ADHS und visuelle Wahrnehmung: Ein umfassender Überblick

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine häufige neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch Schwierigkeiten bei der Fokussierung, Impulsivität und Hyperaktivität auszeichnet. Betroffene mit ADHS haben oft Probleme, ihre Aufmerksamkeit auf Aufgaben zu richten, sind schnell abgelenkt und neigen dazu, impulsiv zu handeln. Sie haben auch Schwierigkeiten, ruhig zu bleiben und sich zu organisieren.

Der Zusammenhang zwischen ADHS und visuellen Problemen

Forscher haben herausgefunden, dass viele mit ADHS auch visuelle Probleme haben. Dies liegt daran, dass das Gehirn und die Augen eng zusammenarbeiten, um Informationen zu verarbeiten. Wenn das Gehirn durch ADHS beeinträchtigt ist, kann dies auch die visuelle Wahrnehmung beeinflussen.

Eine Studie der Universität von Kalifornien ergab, dass ADHS-Erkrankte häufig Probleme mit der visuellen Aufmerksamkeit und der Verarbeitung visueller Reize haben.

Häufige visuelle Probleme bei ADHS

  • Fokussierungsschwierigkeiten: Viele ADHS-Patienten haben Schwierigkeiten, ihre Augen auf ein bestimmtes Objekt zu fokussieren. Dies kann besonders beim Lesen oder bei Aufgaben, die präzises Sehen erfordern, problematisch sein. Die Augen können sich nicht lange auf ein Objekt konzentrieren, was dazu führt, dass sie ständig wandern und die visuelle Klarheit beeinträchtigen.
  • Visuelle Überempfindlichkeit: Manche sind empfindlicher gegenüber Licht und Bewegungen. Diese visuelle Überempfindlichkeit kann zu Überstimulation und Stress führen, insbesondere in Umgebungen mit grellem Licht oder vielen visuellen Reizen, wie in Einkaufszentren oder Klassenzimmern. Diese Überempfindlichkeit kann auch zu Kopfschmerzen, Augenbelastung und erhöhter Ablenkbarkeit führen, was das Leben im Alltag erheblich erschwert.
  • Probleme mit den Augenmuskeln: Probleme mit den Augenmuskeln sind bei ADHS-Patienten ebenfalls häufig. Dies kann dazu führen, dass die Augen nicht synchron arbeiten, was als "Konvergenzinsuffizienz" bezeichnet wird. Nicht zu verwechseln mit Schielen, bei dem die Augen aufgrund von Fehlstellung in verschiedene Richtungen blicken. Das erschwert das Lesen oder Arbeiten am Computer. Symptome können verschwommenes Sehen, Doppelbilder und Augenschmerzen sein.
  • Verarbeitungsgeschwindigkeit: ADHS kann auch die Fähigkeit beeinträchtigen, visuelle Informationen zu verarbeiten. Dies bedeutet, dass das Gehirn länger braucht, um das zu verstehen, was du siehst. Betroffene haben möglicherweise Schwierigkeiten, visuelle Muster zu erkennen oder räumliche Beziehungen zu verstehen, was die Orientierung und das Erkennen von Objekten erschwert.
  • Leseschwierigkeiten: Aufgrund der oben genannten Probleme können ADHS-Patienten Schwierigkeiten beim Lesen haben. Dies wird oft als "visuelle Dyslexie" oder auch Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) bezeichnet. Betroffene haben Schwierigkeiten, Wörter zu erkennen und zu verstehen, was das Lesen sehr anstrengend macht.

Diagnose von visuellen Problemen bei ADHS

Die Diagnose von ADHS erfolgt normalerweise durch eine Kombination aus Verhaltensbeobachtungen und psychologischen Tests. Zusätzlich können folgende Tests durchgeführt werden, um visuelle Probleme zu identifizieren:

  • Tests zur Augenbewegung: Diese Tests prüfen, wie gut deine Augen Objekte verfolgen können.
  • Tests zur Fokussierung: Hier wird überprüft, wie gut deine Augen in der Lage sind, sich auf verschiedene Entfernungen zu fokussieren.
  • Tests zur visuellen Verarbeitung: Diese Tests prüfen, wie gut und wie schnell dein Gehirn das, was du siehst, verarbeitet.

