Nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) ist ein Thema, das viele Jugendliche betrifft. Viele probieren es einmal aus, aber einige verletzen sich regelmäßig über Wochen, Monate oder Jahre hinweg selbst. Die häufigste Absicht dabei ist die Reduktion von unangenehmen Emotionen.
Was ist selbstverletzendes Verhalten?
Von selbstverletzendem Verhalten spricht man, wenn sich jemand absichtlich körperliche Schmerzen zufügt, ohne den Wunsch zu haben, damit das eigene Leben zu beenden. Häufigste Form ist das Ritzen. Aber auch Kratzen, Kneifen, Beissen, Stechen, Verbrennen, Selbstschlagen und die Störung der Wundheilung können zu den selbstverletzenden Verhaltensweisen gezählt werden.
Ursachen und Risikofaktoren
Selbstverletzungen kommen häufig bei Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen vor. Selbstverletzendes Verhalten kommt vor allem bei Jugendlichen vor. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen. Da viele Betroffene ihr Verhalten verheimlichen, gibt es nur Schätzungen über die Häufigkeit. Man geht davon aus, dass etwa 13-23 Prozent der Jugendlichen sich selbst verletzen. Bei Erwachsenen ist das Verhalten viel seltener.
Psychische Beeinträchtigungen oder Erkrankungen sowie belastende Kindheitsereignisse (Trennung der Eltern, sexuelle Übergriffe, Vernachlässigung, Gewalt oder psychische Probleme eines Elternteils) gelten dabei als Risikofaktoren.
Funktion von Selbstverletzungen
Selbstverletzungen dienen meistens dem Spannungsabbau. Viele Betroffene verletzen sich selber, damit sie ihre unerträglichen inneren Anspannungen abbauen können und allenfalls damit verbundene belastende Erinnerungen oder Gefühle nicht spüren müssen. Auch Selbstbestrafung wird als Motiv genannt. Nach einer Selbstverletzung fühlen sich viele Betroffene weniger angespannt. Die zunächst positiven Gefühle werden aber rasch von Schuld- und Schamgefühlen abgelöst.
Lesen Sie auch: Ursachen selbstverletzenden Verhaltens bei ADHS
Selbstverletzendes Verhalten dient in den meisten Fällen der Verringerung negativer Gedanken und Gefühle (Emotionsregulation).
Diagnostik
In der Abklärung wollen wir zuerst herausfinden, wann es zu solchem Verhalten kommt und welche Funktion dieses Verhalten hat. Anschliessend überlegen wir gemeinsam, was für andere Verhaltensweisen in Frage kommen, die weniger schädlich und darum langfristig sinnvoller sind, um deine Ziele zu erreichen.
Aus der Forschung wissen wir, dass Selbstverletzendes Verhalten, auch Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten, kurz NSSV genannt, etwa anfangs der Adoleszenz beginnt. NSSV wird von verschiedenen Faktoren aufrechterhalten. In der Abklärungsphase setzen wir uns damit auseinander: Dabei geht es um familiäre und ausserfamiliäre Einflussfaktoren und um die Auswirkungen auf das soziale oder familiäre Umfeld.
Die Leitlinien zur Diagnostik beschreiben die Exploration des Patienten, der Symptomatik und störungsrelevanter Faktoren. Zudem werden Hinweise zur körperlichen Untersuchung, zur Differenzialdiagnostik sowie zur Verlaufskontrolle und Qualitätssicherung gegeben.
Therapie und Behandlung
In der Therapie kümmern wir uns um die Erarbeitung alternativer, langfristig effizienterer Verhaltensstrategien.
Lesen Sie auch: Leitfaden: Nymphensittich Verhalten und Haltung
Auf Basis der aktuellen Therapieforschung erläutern die Leitlinien zur Therapie das konkrete Vorgehen beim Erstkontakt und bei der Akutbehandlung, Möglichkeiten der Weiterversorgung sowie das psychotherapeutische und pharmakologische Vorgehen. Des Weiteren wird auf das Therapiesetting, die Elternarbeit und die Zusammenarbeit mit Schule, Jugendhilfe und Sozialarbeit eingegangen.
