Anerkennung von Schwerbehinderung bei Posttraumatischer Belastungsstörung

Der folgende Artikel behandelt die Anerkennung von Schwerbehinderung im Zusammenhang mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und stützt sich dabei auf einen Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 23.

Rechtliche Grundlagen

Die rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung der Invalidität und den Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (IV) bilden:

  • Art. 28 IVG (Bundesgesetz über die Invalidenversicherung)
  • Art. 72bis IVV (Verordnung über die Invalidenversicherung)
  • Art. 16 ATSG (Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts)

Der Fall A.a

A.a meldete sich erstmals 2001 zum Bezug von IV-Leistungen an. Im Auftrag der IV-Stelle wurde 2005 ein polydisziplinäres Gutachten erstellt, das ein chronisches lumbovertebrales Schmerzsyndrom ohne radikuläre Symptomatik (ICD-10 M54.5) diagnostizierte. Die Arbeitsfähigkeit des Versicherten in einer adaptierten Tätigkeit wurde auf 100 % geschätzt. Die IV-Stelle wies das Rentengesuch ab, und der Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Am 5. März 2007 ersuchte der Versicherte aufgrund einer Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands um erneute Prüfung der Rentenfrage. Der behandelnde Arzt diagnostizierte eine mittelgradige depressive Störung, eine HWS-Distorsion, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie einen Status nach Diskushernie-Operation L5/S1 und attestierte eine mindestens 75 %ige Arbeitsunfähigkeit.

Im Auftrag der IV-Stelle wurde ein polydisziplinäres Verlaufsgutachten erstellt, das eine leichte depressive Episode, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, ein chronisches lumbovertebrales Schmerzsyndrom sowie ein chronisches zervikozephales und links-zervikobrachiales Schmerzsyndrom diagnostizierte. Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit für körperlich leicht bis mittelschwer belastende berufliche Tätigkeiten wurde auf 80 % geschätzt.

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Weitere Gutachten und Berichte

In einem Verlaufsbericht führten die behandelnden Ärzte aus, dass sich der Gesundheitszustand des Versicherten seit dem 22. August 2008 verschlechtert habe. Die Arbeitsfähigkeit werde nach Stabilisierung des depressiven Zustandbildes auf 15 % vermutet. Ein weiterer Bericht führte aus, eine zumutbare Tätigkeit in leidensadaptiertem Rahmen sei unrealistisch, da der Patient bereits im therapeutischen Setting maximal 20 bis 30 Minuten habe teilnehmen können.

Ein Spezialarzt FMH für Chirurgie attestierte aus somatischer Sicht in einer der Behinderung angepassten Tätigkeit eine 50 %ige Arbeitsfähigkeit. Der Versicherte arbeite seit Mai 2007 in einer geschützten Werkstatt, zeitlich gesehen 50 % mit einer Leistung von 15 %.

Die IV-Stelle führte eine weitere Begutachtung durch die ABI GmbH durch, gegen die der Versicherte Einwand erhob. Ein Verlaufsbericht führte aus, dass es dem Versicherten zumutbar wäre, in einem geschützten Rahmen eine Tätigkeit im Umfang von 25 % auszuüben. Es bestünde aus rein psychiatrischer Sicht eine mindestens 75 %ige Arbeitsunfähigkeit.

Ein weiteres polydisziplinäres Verlaufsgutachten diagnostizierte ein chronisches lumbovertebrales Schmerzsyndrom, ein chronisches zervikozephales und beidseitiges zervikobrachiales Schmerzsyndrom, eine rezidivierende depressive Störung sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und attestierte eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit für leichte bis mittelschwere, adaptierte Tätigkeiten von 80 %.

Einwände und Beschwerden

Der Versicherte erhob Einwand gegen den Vorbescheid und machte geltend, dass anlässlich der Begutachtung kein Neurologe beigezogen worden sei, obwohl er an neurologischen Ausfällen leide. Er reichte diverse ärztliche Berichte ein, die von den Begutachtungsergebnissen abweichen würden. Die IV-Stelle wies das Rentengesuch ab.

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Gegen die Verfügung richtete sich eine Beschwerde, in der die Aufhebung der Verfügung und die Zusprache einer ganzen Invalidenrente beantragt wurden. Es wurde ausgeführt, dass die abweichenden medizinischen Berichte ebenso wie die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes ignoriert worden seien. Die Gutachten der ABI GmbH seien nicht als neutrale Berichte zu werten.

Die IV-Stelle beantragte die Abweisung der Beschwerde und führte aus, dass Dr. B.___s Diagnosen in keiner Weise nachvollzogen werden konnten. Weder lägen Hinweise für eine posttraumatische Belastungsstörung noch für eine Persönlichkeitsstörung vor. Den Berichten und Einschätzungen von Dr. B.___ könne kein grosser Wert beigemessen werden. Es liege keine Invalidität im Rechtssinne vor, weshalb ein Rentenanspruch zu verneinen sei. Auch aus somatischer Sicht bestehe keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.