Regelmässige Augenuntersuchungen sind wichtig, um diese Probleme frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

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Anzeichen für visuelle Probleme bei ADHS

  • Schwierigkeiten beim Lesen oder längeren Sehen von Bildern.
  • Häufiges Blinzeln oder Reiben der Augen.
  • Abwenden von Bildschirmen.

Durch die Kombination aus regelmässigen Augenuntersuchungen und der Beobachtung von Verhaltensmustern können visuelle Probleme frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Behandlung von visuellen Problemen bei ADHS

Spezielle Brillen oder andere Sehhilfen können helfen, die visuellen Probleme von ADHS-Patienten zu lindern:

  • Prismengläser: Diese Gläser helfen, Augenmuskelprobleme zu korrigieren und die Augenkoordination zu verbessern.
  • Augentraining: Bestimmte Übungen können die Augenmuskeln stärken und die visuelle Verarbeitung verbessern.
    • Fokussierungsübungen: Diese Übungen helfen, die Fähigkeit der Augen zu verbessern, sich auf Objekte in verschiedenen Entfernungen zu konzentrieren.
    • Augenbewegungsübungen: Augentraining verbessert die Kontrolle über die Augenbewegungen und hilft, die Augenkoordination zu stärken.
    • Konvergenztraining: Das sind spezielle Übungen, die darauf abzielen, die Augen nach innen zu richten und gleichzeitig ein Objekt zu fixieren.
  • Weitere Massnahmen:
    • Bessere Beleuchtung: Sorge für eine gleichmässige und angenehme Beleuchtung, um Blendungen und visuelle Überempfindlichkeit zu reduzieren.
    • Weniger Bildschirmzeit: Reduziere die Zeit, die du vor Bildschirmen verbringst und mache regelmässige Pausen, um deine Augen zu entlasten.

Cerebral Visual Impairment (CVI)

CVI (Cerebral Visual Impairment) wird als Sammelbegriff für zerebral bedingte Beeinträchtigungen des visuellen Wahrnehmungsvermögens bei Kindern und Jugendlichen verwendet. Es existieren bisher noch keine verbindlichen Diagnosekriterien und keine medizinische Diagnose im Sinne der International Classification of Diseases (ICD).

Zerebral bedingte visuelle Wahrnehmungsstörungen haben ihre Ursache in morphologischen oder funktionellen Störungen des postchiasmatischen (zentralen) visuellen Systems. Zu den häufigsten Ursachen bei Kindern zählen Sauerstoffmangel des Gehirns, insbesondere im Rahmen von Frühgeburten oder Geburtskomplikationen, genetisch bedingte Entwicklungsstörungen des Gehirns (z.B. Lissenzephalie, kortikale Dysplasie), entzündliche (z.B. Meningitis, Enzephalitis) oder metabolische Erkrankungen (z.B. postnatale Hypoglykämie) und traumatische Schädigungen des Gehirns (4).

Epidemiologische Studien zeigen, dass bei etwa 30-35% der Kinder mit einer Sehbehinderung («low vision») eine zerebrale Ursache vorliegt (2,13); in spezialisierten Einrichtungen liegt der Anteil meist deutlich höher (~60%; 5).

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Visuelle Wahrnehmungsauffälligkeiten sind auch beim Down-Syndrom (Überblick, Raumwahrnehmung, soziale Wahrnehmung), beim Prader-Willi- Syndrom (soziale Wahrnehmung), beim Williams- Beuren-Syndrom (Überblick, Raumwahrnehmung), in Zusammenhang mit Symptomen aus dem autistischen Spektrum (Überblick, soziale Wahrnehmung; Entwicklungsprosopagnosie) und bei ADHS (Überblick) beschrieben worden (14).