Ziel des Leitfadens ist es, aktuelle Ergebnisse zur Symptomatik, Diagnostik, Therapie und Prävention zu vermitteln. Kernstück des Leitfadens sind die Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Nichtsuizidalem Selbstverletzendem Verhalten.
Skillsgruppe zur Emotionsregulation
Ausgehend davon, dass selbstverletzendes Verhalten als dysfunktionaler (also ungünstiger) Problemlöseversuch zur Emotionsregulation verstanden wird, geht es in der Skillsgruppe um den Aufbau von funktionalen (also günstigen) Problemlösestrategien zur Emotionsregulation, d.h.:
- Achtsamkeit: In diesem Modul lernen die Jugendlichen die Fertigkeiten Wahrnehmen, Beschreiben, Teilnehmen sowie ein nicht bewertendes, konzentriertes und wirkungsvolles Denken und Handeln.
 - Umgang mit Gefühlen: In diesem Modul wird vermittelt, dass Gefühle eine Funktion und eine Bedeutung haben.
 - Stresstoleranz: In diesem Modul lernen die Jugendlichen, Krisen auszuhalten und Spannung zu reduzieren durch Techniken wie beispielsweise: sich durch starke sensorische Reize ablenken (z.B.
 
Voraussetzung für die Teilnahme an der Skillsgruppe ist eine Einzelpsychotherapie, entweder in einem Ambulatorium der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie oder bei einer niedergelassenen Psychiaterin oder Psychotherapeutin respektive einem niedergelassenen Psychiater oder Psychotherapeuten.
Wichtiger Hinweis: Selbstverletzung und Suizidalität
Selbstverletzendes Verhalten ist kein typisches Warnzeichen für Suizidalität. Menschen, die sich selbst verletzen, wollen durch die Verletzung nicht ihr Leben beenden. Die Selbstverletzung dient meist dem Abbau von hohen inneren Anspannungen. Selbstverletzendes Verhalten ist aber meist verbunden mit schweren Problemen und Belastungen, sodass früher oder später auch Suizidalität ein Thema werden könnte.
Lesen Sie auch: Zebrastreifen: Fussgänger und Fahrzeugführer
Unterstützung für Betroffene und Angehörige
Geeignete Ansprechpersonen sind die lokalen Jugendberatungsstellen, Kinder- und Jugendpsychologen/-innen oder Hausärzte und Hausärztinnen. In einer akuten Krise hilft auch das Team des Beratungstelefons 147 von Pro Juventute.
Ein Buchtipp für Eltern und Bezugspersonen
Selbstverletzendes Verhalten ist für Eltern und andere Erwachsene, die als Pädagogen, Betreuer oder in der Fürsorge tätig sind, erschreckend und schwer zu verstehen, weil es gegen jeden Instinkt von Selbstschutz und Überlebenswillen zu verstossen scheint. Die erfahrene Pädagogin und Autorin Michelle Mitchell hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit und Unterstützung von Kindern, Eltern und anderen Bezugspersonen bei der Bewältigung dieser für Aussenstehende verstörenden Verhaltensweise.
In diesem Buch kombiniert sie ihre Erfahrungen mit den neuesten Forschungsergebnissen und präsentiert Interviews mit Experten und betroffenen Familien, um Erkenntnisse zu gewinnen, wie man Selbstverletzungen verstehen, darauf reagieren und sie bestenfalls verhindern kann.
„Wenn Ihr Kind mit selbstverletzendem Verhalten kämpft, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie der größte Gewinn für Ihr Kind sind - Was Sie tun und wie Sie damit umgehen. Dieses Buch ist für Sie und für Ihre Familie.“- Michelle Mitchell
In ihrem Buch verbindet sie ihre eigene Expertise mit Erkenntnissen aus neuesten Forschungen sowie Gesprächen mit Experten, Betroffenen und deren Familien. Ihre wertvollen Einsichten helfen, selbstverletzendes Verhalten zu verstehen, ihm vorzubeugen und richtig darauf zu reagieren. In einem Extra-Kapitel geht sie auf das Phänomen der digitalen Selbstverletzung ein, die durch immer intensivere Nutzung sozialer Medien unter Jugendlichen um sich greift. Beantwortet werden u. a. Wie sorge ich für die Sicherheit meines Kindes?
tags: #selbstverletzendes #verhalten #ratgeber