Der Fall A.

A.___ meldete sich im September 2008 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung (IV) an und beantragte die Kostenübernahme für eine Umschulung zur B.___. Zu jenem Zeitpunkt war sie als Z.___ bei C.___ in einem Vollzeitpensum tätig, wobei sie seit Dezember 2006 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Zz.___ eingesetzt werden konnte.

Dr. med. D.___, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Hausarzt der Versicherten, diagnostizierte eine chronische Psychose mit einem Status nach mehreren schweren bis mittelgradigen depressiven Episoden (Persönlichkeitsstörung und Status nach mehreren Suizidversuchen) sowie ein chronifiziertes Nacken-, Schulter- und Armsyndrom links.

Die IV-Stelle hiess die Umschulung zur B.___ gut, musste jedoch aufgrund der durch den Arbeitgeber in Aussicht gestellten Kündigung abgebrochen werden.

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Med. pract. F.___ und Dr. med. G.___, Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie, diagnostizierten eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F32.11), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) sowie eine Zyklothymia (ICD-10 F34.0) mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit. Bis auf Weiteres sei die Versicherte in angestammter und adaptierter Tätigkeit zu 100 % arbeitsunfähig. Im Verlaufsbericht vom 16. November 2009 hielten die Ärztinnen als geänderte Diagnose eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) fest.

Nach einem Suizidversuch wurde die Versicherte in der Psychiatrischen Klinik I.___ behandelt. Dabei wurden eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode (ICD-10 F33.2), teilremittiert, eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (ICD-10 F60.31) sowie ein Depersonali­sations-/Derealisationssyndrom (ICD-10 F48.1) diagnostiziert.

Vom 5. September 2011 bis 30. März 2012 liess sich die Versicherte in der Psychiatrischen Tagesklinik J.___ behandeln. Dabei wurden eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, mit somatischem Syndrom (ICD-10 F33.11), eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61.0) sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) diagnostiziert.

Eine durchgeführte BEFAS ergab, dass die Versicherte ausbildungsfähig sei. Aufgrund der Schwangerschaft mit Geburt im ___ 2012 sei aktuell von einer Ausbildung als auch von einer Arbeitsvermittlung abzusehen.

Am ___ 2012 gebar die Versicherte einen Sohn. Am 25. Juni 2013 fand sodann eine Haushaltsabklärung bei der Versicherten statt. Anlässlich dieser Abklärung gab die Versicherte an, aus Rücksicht auf ihren Sohn würde sie mit einem Pensum von 50 % arbeiten, mit sukzessiver Steigerung ab Kindergartenalter.

Die IV-Stelle wies das Leistungsbegehren um berufliche Massnahmen ab, da die Versicherte aufgrund der Geburt ihres Sohnes eine Arbeitsstelle in einem 50 %-Pensum suche. Eine Umschulung sei nicht angezeigt.

Mit Vorbescheid vom 19. Juni 2014 stellte die IV-Stelle sodann in Aussicht, das Rentenbegehren abzuweisen. Sie qualifizierte die Versicherte als zu 50 % im Erwerb und zu 50 % im Haushalt tätig und errechnete einen IV-Grad von 0 % im Erwerb und einen von 1.2 % im Haushalt.

Dagegen erhob die Versicherte mit Hilfe der Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell Einwand. Sie brachte vor, ihr Lebenspartner habe im Mai 2014 die Partnerschaft aufgelöst und sei aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Die wirtschaftliche Situation habe sich verschlechtert, da die Versicherte nun selber für den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind aufkommen müsse. Unter diesen Umständen müsste die Versicherte ohne gesundheitliche Einschränkung in einem 100 %-Pensum arbeiten.

Am 18. November 2014 verfügte die IV-Stelle wie angekündigt die Abweisung des Rentengesuchs. Sie wies darauf hin, dass sie ihre Restarbeitsfähigkeit aktuell nicht verwerte und demnach nicht davon ausgegangen werden könne, sie würde als Gesunde vollzeitlich arbeiten.

Am 21. April 2015 reichte die Versicherte bei der IV-Stelle erneut ein Anmelde­formular zum Leistungsbezug ein.

Nach weiterführenden Abklärungen bezüglich des Gesundheitszustands informierte die IV-Stelle die Versicherte mit Mitteilung vom 26. Februar 2016, dass das Leistungsbegehren um berufliche Massnahmen abgewiesen werde, da sie sich gegen ein geplantes Aufbautraining entschieden habe, um sich ganz ihrem Sohn widmen zu können.

Im Bericht vom 23. November 2015 führte Dr. med. M.___, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, aus, elektroneurografisch ergäben sich Hinweise auf eine Schädigung der motorischen und sensiblen Anteile des N. medianus, ohne dass messtechnisch eine Läsion im Karpaltunnel oder im proximalen Bereich des Nervus bestünde.

Im Auftrag der IV-Stelle erstattete med. pract. F.___ am 23. Mai 2016 einen Arztbericht.