Merkmale und Auffälligkeiten bei CVI

Das visuelle Profil von CVI kann alle visuellen Wahrnehmungsstörungen umfassen, wie sie nach erworbener Hirnschädigung bei Erwachsenen bekannt sind, wobei «rein» genetische Ursachen typischerweise mit einem kleineren Spektrum an visuellen Auffälligkeiten assoziiert sind (4).

Die Beeinträchtigung der «ganzheitlichen» visuellen Wahrnehmung (d.h. der vollständigen und raschen Erfassung der Umwelt bzw. von Vorlagen) ist ein häufiges und typisches Merkmal von CVI. Die Folge sind Schwierigkeiten in der Bewältigung von zeitkritischen Situationen und Aufgaben (z.B. rasches Erfassen von Bildern und Vorlagen, Verkehrs- und Spielsituationen).

Weitere häufige Auffälligkeiten betreffen die visuelle Raumwahrnehmung und räumliche Orientierung und - bei älteren Kindern - das (flüssige) Lesen auf der visuellen Ebene, weil die ganzheitliche Erfassung von Textmaterial (Wörter, Zahlen) nicht gelingt bzw. zu lange dauert (16).

Zusätzlich zur Beeinträchtigung des visuellen Wahrnehmungsvermögens sind bei Kindern mit CVI häufig (>60%) auch kognitive Komponenten betroffen, insbesondere Aufmerksamkeit, (visuelles) Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen, die für die Bildung von Erfahrungen und für den Erwerb von hilfreichen Anpassungsstrategien wesentlich sind.

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Untersuchung bei Verdacht auf CVI

Neben der ophthalmologischen und orthoptischen Untersuchung sind die systematische Anamnese zu Schwierigkeiten im Alltag und in der Schule mit Hilfe standardisierter Fragebögen (16, 3) und die systematische Verhaltensbeobachtung (8) und Bedingungsanalyse (unter welchen Bedingungen treten visuelle Schwierigkeiten auf und warum?) feste Bestandteile der Diagnostik.

Für die Erhebung des visuellen Profils sollten folgende Komponenten berücksichtigt werden:

  1. Überblick und visuelle Exploration (freies Absuchen einer Szene/Vorlage) bzw. visuelle Suche
  2. Form- bzw. Figurwahrnehmung (einschl. Figur- Grund-Unterscheidung und Crowding Phänomene)
  3. Farbwahrnehmung
  4. Raumwahrnehmung (einschliesslich räumlicher Orientierung)
  5. Objekt- und Gesichterwahrnehmung (visuelles Erkennen)
  6. Lesen (ab dem Lesealter)

Die Diagnose «CVI» kann vergeben werden, wenn eine objektiv nachweisbare Einschränkung des visuellen Wahrnehmungsvermögens vorliegt, die sich nicht ausreichend durch eine Funktionsstörung des peripheren visuellen Systems, einschliesslich der Okulomotorik, oder durch kognitive Auffälligkeiten erklären lässt (10,16).

Fördermöglichkeiten bei CVI

Das Management von Kindern und Jugendlichen mit CVI umfasst:

  1. Eine sachgerechte, auf den Einzelfall abgestimmte Diagnostik, die immer auch eine ökologisch valide Einordnung des positiven und negativen visuellen «Leistungsbildes» einschliesst.
  2. Eine aufeinander abgestimmte Organisation der multidisziplinären Zusammenarbeit.
  3. Interdisziplinär verständlich abgefasste (fachspezifische) Befundberichte.
  4. Den Einbezug aller Betreuungspersonen (9).

Die regelmässige Betreuung und Beratung sind zentrale Komponenten für die Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten und (damit auch) der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien.

Funktionales Sehen

Da peripher und zentral bedingte Störungen der visuellen Wahrnehmung auch in Kombination vorkommen können, ist die Einordnung des visuellen Profils in das Konzept des «funktionalen Sehens» ein hilfreicher Ansatz. Dabei werden die individuell vorhandenen visuellen Fähigkeiten/Fertigkeiten bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. räumliche Orientierung, Kommunikation, alltagspraktische und schulische Anforderungen) ohne (notwendigen) Bezug zur Ursache der Sehbehinderung in den Vordergrund gestellt.

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