Autismus einfach erklärt: Definition und Bedeutung

Menschen mit Autismus nehmen die Welt anders wahr als ihre Mitmenschen. Sie sehen, hören und fühlen die Welt anders. Der Begriff «Autismus» bedeutet «sehr auf sich bezogen sein» und kommt aus dem Griechischen.

Was ist Autismus?

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsbeeinträchtigung, die angeboren ist und lebenslang andauert. Es ist keine Krankheit, sondern eine angeborene Besonderheit, die in verschiedenen Formen auftreten kann. Die Ausprägungen können unterschiedlich sein, weshalb sich der Begriff «Autismus-Spektrum» in der Fachsprache etabliert hat. Es gibt nicht «den Autisten» oder «die Autistin». Jetzt heisst jetzt. Zumindest für Menschen mit Autismus. Für alle anderen kann «jetzt» auch «gleich» bedeuten oder: «ein wenig später».

Offiziell spricht man heute von der «Autismus-Spektrum-Störung» (ASS), da die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können. Autismus ist ein Spektrum, bei dem die Symptome der Betroffenen unterschiedlich ausgeprägt sind. Aus diesem Grund ist es schwierig, eine Vorhersage über den Verlauf zu machen. Jeder Mensch mit Autismus ist anders und hat andere Bedürfnisse und Fähigkeiten.

In den Diagnose-Handbüchern DSM-5 und ICD-11 werden mehrere Diagnosen zu Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Auch wenn zum Beispiel der Begriff Asperger-Syndrom im DSM-5 nicht mehr explizit erwähnt ist, wird er trotzdem noch häufig verwendet. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Fachleute in der Regel einig sind, wann eine Autismus-Diagnose gestellt wird.

Wie nehmen Menschen mit Autismus die Welt wahr?

Menschen aus dem Autismus-Spektrum sehen, hören und fühlen die Welt anders als ihre Mitmenschen. Aufgrund ihrer autistischen Wahrnehmung haben sie Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzufühlen und adäquat mit ihnen zu kommunizieren. Zudem können sie die Stimmung ihres Gegenübers aus dessen Gesicht schlecht erkennen und vermeiden deshalb oft Kontakte zu ihren Mitmenschen.

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Sie reagieren oft über- oder unterempfindlich auf sensorische Eindrücke. Über- oder Unterempfindlichkeiten auf Licht, Gerüche, Geräusche oder Berührungen sind häufig. Sie zeigen sich zum Beispiel als Faszination für Licht oder glänzende Oberflächen, als Angstreaktionen bei speziellen Geräuschen, als Vorliebe für intensive Körperkontakte oder als auffälliges Beriechen oder Ertasten von Oberflächen und Gegenständen.

Matthias Huber, Psychologe an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Poliklinik in Bern, spricht von autistisch wahrnehmenden und denkenden Menschen. Denn gemein ist allen: Sie nehmen die Welt anders wahr als ihre Mitmenschen. «Schon leise Geräusche können im Gehörgang wie Glasscherben schmerzen. Manche Gerüche sind derart unerträglich, dass man den Raum verlassen muss. Künstliche Beleuchtung fühlt sich manchmal an, als würde man ohne Sonnenbrille in die Sonne schauen. Einkaufen, zur Arbeit und ins Kino gehen oder mit dem Tram fahren - für autistisch wahrnehmende Menschen werden alltägliche Situationen zu riesigen Herausforderungen.

Es ist für sie eine Herausforderung, sich auf Neues einzustellen und oftmals besteht der Wunsch, Alltagsabläufe immer gleich zu gestalten (Rituale). Sie tendieren dazu, sich an Details zu orientieren und haben Mühe, eine Situation ganzheitlich zu erfassen.

Sprache und Begriffe lassen Raum für Interpretation, wie Matthias Huber erst lernen musste: «Wenn meine Eltern zu mir sagten ‹Du, wir gehen jetzt!›, bin ich aufgesprungen und habe meine Jacke angezogen. Dennoch hat Huber mit der Kommunikation Schwierigkeiten: «Wir Autisten nehmen alles sehr wörtlich. Ausserdem sind Mimik und Gestik für uns wahnsinnig schwer zu verstehen. Will das Gegenüber noch etwas sagen? Was ist ironisch und was ernst gemeint?

Autistische Menschen legen das Gesagte während eines Gesprächs permanent auf die Goldwaage, dadurch wirken sie oft abgelenkt, nach innen gerichtet, gar unfreundlich oder desinteressiert auf andere. Ein weiterer Punkt, den nicht autistische Menschen nur schwer nachvollziehen können: «Planänderungen und überraschende Ereignisse sind extrem unangenehm», weiss Huber. «Ist etwas abgemacht, ist das für einen Autisten in Stein gemeisselt.

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Ursachen von Autismus

Die Ursachen der Autismus-Spektrum-Störung sind bis heute nicht vollständig geklärt. Bei der Entstehung spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die Autismus-Spektrum-Störung auslösen. Laut «Neurologen und Psychiater im Netz» ist bei einem von der Autismus-Spektrum-Störung betroffenen Elternteil das Risiko, ebenfalls ein Kind mit Autismus zu bekommen, stark erhöht. Insgesamt geht man auch davon aus, dass die Gehirnentwicklung bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störung schon vorgeburtlich anders verläuft als bei gesunden Kindern.

Sicher ist: Autismus entsteht nicht durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte. Die genetischen Ursachen von Autismus sind äusserst vielfältig und hochkomplex. Zusammen mit Umwelteinflüssen kommt es zu vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten. Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt.