Dem Austrittsbericht vom 29. September 2016 ist zu entnehmen, dass die Versicherte vom 25. Juli bis 21. September 2016 in der Psychiatrischen Klinik I.___ hospitalisiert war.

Am 8. Februar 2017 attestierte med. pract.

Vom 4. April bis 1. Juni 2017 wurde die Versicherte in der N.___, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, behandelt.

Infolge eines Suizidversuchs war die Versicherte vom 13. Juli bis 15. September 2017 in der Psychiatrie Q.___ hospitalisiert.

Aufgrund ihres Gesundheitszustandes liess sich die Versicherte sodann vom 28. November 2017 bis 25. April 2018 in der Psychiatrischen Tagesklinik J.___ behandeln. Dabei wurde eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % ab dem 10. Juli 2017 attestiert.

Dr. med. S.___, Oberarzt der Tagesklinik, führte im Verlaufsbericht vom 31. Mai 2018 aus, die Versicherte leide an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit dependenten und emotional instabilen Persönlichkeitszügen (ICD-10 F61.0), einer rezidivierenden depressiven Störung und einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Im Rahmen der depressiven Einbrüche sei die Versicherte teilweise mehrere Tage am Stück nicht in der Lage, die Tagesklinik aufzusuchen bzw. am Therapieprogramm teilzunehmen. Weiterhin bestünden starke Gefühle der Hilflosigkeit, indem sie nicht in der Lage sei, Entscheidungen zu treffen, eigene Ansichten adäquat zu benennen oder Bedürfnisse zu artikulieren. Entlastend sei für die Versicherte, dass sich ihr Sohn zurzeit in Kinderpsychiatrischer Behandlung befinde, da sie oft mit seinem Widerstand überfordert gewesen sei. Die Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit betrage wegen weiterhin bestehender starker Instabilität 100 %.

Am 7. Januar 2019 fand eine Haushaltsabklärung bei der Versicherten statt. Sie gab an, aufgrund ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Situation müsste sie bei guter Gesundheit zumindest einer Teilerwerbstätigkeit nachgehen. Bedingt durch ihre Erkrankung und die vielen Klinikaufenthalte habe sich eine starke Bindung zwischen ihr und ihrem Sohn entwickelt. Ihre Abwesenheiten hätten beim Sohn jeweils Ängste und Verun­sicherungen ausgelöst. Mit Blick auf eine bescheidene wirtschaftliche Eigenständigkeit müsse sie, gemessen an ihrem früheren Einkommen, in einem 60 %-Pensum arbeiten.

Im Verlaufsbericht vom 14. März 2019 hielt die behandelnde Ärztin, med. pract. F.___, fest, dass angesichts der Schwere der chronifizierten komorbiden psychischen Erkrankung mit keiner deutlichen Besserung zu rechnen sei. Ziel der Behandlung sei die Aufrechterhaltung der erreichten Stabilität. Die Versicherte sei in einer angepassten Tätigkeit ohne körperlichen Belastung, mit Möglichkeit sich zurückziehen zu können und ohne Schicht- und Nachtarbeit, in einer ruhigen stressfreien Umgebung zu maximal 30 % arbeitsfähig.

Dem Arztbericht vom 23. April 2019 ist sodann zu entnehmen, dass sich der Zustand der Versicherten seit März 2019 verschlechtert habe. Teilweise sei dies auf die Arbeit bei der T.___ zurückzuführen. Die Versicherte habe sich mit der Arbeit überfordert gefühlt. Ihre Rückenschmerzen hätten zugenommen. Da sich die Versicherte mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert fühle, bekomme sie viel Unterstützung durch ihre Eltern. Deswegen habe sie Schuldgefühle und fühle sich als Mutter untauglich.

Nach Einholung einer Stellungnahme des RAD-Arztes stellte die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 29. April 2020 bei einer Qualifikation der Versicherten als zu 60 % im Erwerb und zu 40 % im Haushalt Tätige die Abweisung des Gesuchs um Rentenleistungen in Aussicht.

Gegen diese Verfügung lässt die Versicherte (nachfolgend: Beschwerdeführerin) durch ihren Rechtsvertreter der Procap am 5. November 2020 Beschwerde erheben. Die Beschwerdeführerin beantragt unter Kosten- und Entschädigungsfolge die Aufhebung der Verfügung vom 5. Oktober 2020, die Zusprache einer halben Invalidenrente und die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.

Mit Beschwerdeantwort vom 30. Dezember 2020 beantragt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der Beschwerde.

Mit Replik vom 5. Februar 2021 lässt die Beschwerdeführerin unverändert an den Anträgen festhalten.

Anwendbare Rechtsnormen

Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestands Geltung haben, und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 5. Oktober 2020) eingetretenen Sachverhalt abstellt, sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2021 gültig gewesenen materiellen Bestimmungen anwendbar.

Anspruch auf eine Rente haben gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG versic...

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