Ablehnung.
 - Vermeidender Bindungsstil: Diese Personen haben Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen und bevorzugen Unabhängigkeit.
 - Ängstlicher Bindungsstil: Personen mit diesem Stil haben Angst vor Ablehnung und klammern sich oft an ihren Partner.
 
Laut Levine und Heller hat etwa die Hälfte der erwachsenen Personen einen sicheren Bindungsstil, ungefähr 25% sind vermeidend und etwa 20 % ängstlich.
Wer als Kind eher vermeidend war, kann das zugunsten eines sicheren Bindungsstils bis zu einem gewissen Grad wieder verändern. Was für den vermeidenden Stil gilt, gilt auch für den ängstlichen Bindungsstil. Auch er kann zugunsten eines sichereren Bindungsstils verändert werden, und zwar ist das für ursprünglich ängstliche Personen sogar in der Regel einfacher als bei ursprünglich vermeidenden Personen. Aber es kann sich auch zum Schlechteren entwickeln!
Ursachen für ambivalentes Verhalten
Ambivalentes Verhalten in der Kennenlernphase kann verschiedene Ursachen haben:
- Bindungsangst: Angst vor Nähe, Intimität und dem Verlust der eigenen Unabhängigkeit. Betroffene vermeiden feste Bindungen und bevorzugen unverbindliche Affären.
 - Verlustangst: Angst vor einer erneuten Enttäuschung oder einem schmerzhaften Beziehungsende. Diese Angst kann dazu führen, dass man sich emotional verschliesst oder Beziehungen sabotiert.
 - Unverarbeitete Vergangenheit: Schmerzhafte Erfahrungen in früheren Beziehungen oder in der Kindheit können das Bindungsverhalten beeinflussen.
 - Realitätsferne Erwartungen: Unrealistische Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft können dazu führen, dass man ständig auf der Suche nach dem "perfekten" Partner ist und sich nicht auf eine echte Beziehung einlassen kann.
 - Geringes Selbstwertgefühl: Das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, kann dazu führen, dass man sich in Beziehungen zurückhält oder Partner wählt, die die eigenen negativen Selbstbilder bestätigen.
 
Symptome von Bindungsangst
Menschen mit Bindungsangst zeigen oft folgende Verhaltensmuster:
- Maximale Unverbindlichkeit in Beziehungen
 - Oberflächliche Beziehungen
 - Viele Bekannte, kaum Freunde
 - Kaum lange Partnerschaften
 - Grosses Freiheitsbedürfnis
 - Kritiksucht
 - Streitlust
 - Vermeidung von gemeinsamem Wohnen
 - Keine Zärtlichkeiten vor anderen
 
Emotionen als Schlüssel zum Verständnis
Gemäss der Emotionsfokussierten Psychotherapie (EFT) organisieren Emotionen die affektive unmittelbare Reaktion und die Gefühle (körperlich empfundene Erlebenseineinheiten) in eine bedeutsame Gesamterfahrung. Die Emotion ist also eine Information an uns selber in Form einer Bedeutung. Die Bedeutung ist ein ganzes Informationspacket, das zusätzlich zum Gefühl und dem Affekt auch einen Auslöser umschliesst. Emotionen informieren uns somit, was gut für uns ist und was schlecht, was wir brauchen und was uns fehlt, ob wir bleiben sollen, näher heran gehen sollen oder weggehen möchten und Distanz schaffen wollen.
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Primäre Emotionen
Primäre Emotionen sind meist weiche Emotionen, sie können nur durch eine "reine" Innensicht, ohne dass äussere Umstände oder Personen berücksichtigt werden, wahrgenommen werden. Aufgrund dieser reinen Innensicht gehen sie immer mit einer Verletzlichkeit einher. Das gilt sowohl für positive wie auch für negative primäre Emotionen.
Primäre Emotionen signalisieren uns, was wirklich für uns wichtig ist im Moment, wie wir ein bestimmtes (Lebens-) Thema zurzeit wirklich empfinden. Es sind die authentischen Emotionen mit dem wirklich wichtigen Informationsgehalt. Primäre Emotionen wahrnehmen und gegebenenfalls auch ausdrücken zu können ist eine echte psychologische Ressource.
Leider gibt es primäre Emotionen, die früher einmal sinnvoll waren, weil es die einzigen möglichen waren, die wir haben konnten. Diese Emotionen fühlen sich auch sehr grundsätzlich und "tiefer" an, haben ebenso einen unmittelbaren Charakter, aber sie haben einen "alten" Geruch. Sie sind nicht mehr angepasst. Sie sind häufig schmerzhaft, führen zu keiner Erleichterung, zu keinen sinnvollen Handlungen mehr, versuchen "alte", nicht mehr aktuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Das Umfeld reagiert spontan nicht mit Mitgefühl.
Umgang mit ambivalentem Verhalten
Wenn Sie mit einem Partner konfrontiert sind, der ambivalentes Verhalten zeigt, ist es wichtig, die folgenden Punkte zu berücksichtigen:
- Selbstreflexion: Überprüfen Sie Ihre eigenen Beziehungsmuster und Bedürfnisse.
 - Kommunikation: Sprechen Sie offen und ehrlich über Ihre Gefühle und Erwartungen.
 - Grenzen setzen: Akzeptieren Sie nicht jedes Verhalten und ziehen Sie gegebenenfalls Konsequenzen.
 - Verantwortung: Übernehmen Sie Verantwortung für Ihre eigenen Gefühle und versuchen Sie nicht, den Partner zu ändern.
 - Professionelle Hilfe: Suchen Sie bei Bedarf eine Therapie oder Paarberatung auf.
 
Es ist zentral, dass auch Sie Verantwortung übernehmen - und zwar für sich. Vermutlich hat die Bindungsangst Ihres Partners nichts mit Ihnen direkt zu tun, sondern rührt aus der Vergangenheit, ob in der Kindheit oder aufgrund von schmerzhaften Verlusterfahrungen als Erwachsener. Sie können Mitgefühl mit Ihrem Partner haben, doch vor allen Dingen sollten Sie Mitgefühl mit sich selbst haben. Seien Sie konsequent und lassen Sie die Verantwortung für die Bindungsangst Ihres Partners bei ihm. Sie können das Problem nicht lösen und auch nicht mit Ihrer Liebe zu ihm verschwinden lassen.
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