Diagnose von Autismus

Um bei Erwachsenen abzuklären, ob eine ASS vorliegt, erfolgt idealerweise eine breite Anamnese, Fremdanamnese sowie eine ausführliche Psychodiagnostik, damit Fehldiagnosen vermieden werden. Für die Diagnosestellung müssen bei Betroffenen bereits frühkindlich abweichende oder besondere Entwicklungen aufgetreten sein, wie etwa ein mangelnder Wunsch, mit Gleichaltrigen zu interagieren, verzögerte Sprachentwicklung, seltsame Satzmelodie, repetitive Verhaltensmuster, Bevorzugung von Routineabläufen, begrenzter Blickkontakt, motorische Unbeholfenheit. Idealerweise gibt es eine Bezugsperson, die über die Entwicklung der ersten drei bis vier Lebensjahre der zu beurteilenden Person berichten kann.

Therapie und Unterstützung

Autismus ist angeboren und kann nicht «geheilt» werden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum nicht unterstützt werden können. Unser Beitrag zur psychischen Gesundheit: Uns ist wichtig, dass es Ihnen gut geht. Menschen mit Autismus profitieren von einer breiten Palette von unterstützenden Interventionen und Therapien. Diese können Verhaltenstherapie, Sprachtherapie, Ergotherapie und andere individuell angepasste Ansätze umfassen.

Matthias Huber hat sich im Laufe der Jahre zum Spezialisten seiner eignen Entwicklungsstörung gemacht. Heute ist er Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD in Bern und unterstützt Kinder und Jugendliche mit Autismus.

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«Der TEACCH-Ansatz (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children) ist eine gute Methode, um die Umwelt verstehbarer und vorhersehbarer zu machen», sagt Huber. Dabei handelt es sich um ein international anerkanntes Konzept zur pädagogischen Förderung von Menschen mit Autismus und ähnlichen Kommunikationsbehinderungen.

Stärken von Menschen mit Autismus

Oft ist bloss die Rede von den Problemen, mit denen Menschen mit Autismus im Alltag zu kämpfen haben. Doch Autisten haben auch Stärken und sind anderen in vielen Dingen überlegen: So sind Betroffene oft ehrlich und direkt, nehmen Details sehr präzise wahr und interessieren sich für sie. Laut dem Verein «autismus deutsche schweiz ads» sehen sie Dinge und Situationen zunächst in Einzelmerkmalen, bevor sie diese als Ganzes erfassen. Der Vorteil? Sie finden sehr schnell Fehler und können Arbeiten genau und perfektionistisch ausführen.

Autisten können sich lange mit etwas beschäftigen, ohne dass ihnen langweilig wird. Besonders ausgeprägt ist das Interesse für Spezialgebiete. Man kennt es aus Filmen: Autisten lernen auswendig. Etwa alle Telefonkabinennummern eines Landes, alle Namen von Haltestellen oder ganze Fahrpläne. «So ein Spezialgebiet gibt Vertrautheit. Autisten erlangen so ein Stück Kontrolle über ihre Umwelt, sie fühlen sich weniger ausgeliefert», weiss Huber aus eigener Erfahrung. Er selber vertiefte sich unter anderem schon in die Welt der Dinosaurier, in Weltkarten und Rohstoffverteilung, interessierte sich für Temperaturkurven und las stundenlang in Lexika die Bedeutung von Wörtern nach. Auch Rauchmelder in Räumen, Astrophysik und Körpergrössen faszinieren ihn.

Lange hat man versucht, durch Therapien diese Fixierungen bei autistischen Kindern zu unterdrücken. Früher hiess es: «Du darfst nicht immer nur über das Gleiche reden!» Heute werde das Spezialinteresse positiv gedeutet und versucht mit dessen Hilfe das Interesse für die Welt weiter auszubauen. Bereichernd sei auch, dass eine Erkenntnis wachse: «Jeder kommt mit seiner eigenen Wahrnehmung auf die Welt. Aber man kann auch anders über Dinge denken, anders fühlen.» Dementsprechend werden bisherige Rahmenbedingungen hinterfragt. Huber erklärt: «Man fragt sich: Was braucht es, damit sich alle wohler fühlen?» So gebe es etwa vermehrt Angebote wie Kinovorstellungen für Autisten.

Häufigkeit von Autismus

Es gibt nach wie vor wenige Daten zur Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass ca. 1 % der Bevölkerung eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum hat, im Ausland schwanken die Zahlen zwischen 1 und 3 Prozent. Knaben oder Männer werden häufiger diagnostiziert als Frauen und Mädchen. Bei Mädchen kann eine autistische Symptomatik schnell übersehen werden, da Mädchen Schwierigkeiten im sozialen Bereich auf den ersten Blick besser kompensieren können und so häufig weniger auffallen.

Tabelle: Typische Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen

AspektMännliche BetroffeneWeibliche Betroffene
SymptomeAuffälliger, stärker ausgeprägtWeniger stark ausgeprägt, versteckter
VerhaltenStören des Unterrichts, aggressives VerhaltenPassiv, zurückgezogen
SchwierigkeitenWeniger gut im Verstecken von SchwierigkeitenBesser im Verstecken von Schwierigkeiten, Nachahmung von Verhalten
Soziale VeranlagungWeniger sozial veranlagtEher sozial veranlagt, oft eine beste Freundin
SpezialinteressenInteresse an ungewöhnlichen Themen (z.B. Strommasten)Interesse an alterstypischen Themen (z.B. Tiere, Bücher)

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